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# taz.de -- Identitätspolitik im Wiederaufbau: Welche Vergangenheit?
> In Deutschland wird mit Architektur Identitätspolitik gemacht. Der
> Architekt Philipp Oswalt zeigt das in seinem Essay „Bauen am nationalen
> Haus“.
Bild: Die „gute alte Zeit“: Die Rekonstruktion des Berliner Schlosses erfol…
Was haben die Paulskirche und die Dom-Römer-Zeile in Frankfurt am Main, das
Berliner Stadtschloss, die Garnisonkirche in Potsdam und das
Meisterhaus-Ensemble in Dessau gemeinsam? Sie alle sind im Zweiten
Weltkrieg zerstört und später wieder aufgebaut worden. Diese fünf sehr
unterschiedlichen architektonischen Rekonstruktionen verlorener
Originalgebäude finden sich nun als Fallbeispiele in dem schlanken,
schlauen Buch „Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik“
von Philipp Oswalt, Professor für Architekturtheorie in Kassel und
ehemaliger Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau.
Oswalts Buch ist keine fundamentale Forschungsarbeit zum tonnenschweren
Thema. Er serviert einen locker geschriebenen, persönlichen und
meinungsstarken Essay, der gelegentlich ins Polemische abschweift.
Die Beispiele des [1][Berliner Stadtschlosses], der Potsdamer
Garnisonkirche und der Rekonstruktion von 35 Altstadthäuschen in der
Frankfurter Innenstadt sind ihm ein Beleg dafür, wohin sich der Diskurs um
einen Wiederaufbau von historischen Gebäuden in Deutschland zuletzt
verschoben hat. Denn bis in die 1980er Jahre hätten moderne und
historisierende Architektur weitgehend koexistiert. Schon vor der Wende
seien aber in West- wie Ostdeutschland zunehmend Bauvorhaben entstanden,
die nicht nur kriegszerstörte Stadtbilder wiederherstellen sollten, sondern
im Grunde die Revision deutscher Geschichte einforderten. Man will,
beobachtet Oswalt, an Zeiten vor 1918 anknüpfen. Die Moderne hingegen lehnt
man als „Irrweg“ mit aller Härte ab. Ihre Bauten zugunsten der
Rekonstruktionsprojekte abzureißen, sei folglich legitim.
## Die Zeitläufte zurückdrehen
Ein frühes Beispiel in der Debatte ist für Oswalt die Frankfurter
Paulskirche. Diese wurde 1947/48 mit Spenden aus Ost- und Westdeutschland
nach Plänen von Rudolf Schwarz wiedererrichtet. Die Innenräume ließ Schwarz
damals in modernistisch vereinfachter Form gestalten, nicht nur aus
wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Überzeugung. Die Kirche sollte zum
Symbol des Wiederaufbaus und der Nachkriegszeit werden, so wie der
Originalbau es für die Entstehung der Demokratie in Deutschland war. Aber
über ebendiesen doppelten Symbolbau brach in den 1980ern eine von der CDU
initiierte Debatte aus, ob die Kirche nicht [2][in den Originalzustand von
1848 zurückzubauen] sei. Da ging es um das Zurückdrehen der Zeitläufte,
wenigstens optisch.
Ähnliche Motive sieht Oswalt beim Berliner Stadtschloss und der
[3][Garnisonkirche in Potsdam.] Oswalt schreibt flott und kenntnisreich, er
hat sich mit diesen Fällen jahrelang beschäftigt und in den Debatten
kritisch zu Wort gemeldet. Handwerkliche Fragen streift er nur, etwa
diejenige um eine oft bemühte „Authentizität“, wie solche Gebäude überh…
seriös rekonstruiert werden können, wenn fast keine Originalsubstanz
erhalten blieb. Oswalt geht es um die gesellschaftspolitische Dimension.
Daher stehen im Buch die Netzwerke und Akteure im Vordergrund, die diese
Rekonstruktionsprojekte bis heute vorantreiben. Und deren Wurzeln
gelegentlich tief im nationalistischen oder rechtsextremen Milieu verankert
sind: Die Initiative zum Wiederaufbau der Garnisonkirche ging in den 1980er
Jahren von rechtsextremen Soldatenkreisen im nordrhein-westfälischen
Iserlohn aus. Damit sei eine eindeutige politische Agenda hinter dem Neubau
– inklusive Glockenspiel und Kriegstrophäen in der Fassade – sichtbar, die
sich erstaunlich unkritisch bis heute in den Wiederaufbauplänen der
evangelischen Kirche unter Schirmherrschaft des aktuellen Bundespräsidenten
wiederfindet.
## Nicht jede Rekonstruktion muss schlecht sein
Zuletzt nennt Oswalt ein Projekt, das er selber als einstiger Direktor der
Stiftung Bauhaus Dessau mitverantwortet hat: die Rekonstruktion des
Ensembles [4][der Meisterhäuser von Walter Gropius in Dessau]. Auch hier
waren Gebäude durch Fliegerbomben im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen
und auf der entstandenen Brache ein Haus errichtet worden. An dessen Stelle
wurde nach jahrzehntelanger Debatte die Gruppe der Meisterhäuser wieder
vervollständigt – allerdings nicht in originalgetreuer Weise, als seien die
Brüche des 20. Jahrhunderts nie passiert, sondern abstrakt interpretierend
durch die Berliner Architekten Bruno Fioretti Marquez. Nicht jede
Rekonstruktion muss also eine revisionistisch-schlechte sein.
Der zeitgenössischen Architektur – anders als der oft gehörte pauschale
Vorwurf – sei ein mutiger und kritischer Umgang mit der Vergangenheit
zuzutrauen. Und das vermöge die Rekonstruktion in Dessau ebenso wie Rudolf
Schwarz’ Paulskirche, oder auch der Wiederaufbau [5][des Neuen Museums in
Berlin nach Plänen von David Chipperfield]. Der Erfolg dieser
Rekonstruktionen bei einem breiten Publikum zeige zudem, wie wenig an
dem Argument dran sei, die zeitgenössische Architektur könne keine
Identifikationsbauten mehr schaffen – keine gemütliche Heimat für die
volksdeutsche Seele, eben kein nationales Haus. Durch diesen argumentativen
Dreh wird Oswalts Buch ein wertvoller Beitrag in der immer noch wütend
geführten Rekonstruktionsdebatte.
12 Jan 2024
## LINKS
[1] /Umstrittene-Kuppel-des-Humboldt-Forums/!5808292
[2] /Paulskirche-in-Frankfurt-am-Main/!5628435
[3] /Streit-um-Garnisonkirche-in-Potsdam/!5929518
[4] /Schlafen-in-der-Bauhaus-Stadt-Dessau/!5970954
[5] /Berliner-Neues-Museum-wieder-offen/!5154317
## AUTOREN
Florian Heilmeyer
## TAGS
Rekonstruktion
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