# taz.de -- Chronik des Sowjetfußballs: Fröhlich wie ein Kind | |
> Der Komponist Dmitri Schostakowitsch war ein leidenschaftlicher Fan. Er | |
> schrieb eine Chronik über die Frühzeit des sowjetischen Fußballs. | |
Bild: Thront als Schautafel über den Fans von Zenit St. Petersburg: Dmitri Sch… | |
Das konnte Dmitri Schostakowitsch nicht auf sich sitzen lassen. Auf der | |
Tribüne des Petrowski-Stadions, wo sein Lieblingsklub Zenit Leningrad die | |
Heimspiele austrug, wollte ihm ein anderer Besucher partout nicht glauben, | |
dass er sich ob eines zurückliegenden Spielergebnisses irrte. Der Komponist | |
regte sich auf, und am Ende des Streits holte er aus seiner Aktentasche, | |
die er stets bei sich trug, ein großes Notizbuch. Darin blätterte er und | |
präsentierte stolz das Ergebnis: So, wie er es gesagt hatte, war das Spiel | |
damals ausgegangen. | |
In diesem Buch stand alles: Spiele, Ergebnisse, Torschützen, Aufstellungen, | |
Tabellen. Der Komponist hatte darin akribisch alle Informationen, die er | |
über den sowjetischen Fußball erhalten konnte, notiert. Das ist wertvolles | |
historisches Wissen, denn in den dreißiger Jahren wurden in der auf | |
Kollektivität setzenden sowjetischen Sportstatistik die Namen von | |
Torschützen nicht dokumentiert. „Die einzig wahre Fußballstatistik“, nennt | |
die Schriftstellerin Katja Petrowskaja daher diese Kladde. Sie hat sich | |
intensiv mit dem Thema beschäftigt. | |
Schostakowitschs Fußballleidenschaft war kein privater Spleen. „Diese | |
statistische Vorliebe war mehr als ein Hobby“, sagt der Historiker Dmitrij | |
Belkin, „er lebte das tatsächlich.“ Schostakowitsch war auch gerne bereit, | |
seine Daten zur Verfügung zu stellen. Petrowskaja berichtet über selbst | |
verfasste Fußballreportagen, meist im Freundeskreis vorgelesen oder als | |
Briefe verschickt. Einige wurden aber auch von Zeitungen gedruckt, unter | |
anderem von der populären Krasny Sport. | |
Von einer weiteren Anekdote berichtet seine Biografin Sofia Chentowa: Eines | |
Tages telefonierte Schostakowitsch mit einem in der Sowjetunion bekannten | |
Fußballhistoriker, Konstantin Jessenin, der dankbar die vielen | |
Informationen notierte, die der ihm unbekannte Gesprächspartner mitteilte. | |
Erst am Ende des Telefonats erkundigte sich Jessenin nach dessen Namen – | |
und erschrak, als der ihm antwortete: „Dmitri Dmitrijewitsch | |
Schostakowitsch.“ | |
Wer sich mit der Biografie des Komponisten beschäftigt, findet schnell | |
heraus, dass solche Wortmeldungen sehr ungewöhnlich waren. Nicht zuletzt | |
weil Schostakowitsch in der stalinistischen Sowjetunion gleich zweimal in | |
Ungnade gefallen war, fielen seine öffentlichen Äußerungen meist knapp, | |
allgemein und oft nicht frei von Opportunismus aus. Auf Kritik daran | |
erwiderte er einmal: „Aber dafür habe ich niemals eine Note geschrieben, | |
die falsch klingt.“ | |
## Fan von Zenit Leningrad | |
Dass sich der Komponist so freimütig äußerte, hat Gründe. Es war ja nicht | |
die Politik, über die er sprach. „Das Stadion ist in diesem Land der | |
einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht“, | |
hat Schostakowitsch einmal gesagt. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin | |
Laurel E. Fay schreibt: „Der Fußball bot Schostakowitsch eine | |
Fluchtmöglichkeit – sowohl aus der Musik als auch vor den Gefahren des | |
Alltags.“ | |
Dass sich Schostakowitsch mit seinem Wissen an den Sportautoren Konstantin | |
Jessenin wandte, dürfte besondere Gründe haben. Konstantin war Sohn des | |
1925 verstorbenen Dichters Sergei Jessenin und der Schauspielerin Sinaida | |
Reich. Nach ihrer Trennung von Jessenin war Reich mit Wsewolod Meyerhold | |
verheiratet; dort wuchs Konstantin auf. Und den weltberühmten | |
Theaterregisseur, ermordet 1940, hatte Schostakowitsch immer verehrt. | |
Meyerhold und Reich waren Schostakowitschs Nachbarn am Moskauer | |
Nowinski-Boulevard, eine Weile wohnte er sogar bei Meyerhold. Persönliche | |
Bande könnten eine Erklärung für Schostakowitschs Offenheit sein. | |
Der Komponist war Fan von Zenit Leningrad, das heute als Zenit St. | |
Petersburg mit Wladimir Putin einen etwas anders gestrickten Fan hat. | |
Regelmäßig ging Schostakowitsch zu Zenit-Heimspielen, Auswärtsspiele | |
versuchte er nicht zu verpassen, und auch zu den Spielen anderer | |
Mannschaften ging er gerne – „manchmal fuhr er sogar bis nach Taschkent“, | |
erzählt Petrowskaja – mehr als 3.000 Kilometer vom heutigen St. Petersburg | |
entfernt. Auch Proben soll der Komponist früher verlassen haben, wenn ein | |
Spiel anstand. Und wenn er in anderen Städten zu tun hatte, mussten ihm | |
Freunde und Kollegen Karten besorgen. Radio und später Fernsehen nutzte er | |
auch, Sportfachblätter kaufte er fast manisch, und mit anderen Fans war er | |
im brieflichen Austausch. Auch einen Schiedsrichterkurs hat er absolviert. | |
Mit den so gewonnenen Informationen führte Schostakowitsch sein | |
Statistikbuch, in das er übrigens nicht nur Fußballinformationen eintrug: | |
Auch sein musikalisches Werkverzeichnis ist dort vollständig notiert. Zudem | |
finden sich dort Schachnotationen. Wenn er sein Buch nicht zur Hand hatte, | |
behalf sich Schostakowitsch anders: „Mehrfach finden sich zwischen | |
Partiturskizzen Fußballergebnisse“, schreibt sein Biograf Lothar Seehaus. | |
## Auch ein Fußballballett komponiert | |
Mehrere Fotos existieren, die Schostakowitsch im Stadion zeigen. „Auf fast | |
allen anderen Bildern, die es von ihm gibt, wirkt er zurückgenommen und | |
ernst“, sagt Katja Petrowskaja, „aber auf den Stadionfotos ist er einfach | |
fröhlich, wie ein Kind.“ Der Historiker Dmitrij Belkin glaubt, dass | |
Schostakowitsch „zwar oft zugeknöpft wirkte, aber ein extrem | |
leidenschaftlicher Zeitgenosse war – auch im Leben, nicht nur in der | |
Musik“. Katja Petrowskaja vermutet eine Parallelität dieser zwei | |
Leidenschaften Fußball und Musik: „In beiden Bereichen gibt es sowohl | |
Regeln als auch Inspiration – das ist ein Ursprung kreativer Arbeit.“ | |
Einmal, als seine Frau nicht zu Hause war, lud er die ganze Mannschaft von | |
Zenit zu einem Abendessen zu sich ein. Die Atmosphäre war steif und | |
gezwungen, bis einige Spieler den Gastgeber baten, doch auch „etwas von | |
sich“ zu zeigen. Schostakowitsch setzte sich an den Flügel, und es wurde | |
ein wunderbarer Abend. | |
Interessanterweise steht ein Fußballballett, das Schostakowitsch 1929 | |
komponierte, „Das Goldene Zeitalter“, mit seiner Fußballbegeisterung kaum | |
in Zusammenhang; es war eine Auftragsarbeit. „Eine etwas dünnblütige | |
Fabel“, urteilt sogar die DDR-offizielle Schostakowitsch-Biografie 1975, | |
herausgegeben von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. | |
Der polnische Komponist Krzysztof Meyer, der eine Schostakowitsch-Biografie | |
geschrieben und mit dem weltberühmten Komponisten befreundet war, | |
berichtet, dass Schostakowitsch von dem „primitiven und naiven Libretto“ | |
enttäuscht gewesen sei und erst nach gutem Zureden den Auftrag übernahm. | |
Im „Goldenen Zeitalter“ besucht eine sowjetische Fußballmannschaft | |
anlässlich einer Industrieausstellung eine nicht näher bezeichnete | |
westliche Stadt – in der Ursprungsfassung war von einem Land namens | |
„Faschlandia“ die Rede. Die Elf beweist dort die Überlegenheit des | |
sozialistischen Fußballs über den bürgerlichen beziehungsweise | |
faschistischen. Am Ende solidarisieren sich in einem Tanz sowjetische | |
Sportler und westliche Arbeiter. | |
## „Der Ball ist reingerutscht“ | |
Fußball taucht in einigen anderen Werken Schostakowitschs auf. Für den Film | |
„Maxims Jugend“ (1935) etwa komponierte er einen frechen Chanson, dazu gab | |
es den Text: „Ich bin Fußballerin, ich verteidige mein Tor. Vergeblich hab | |
ich meine Beine zusammengepresst. Der Ball ist reingerutscht … Ich hab | |
verloren!“ | |
Als er im Juni 1937 kurz vor dem Abschluss seiner 5. Sinfonie stand, | |
besuchte er ein Länderspiel: Die Sowjetunion spielte gegen das | |
Baskenland. Die UdSSR war damals nicht Mitglied der Fifa und trug ihre | |
Spiele als solidarische Freundschaftsspiele aus. Das 2:2, das | |
Schostakowitsch sah, soll ihn so beschwingt haben, dass er binnen zwanzig | |
Tagen die für ihn schwierige 5. Sinfonie abgeschlossen hat. | |
Die Fußball-WM 1966 wollte er sich in England live anschauen, in einem | |
Interview mit der sowjetischen Zeitung Iswestija hatte er vorab auch sehr | |
kenntnisreich über den – aus seiner Sicht mangelhaften – Zustand des | |
sowjetischen Fußballs gesprochen. Ein Herzinfarkt machte seine Reisepläne | |
zunichte. Dass die sowjetische Nationalmannschaft 1974 an der WM in | |
Deutschland nicht teilnahm, betrübte ihn. Immerhin war das Team damals | |
Vizeeuropameister, doch weil es ein Qualifikationsspiel gegen Chile im | |
Stadion von Santiago – dort, wo noch wenige Tage vor Anpfiff Gegner von | |
Pinochets Militärdiktatur gefoltert wurden – boykottiert hatte, durfte die | |
Sowjetunion nicht in Deutschland antreten. | |
Ein Jahr später erkrankte Schostakowitsch erneut schwer. Als er im August | |
wieder ins Krankenhaus kam, geschah, wie sein Biograf Detlef Gojowy | |
berichtet, dies: „Freute sich noch, das fertiggestellte Reinschriftexemplar | |
seiner Bratschensonate zu sehen. Sah sich ein Fußballspiel im Fernsehen an. | |
Wollte aus Tschechow vorgelesen haben.“ Dann bat er seine Frau, kurz aus | |
dem Haus zu gehen. Als sie wiederkam, war er tot. Am 9. August 1975 ist der | |
unglaubliche Fußballexperte Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch | |
verstorben. | |
11 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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