# taz.de -- Bürgerchor in Dresden: Ungehörte Menetekel | |
> Vor 20 Jahren wurde Volker Löschs Inszenierung der Dresdner „Weber“ | |
> verboten. Ein Buch erinnert an dessen Bürgerchor, der die | |
> Wutbürgerbewegung vorausahnte. | |
Bild: Die „Weber“ bei einer Aufführung 2005 | |
Verbote steigern die Aufmerksamkeit. Und sie gehören ab ovo zum Theater. | |
Spätestens nachdem die Aufführung der Dresdner „Weber“ nach Gerhart | |
Hauptmann im November 2004 vorläufig untersagt wurde, war dem deutschen | |
Feuilleton der Dresdner Bürgerchor ein Begriff. | |
In dessen den Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 der SPD | |
abgelauschten Polemiken ging es unter anderem gegen die bekannte | |
„Tagesschau“-Sprecherin Sabine Christiansen. Die wehrte sich, der Verlag | |
Felix Bloch Erben erreichte eine einstweilige Verfügung. Ein Jahr später | |
war mit den „Dresdner Webern“ eine korrigierte rechtefreie Fassung des | |
Staatsschauspiels zu sehen. | |
Zwanzig Jahre danach hat der damalige Chefdramaturg Stefan Schnabel ein | |
überwiegend dokumentarisch angelegtes Buch vorgelegt, das sich aber nicht | |
retrospektiv versteht. Im Gegenteil, in „Volkstheater der Zukunft“ spricht | |
Schnabel von einem Modell, an das gerade jetzt angesichts der schleichenden | |
Nazifizierung der Mitte und der „Schnauze voll“-Wahlen im Osten erinnert | |
werden sollte. | |
Er wagt im Glauben an die Wirkungskraft des Theaters sogar die These, dass | |
[1][die Menetekel des Bürgerchores] in den Zweitausendern kommende Spaltung | |
und Brutalisierung zumindest hätten dämpfen können, wären sie nur von den | |
Staatslenkern gehört worden. „Man hätte dieses Frühwarnsystem Bürgerchor | |
besser wahrnehmen und daraus auch Konsequenzen ziehen müssen, dann wäre uns | |
vielleicht manches erspart geblieben“, mahnt er im Gespräch mit der taz. | |
## „Urdemokratischer“ Chor wurde zum Markenzeichen | |
Um ein Zukunftsmodell aber ging es 2003 nicht, als aus 150 Bewerbern 33 | |
Dresdner Bürger für die Orestie des Aischylos ausgewählt wurden. Sie | |
sollten als der antike kommentierende Chor, als „Urdemokraten“ über das | |
Schicksal Orests befinden. Diese Wiederentdeckung des Chores wurde zum | |
Markenzeichen von Regisseur Volker Lösch weit über seine sechs Dresdner | |
Inszenierungen hinaus. Neben Dramaturg Schnabel gehörten noch | |
Bühnenbildnerin Cary Gayler und Sprechtrainer Bernd Freytag zum Team. | |
„Selbstaufklärung mit Mitteln des Theaters, und der Stellvertreter des | |
Publikums ist der Chor auf der Bühne“, beschreibt Schnabel den Ansatz, der | |
auch von den Brecht’schen Lehrstücken inspiriert war. Alle Inszenierungen | |
standen in einem politischen Kontext. Sie passten zudem in Schillers Vision | |
von der Schaubühne als moralischer Anstalt. Als Lösch 2013 den Lessingpreis | |
des Freistaates Sachsen erhielt, stellte er seine Dankesrede unter das | |
Motto „Ich will die Welt verändern!“. | |
Die 33 Bürgerchormitglieder aber waren zunächst nur teilweise von solch | |
missionarischem Geist besessen. Es lockten eher der Kick der | |
Selbstentdeckung oder die latente Affinität zum Theater. Der Chor besuchte | |
zwar gemeinsam Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-4-Gesetze und | |
lauschte „dem Volk“ manche Äußerung ab. „Man gießt dann Benzin hin / u… | |
das Arbeitsamt brennt“, hieß es beispielsweise im neuen Weberlied von 2004. | |
Und „mein Feindbild ist das patriarchalisch-kapitalistisch organisierte | |
Gesellschaftsding“. | |
Das kam nicht alles aus dem Herzen oder der Mördergrube der Choristen | |
selbst. Regie und Dramaturgie weckten manche Haltung erst. Zur „Orestie“ | |
antworteten die ostdeutschen Choristen per Video auf die Frage nach dem | |
Zustand der Demokratie, 13 Jahre nach dem Beitritt zur Bundesrepublik. | |
Niemand glaubte mehr an blühende Landschaften, viele sahen keine | |
Volksherrschaft, sondern die des Kapitals. Darüber wurde auf der Bühne auch | |
kontrovers debattiert, bevor man sich wieder zu gemeinsamen Polemiken fand. | |
## Verschenkte Chancen | |
Der heterogene Chor hat zwar den Extremismus von Pegida und der AfD nicht | |
einfach zehn Jahre vorweggenommen, wohl aber die mit ihnen verbundenen | |
Tendenzen der Generalverweigerung, der Restauration und des Hangs zu | |
autoritären Herrschaftsformen. Ins Leere liefen die Inszenierungen | |
[2][Löschs bis hin zu „Graf Öderland“] nach Max Frisch 2015 nicht. | |
Es blieb nicht bei reinen Publikumsgesprächen, man war Stadtgespräch. Aber | |
wie Schnabel sieht auch Chormitglied Reinhard Löwe eine verschenkte Chance. | |
„Es gehen doch nicht die ins Theater, die es hören müssten!“ Zu viel sei … | |
Sande verlaufen, statt in die Richtung, in die es eigentlich hätte wirken | |
müssen, bedauert er. | |
Wie aber hätten „die da oben“ bei sich und in der Gesellschaft gegensteuern | |
müssen, so sie die artifiziell überhöhten Botschaften des Volkes gehört und | |
ernst genommen hätten? Man darf auch fragen, [3][ob sich das Mittel großer | |
Bürgerchöre womöglich erschöpft ha]t und ob problemorientierte, aber | |
bescheidenere Stückentwicklungen an heutigen Bürgerbühnen Relevanz | |
entfalten. Er habe das Buch auch geschrieben, damit Jüngere vielleicht | |
aufklärerisch weitermachen, wünscht sich Stefan Schnabel. | |
29 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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