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# taz.de -- Der Westen und der Ukraine-Krieg: Feuer frei?
> Soll der Ukraine erlaubt werden, Ziele tief in Russland mit westlichen
> Raketen und Marschflugkörpern anzugreifen? Ein Pro und Contra.
Bild: Ein Leopard-Panzer steht in der Ukraine im Unterholz
Ja, weil es vom Völkerrecht gedeckt ist, militärisch hilfreich wäre und
solidarisches Handeln geboten ist – und weil Putin blufft.
Völkerrechtlich gibt es keine Zweifel: Als angegriffenes Land hat die
Ukraine jedes Recht, sich zu verteidigen. Das beinhaltet auch das Recht,
legitime militärische Ziele auf dem Territorium der angreifenden Partei,
also Russlands, anzugreifen. Dafür infrage kommen aktuell die
US-amerikanischen ATACMS-Raketen sowie die britischen Storm-Shadow- und die
französischen Scalp-EG-Marschflugkörper. Sie haben eine Reichweite zwischen
250 und 300 Kilometern. Ursprünglich wollte Kyjiw mit diesen Waffen
Luftwaffenstützpunkte auf russischem Gebiet bekämpfen. Denn von dort
starten seit geraumer Zeit russische Kampfbomber, die noch vor der Grenze
Raketen und Gleitbomben ausklinken, die für die verheerenden Zerstörungen
in ukrainischen Städten sorgen.
Zwar hat Moskau viele dieser Stützpunkte mittlerweile weiter ins Hinterland
verlegt, sodass nur noch etwa ein Zehntel der infrage kommenden Flugplätze
von [1][ATACMS-Raketen] erreichbar sein sollen. Allerdings gibt es mit
Kommando- und Kontrollzentren des russischen Militärs, Treibstoff- und
Waffendepots sowie Truppenkonzentrationen noch genügend andere lohnende
Ziele. So können [2][Storm-Shadow-Marschflugkörper] seit Monaten von
ukrainischen Kampfjets abgefeuert werden und wurden auch schon erfolgreich
auf der Krim und im Schwarzen Meer eingesetzt.
Während die Briten und die Franzosen bereit wären, die Freigabe für Ziele
tief in Russland zu erteilen, zögern die Amerikaner noch. Washington nimmt
Putins atomare Drohungen durchaus ernst und befürchtet eine „Eskalation“.
Dabei dürfte ein kurzer Blick in die Geschichte der „roten Linien“ genüge…
um zu erkennen, dass Putin blufft. Die Lieferung schwerer Waffen, Angriffe
auf die völkerrechtswidrig annektierte Krim, zuletzt sogar ukrainische
Truppen im Gebiet Kursk: Immer hatte der Westen zuvor befürchtet, damit
könnte eine rote Linie überschritten werden und er laufe Gefahr, von Putin
zur Kriegspartei erklärt zu werden.
Putin hatte sich auch schon mehrfach so geäußert, seinen Drohungen aber nie
Taten folgen lassen. Stattdessen deutet er die Lage laufend um, zuletzt
wurde aus der „existenziellen Bedrohung“ eine „schwierige Situation“ [3…
der Oblast Kursk]. Nico Lange, Sicherheits- und Verteidigungsexperte bei
der Münchner Sicherheitskonferenz, schlussfolgert daraus, dass die viel
beschworenen roten Linien eigentlich keine sind. Im Übrigen würde Moskau
mit dem Einsatz nuklearer Waffen auch wenig, wenn gar nichts gewinnen, aber
viel verlieren: vor allem die Unterstützung Pekings.
Das wiederholte Zaudern und Zögern des Westens hat die Ukraine Zeit und
Opfer gekostet. ATACMS und Storm Shadow/Scalp-EG werden keine Gamechanger
sein – die gibt es eh nicht. Sie werden aber die Ukraine befähigen, ihre
Städte besser gegen die massiven Luftangriffe zu verteidigen und so die
Zahl der Opfer zu verringern. Was als Grund schon genügen sollte.
Stefan Mahlke
Nein, weil die Gefahr einer Esklationsdynamik unkalkulierbar ist. Der
Alltagsverstand bejaht zwar die Frage, ob jemand, der überfallen wird, das
Recht hat, den Aggressor auf dessen Gebiet zu attackieren. Denn das
entspricht einem elementaren Verständnis von Gerechtigkeit. Auch
völkerrechtlich ist die Sache eindeutig: Laut Paragraf 51 der UN-Charta hat
ein angegriffenes Land das Recht, sich im Rahmen des Kriegsvölkerrechts zu
verteidigen. Das schließt Angriffe auf fremdes Gebiet ein, Angriffe auf
zivile Ziele dort aus. Trotzdem sollten die USA und Großbritannien dem
ukrainischen Militär nicht erlauben, mit westlichen Marschflugkörpern
Militärflughäfen, Abschussrampen und Infrastruktur wie Raffinerien tief in
Russland zu zerstören.
Denn in der Sphäre der Politik ist das Bild zwiespältiger. Dort gilt es
zwischen zwei Zielen abzuwägen: der nötigen Unterstützung der Ukraine und
der Gefahr einer Eskalation zu einem Krieg zwischen Nato und Moskau.
Angriffe Hunderte Kilometer tief in Russland können Putins Kriegsführung
erschweren. Marschflugkörper wie Storm Shadow, die mehrere Hundert
Kilometer Reichweite haben, sind allerdings teuer. Die russische Seite kann
sich erfahrungsgemäß auf neue Situationen einstellen. [4][Der
US-Militärhistoriker Stephen Biddle weist darauf hin], dass
Präzisionswaffen [5][wie Himars-Raketen] nach anfänglichen Erfolgen an
Effektivität verloren, weil sich die russischen Streitkräfte anpassten. Ein
Gamechanger, der den Krieg zugunsten der Ukraine verändert, werden
Angriffe tief in russischem Gebiet nicht sein.
Dieser Krieg wird kaum mit einem militärischen Sieg der Ukraine enden. Die
russische Kriegswirtschaft ist stabil. Putin stehen ausreichend Soldaten
und Waffen zur Verfügung, um den Krieg jahrelang fortzusetzen. Der Krieg
wird mit Verhandlungen und einem kalten, brüchigen Frieden enden. Das ist
bitter. Aber realistischer als der Glaube an immer neue Gamechanger.
Fassbar ist hingegen die Eskalationsdynamik des Krieges. Die USA erlaubten
Kyjiw im Mai den Einsatz von US-Waffen auf russischem Gebiet, aber nur bei
Charkiw, um grenznah russische Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine zu
unterbinden. Später rückte ukrainisches Militär mit westlichen Waffen in
Kursk auf russisches Terrain vor. Jetzt sollen westliche Waffen Ziele nahe
Moskau erreichen dürfen. Was gestern noch schwer vorstellbar war, ist heute
Realität. Die Logik des „immer mehr“, die [6][Verteidigungsminister Boris
Pistorius] „strategische Anpassung“ nennt, ist typisch für die Dynamik von
Kriegen. Wo endet sie?
Wir wissen nicht, wie ernst Putins Ankündigung zu nehmen ist, mit Angriffen
auf den Westen zu antworten. Viel spricht dafür, dass dies leere Drohungen
sind und Putin letztlich ein rationaler Machtpolitiker ist. Aber: Sicher
ist das nicht. Wenn mehr westliche Waffen in der Nähe von Moskau
einschlagen, wird das Risiko einer Kurzschlussreaktion im Kreml eher größer
als kleiner. Wenn man Nutzen und möglichen Schaden abwägt, spricht mehr
dafür, bei der immer weitgehenderen Verwendung westlicher Waffen ein
Stoppschild zu setzen.
Stefan Reinecke
20 Sep 2024
## LINKS
[1] /Krieg-gegen-die-Ukraine/!6036298
[2] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!6037242
[3] /Russische-Gegenoffensive/!6036526
[4] https://www.foreignaffairs.com/ukraine/false-promise-ukraines-deep-strikes-…
[5] /West-Raketen-gegen-Russland/!6030653
[6] /Stationierung-von-Mittelstreckenraketen/!6034666
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Stefan Mahlke
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