| # taz.de -- Essay von Sebastian Moll: Die NS-Geschichte wegbetonieren | |
| > Sebastian Moll liefert mit seinem Essay „Das Würfelhaus“ einen | |
| > psychogeografischen Abriss über den Städtebau von Frankfurt am Main. | |
| Bild: Nur noch Ruinen, Trümmer und Verwüstung am Römer in Frankfurt am Main … | |
| Nach dem Tod der Mutter kehrt der seit vielen Jahren in New York lebende | |
| Journalist und Buchautor Sebastian Moll zurück in die Wohnsiedlung seiner | |
| Kindheit. Die liegt bei Langen, südlich von Frankfurt am Main. Er will sein | |
| Elternhaus ausräumen und in der Auswertung des Nachlasses der zwiespältigen | |
| Beziehung zum eigenen Vater nachspüren. | |
| Bereits verstorbene Eltern nach dem bisher Unaussprechlichen zu befragen | |
| und lose Enden der eigenen Biografie zusammenzufügen, das ist als | |
| literarischer Griff so weit nicht neu. | |
| Die biografische Grabungsarbeit des 1966 geborenen [1][Autors, der auch für | |
| die taz schreibt], reicht aber weit über den schmalen Rasenstreifen des | |
| elterlichen Reihenhauses hinaus: Moll liefert mit seinem Essay einen | |
| psychogeografischen Abriss über den Städtebau von Frankfurt am Main. Und er | |
| wirft Fragen auf, mit dem Fokus auf die Generation der Flakhelfer, auf ihre | |
| Indoktrinierung vor dem Zweiten Weltkrieg und ihre seelischen Vernarbungen | |
| danach, die es sich im derzeitigen politischen Klima in Deutschland erneut | |
| zu stellen lohnt. | |
| ## Ex-Heimat in der Reihenhaussiedlung Frankfurts | |
| Molls Elternhaus, das sogenannte Würfelhaus, ist Teil der Gartenstadt | |
| Oberlinden, eine jener Reihenhaussiedlungen, die nach Kriegsende vielerorts | |
| in bundesdeutschen Vororten realisiert wurden. Sie verhießen ein modernes | |
| Familien- und Nachbarschaftsidyll auf rationalem Grundriss. | |
| Die Sehnsucht nach dem „Neuen Wohnen“ blieb jedoch reine Utopie, stellt | |
| Moll klar: Der Eifer, mit dem der Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands | |
| betrieben wurde, förderte einen Städtebau der Verdrängung. Das schnelle | |
| Auslöschen des zertrümmerten Stadtbilds bewahrte vor der Auseinandersetzung | |
| mit der jüngsten Vergangenheit und der eigenen Mitschuld am Holocaust. | |
| Unter dem repräsentativen, mit Möbeln von Eames und Rams oder Büchern von | |
| Grass und Böll ausgestatteten Wohnzimmer der Eltern legt Moll die Untiefen | |
| des Würfelhauses frei. Im Hobbykeller des Vaters lagerten Dokumente, die | |
| den Sozialdemokraten und Pazifisten der Adenauer-Ära als vormals | |
| begeistertes Mitglied der Hitlerjugend zeichnen, das darauf brannte, seinen | |
| Teil zum Endsieg beizutragen. | |
| Wie dieser abgekapselte Teil der väterlichen Persönlichkeit zurück an die | |
| Oberfläche brach, schildert Moll ebenso schonungslos, wie er auch die | |
| schwelenden Wunden der Frankfurter Stadtgeschichte seziert. | |
| ## Wiederaufbau Paulskirche | |
| Dazu gehört der Wiederaufbau der [2][Paulskirche 1947] nach Plänen von | |
| Rudolf Schwarz, in der eine bruchlose Genealogie der deutschen Demokratie | |
| von der Nationalversammlung 1848/49 bis heute proklamiert wird. Und der | |
| Konflikt über den Umgang mit dem jüdischen Erbe, als etwa 1987 die | |
| Fundamente des ehemaligen Ghettos wieder zutage traten – und letztlich von | |
| Ernst Gisels postmodernem Stadtwerke-Bau einverleibt wurden. | |
| Nicht zuletzt die [3][„Neue Altstadt“ Frankfurts, die als „Heimatanker“… | |
| historischen Kern der Mainmetropole zur blutleeren Selfie-Kulisse machte]. | |
| In der Behauptung, wieder eine intakte Stadtmitte zu sein, spielt die Neue | |
| Altstadt auch jetzt einer geschichtsrevisionistischen Denke zu. | |
| Bei alldem bleibt der Autor sehr persönlich. Seine vielen Quellen befragt | |
| er kritisch. Dabei zieht er historische O-Töne heran und nimmt | |
| zeitgenössische Einordnungen hinzu – neben dem US-Sozialkritiker Jeremiah | |
| Moss und Architekturtheoretiker Stephan Trüby sind hier etwa der | |
| Männlichkeitsforscher Klaus Theweleit und das | |
| Nachkriegs-Psychoanalytikerpaar Mitscherlich zu nennen. | |
| Seinen Umzug in die USA wertet Moll als Flucht vor dem eigenen Deutschsein. | |
| Und obwohl sich Geschichte nicht abschütteln lässt, zieht es ihn, nach | |
| einem letzten Blick auf das mittlerweile verkaufte und Ikea-möblierte | |
| Würfelhaus, am Ende seines Buches dorthin wieder zurück. | |
| 26 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kathrin Schömer | |
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