| # taz.de -- Konzert würdigt Mieczysław Weinberg: Zwischen allen Stühlen | |
| > Der polnische Komponist Mieczysław Weinberg floh vor den Deutschen in die | |
| > Sowjetunion, wahrte aber Distanz. Sein Klaviertrio erklingt nun in | |
| > Bremen. | |
| Bild: Enorm produktiv: Mieczysław Weinberg in den 1970ern | |
| Er war ein Weltenwanderer wider Willen: Mieczysław Weinberg hatte sich | |
| nicht ausgesucht, kurz vor Beginn einer Pianistenkarriere 1939 aus Warschau | |
| fliehen zu müssen vor der in Polen einmarschierenden Wehrmacht. Nicht dass | |
| es damit ausgestanden gewesen wäre für den jüdischen Komponisten | |
| (1919–1996): Im Holocaust verlor er seinen Vater, Komponist und Geiger am | |
| Warschauer Jüdischen Theater, sowie seine ganze übrige Familie – was | |
| Weinberg erst viele Jahre später erfuhr. | |
| Auch war es nicht seine freie Entscheidung, aus dem [1][belarussischen | |
| Minsk], seinem ersten Exil, kurz nach Abschluss seines Kompositionsstudiums | |
| 1941 erneut vor den Deutschen fliehen zu müssen, die nun auch die | |
| Sowjetunion überfielen. | |
| Bis ins usbekische, damals gleichfalls sowjetische Taschkent ist er dann | |
| gegangen, hat geheiratet, Musik für das Theater geschrieben und von dort | |
| aus seine erste Sinfonie an [2][Dmitrij Schostakowitsch] geschickt. Das | |
| änderte Weinbergs Leben: Der Komponist holte ihn nach Moskau, wo der | |
| Jüngere bis zu seinem Tod 1996 auch blieb. | |
| Es begann eine lebenslange Freundschaft, aus der sich ein musikalischer | |
| Dialog entspann – und ein geradezu sportlicher Wettstreit darum, wer mehr | |
| Streichquartette schreiben würde. Weinberg, dessen einziges Klaviertrio am | |
| Wochenende in Bremen erklingt, schaffte 17 Streichquartette, | |
| Schostakowitsch 15. | |
| ## Kein Propagandakomponist | |
| Zwischen allen Stühlen saß Weinberg trotzdem lebenslang, balancierte | |
| zwischen Anpassung und Distanz. Das hatte auch biografische Gründe, „war er | |
| der Sowjetunion doch lebenslang dankbar, weil sie ihn vor der Shoah | |
| gerettet hatte“, sagt Friedrich Geiger, Professor an der Musikhochschule | |
| München und wissenschaftlicher Leiter der 2016 begonnenen Weinberg-Edition | |
| des in Hamburg ansässigen Musikverlags Peermusic. | |
| „Er war nie ein radikal widerständiger oder dissidenter Komponist“, sagt | |
| Geiger. „Aber er war auch nie ein Propagandakomponist. Denn er war | |
| natürlich nicht einverstanden mit den antisemitischen Tendenzen der | |
| stalinistischen Politik.“ In der Tat versuchte Weinberg zwar, gemäß den | |
| Richtlinien des Sozialistischen Realismus zu komponieren, indem er etwa | |
| Volksmusik integrierte. „Aber das geschah nie auf servile Weise, sondern | |
| so, dass es individuell blieb, indem er etwa – ohne dass er es offenlegte – | |
| jüdische Folklore aufnahm.“ | |
| Dass ab 1948 der Antisemitismus stalinistische Staatsdoktrin wurde, dass | |
| man ihm, wie vielen anderen sowjetischen KomponistInnen, nun „Formalismus“ | |
| und „Dekadenz“ vorwerfen und einige Arbeiten Weinbergs verbieten würde, | |
| aber genauso Schostakowitschs und [3][Prokofjews], hatte er nicht | |
| vorausgesehen. 1953 musste Weinberg gar für einige Monate ins Gefängnis und | |
| kam, trotz Intervention durch Schostakowitsch, erst nach Stalins Tod frei. | |
| Aber er fand Wege, ernährte sich zeitweise von Theater- und Filmmusik, etwa | |
| für den 1957 berühmt gewordenen Film „Wenn die Kraniche ziehen“. | |
| In den 1960er-Jahren wurde es etwas leichter. Renommierte sowjetische | |
| Musiker führten Stücke des so produktiven Komponisten auf: Insgesamt | |
| verantwortet Weinberg über 150 Kompositionen. Allein sein Hauptwerk, die | |
| 1968 entstandene Oper [4][„Die Passagierin“,] blieb verboten: ein Stück | |
| über die Nachkriegs-Begegnung einer [5][Auschwitz-Aufseherin] und einer | |
| einstigen KZ-Inhaftierten. Fußend auf einem autobiografischen Roman der | |
| Widerstandskämpferin [6][Zofia Posmysz], erzählt das Stück in | |
| schonungslosen Rückblenden – Libretto von Alexander W. Medwedew – vom | |
| Lagerleben, vom Schwur der Gefangenen, den PeinigerInnen niemals zu | |
| vergeben und vom vermeintlichen Recht der TäterInnen, den Krieg zu | |
| vergessen. | |
| ## Bis heute nicht erwünscht | |
| Weinberg gedachte damit auch seiner eigenen ermordeten Familienmitglieder. | |
| Doch die sowjetischen Autoritäten wollten diese Oper nicht öffentlich | |
| aufgeführt wissen. Zu stark war die Sorge, das KZ-Grauen könnte mit dem von | |
| [7][Stalins Gulag] verglichen werden. Zu groß auch der Unwille, über den | |
| zeitgenössischen Antisemitismus in der Sowjetunion zu reden. Uraufgeführt | |
| wurde „Die Passagierin“ 2006 in Moskau, erwünscht ist sie dort wohl bis | |
| heute nicht. | |
| Selbst in seinem Geburtsland Polen ist Weinberg noch wenig bekannt, und | |
| auch hier könnte der zögerlich aufzuarbeitende Antisemitismus ein Grund | |
| sein. Zudem gilt Weinberg, der nicht in sein Geburtsland zurückkehrte, dort | |
| vielleicht manchen als Abtrünniger. Dabei legte Weinberg großen Wert auf | |
| seine polnische Identität, vertonte polnische Literatur und unterschrieb | |
| zeitlebens sämtliche Kompositionen mit seinem polnischen Vornamen. Er | |
| hoffe, sagt Geiger, dass sich die Rezeption Weinbergs, „eines der | |
| bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts“, unter der [8][neuen | |
| polnischen Regierung] verbessere. | |
| Auch im Westen war Weinberg, der in den 1970er-Jahren mit dem Aufstieg | |
| junger Avantgarde-KomponistInnen wie [9][Sofia Gubaidulina], Edisson | |
| Denissow und Alfred Schnittke in der Sowjetunion zunehmend als gestrig | |
| galt, lange Zeit kaum bekannt. Den internationalen Durchbruch brachte die | |
| szenische Weltpremiere der „Passagierin“ im Jahr 2010 bei den | |
| [10][Bregenzer Festspielen]. Seither stehen Weinbergs Werke regelmäßig auf | |
| den Konzertprogrammen. | |
| Das nun in Bremen angekündigte Klaviertrio Nr. 1 in a-Moll ist laut Geiger | |
| „eins von Weinbergs populärsten Werken. Es wurde 1945 komponiert. | |
| Stilistisch bleibt es teils traditionell, enthält aber auch, dem | |
| Sozialistischen Realismus gemäß, Volksliedmelodien.“ Aber die seien nicht | |
| volksliedhaft vertont, sondern stark verfremdet. Außerdem gebe es Anklänge | |
| an die Shoah und an jüdische Motive. „Im dem Stück“, sagt Geiger, „haben | |
| Sie Weinberg ganz kompakt.“ | |
| 4 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Uebersetzer-ueber-Gefaengnis-Geschichten/!5932024 | |
| [2] /Neue-Musik-aus-Berlin/!5953288 | |
| [3] /Dostojewskis-Der-Spieler-als-Oper/!5510654 | |
| [4] /Archiv-Suche/!404309&s=mieczyslaw+weinberg&SuchRahmen=Print/ | |
| [5] /Verfahren-gegen-NS-Verbrecher/!5648852 | |
| [6] /66-Jahre-nach-der-Befreiung-in-Auschwitz/!5127855 | |
| [7] /100-Jahre-Oktoberrevolution/!5457850 | |
| [8] /100-Tage-Donald-Tusk/!5997531 | |
| [9] /Archiv-Suche/!630983&s=petra+schellen+gubaidulina&SuchRahmen=Print/ | |
| [10] /Festspiele-Bregenz-2019/!5607787 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Holocaust | |
| Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
| Auschwitz | |
| Stalin | |
| Gulag | |
| Jazz | |
| taz Plan | |
| Wladimir Putin | |
| taz Plan | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gedenkkonzert zum Kriegsausbruch: Gegen die Wiederkehr des Schreckens | |
| Der polnische Geiger Adam Bałdych gab in der Berliner St.-Elisabeth-Kirche | |
| ein ergreifendes Konzert zur Erinnerung an den Ausbruch des 2. Weltkriegs. | |
| Neue Musik aus Berlin: Farben, Frische und Swing | |
| Bis 2018 war Simon Rattle Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Die 45 | |
| CDs schwere Box „The Berlin Years“ umfasst Stücke von Haydn und | |
| Rachmaninov. | |
| Konzeptalbum über Putin: Vladimir, der Schlächter | |
| Ein britisches Musikerduo bringt auf seinem Debütalbum düstere russische | |
| Gewaltgeschichte in Einklang mit der Atmosphäre seiner Wahlheimat Berlin. | |
| Neue Musik aus Berlin: Komponieren unter Stalin | |
| Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker spielen drei Symphonien von | |
| Dmitri Schostakowitsch. Sie klingen zerissen und manchmal federnd leicht. |