# taz.de -- 40 Jahre Karola e.V. in Hamburg: Ein Zufluchtsort am Zufluchtsort | |
> Vor 40 Jahren wurde im Hamburger Karolinenviertel der Verein „Karola“ | |
> gegründet, um Frauen und Mädchen zu unterstützen. Fast alle von ihnen | |
> sind Romnja. | |
Bild: Da hat der interkulturelle Dialog funktioniert: Anwohner im Hamburger Kar… | |
Hamburg taz | Zum Treffen der Filmgruppe ist Samira als Erste gekommen. Sie | |
sitzt auf der Veranda und raucht, während ihr kleiner Bruder Metin um sie | |
herumwuselt. Mit den beiden wartet die Gruppenleiterin Annalena Maul auf | |
die übrigen Mädchen. | |
Maul ist eine von vier Mitarbeiterinnen des [1][Vereins „Karola“] im | |
Hamburger Karolinenviertel. Seit nun 40 Jahren unterstützt der Verein | |
Mädchen und Frauen verschiedener Generationen. Das besondere: Nahezu alle | |
von ihnen sind Romnja. | |
Zu Beginn der 1990er wurde das Karolinenviertel abrupt zum Zufluchtsort | |
vieler Rom*nja. Aufgrund des Jugoslawienkrieges kamen etwa 500 von ihnen | |
aus dem serbischen Dorf Negotin zu Verwandten, die bereits in den 1980ern | |
als Gastarbeiter*innen hergezogen waren. | |
„Hier steigt eine Giftsuppe auf“, betitelte der Spiegel im Oktober 1991 | |
eine lange Reportage über die Situation. Unter Rückgriff auf allerlei | |
[2][antiziganistische Stereotype] wird darin beschrieben, wie die deutschen | |
Anwohner*innen des Viertels sich von den geflüchteten Rom*nja-Familien | |
bedroht fühlten und [3][extreme soziale Spannungen] bestanden. | |
Schon vor dem Zustrom waren die Wohnungen vieler Rom*nja-Familien völlig | |
überbelegt. Die Stadt brachte 150 der Neuankömmlinge in Hotels am Rande des | |
Karolienenviertels unter, was jedoch längst nicht reichte. Die damals | |
stadteigene Wohnungsgesellschaft Steg, die bis heute Eigentümerin vieler | |
Wohnungen im Karoviertel ist, veröffentlichte im Januar 1993 einen Bericht, | |
nach dem sich 400 Rom*nja auf nur 24 Wohnungen verteilten. | |
Trotz der [4][antiziganistischen Ressentiments] vieler deutscher | |
Anwohner*innen gab es auch eine solidarische Gegenbewegung: Schon 1984 | |
gründeten Gemeindemitglieder der nahe gelegenen Gnadenkirche einen Verein, | |
um den interkulturellen Dialog im Viertel zu fördern – es war der Vorläufer | |
von Karola, dessen Entstehungsgeschichte in einer umfassenden Chronik | |
nachzulesen ist. | |
Im Juli 1991, als der Zuzug vieler Rom*nja ganz akut war, trafen sich | |
Anwohner*innen aus dem Umfeld des Vereins und der „Karo-Ini“, um über | |
die zunehmende „Drogendealerei und Frauenanmache“ in ihrer Nachbarschaft zu | |
beraten. Bei dem Treffen waren auch zwei Zivilpolizisten anwesend, die | |
allerdings weggeschickt wurden – die Mehrheit wollte das Problem ohne | |
Polizei in den Griff kriegen. | |
Gemeinsam forderten die Anwohner*innen mehr Wohnräume für die Rom*nja | |
und setzten sich für Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen ein. Die | |
Räume des Vereins wurden für Nachbarschaftstreffen genutzt und der Verein | |
organisierte erste Sozialberatungen und Alphabetisierungskurse für die | |
Rom*nja. | |
Auch wenn viele Rom*nja das Karoviertel inzwischen verlassen haben, hat | |
Karola sich über die Jahre gehalten und ist sogar gewachsen. Etwa 180 | |
Personen sind heute an den Verein angedockt und kommen regelmäßig zu | |
Sozialberatungen, Bildungsangeboten oder dem Freizeitprogramm. Fast alle | |
von ihnen sind Angehörige und Nachfahren der Rom*nja-Familien, die früher | |
im Viertel lebten. | |
Finanziert wird die Arbeit aktuell von der EU, Ende 2025 läuft die | |
Förderung aus. „Die finanzielle Unsicherheit ist ein großes Hindernis für | |
unsere Arbeit. Es wäre schön, wenn die Stadt sich hier mehr einbringen | |
würde“, sagt dazu Annalena Maul. | |
Auch die Schwestern Jelena und Jana Beganovic sind mittlerweile zum Treffen | |
der Filmgruppe eingetroffen. Sie sitzen gemeinsam mit Samira auf der | |
Veranda und schmieden Zukunftspläne. Die drei sind aktuell auf der Suche | |
nach einem Ausbildungsplatz. „Wir sollten ein Kosmetikstudio eröffnen!“, | |
sagt Jana. „Ich sag’ euch: Das werden Menschen immer wollen, diese Arbeit | |
wird nie aussterben.“ Samira und Jelena stimmen ihr zu. | |
## Starke patriarchale Strukturen | |
Der Geschäftssinn von Jana ist nicht selbstverständlich. Lange war es | |
innerhalb der Rom*nja-Community unüblich, dass Frauen überhaupt arbeiteten. | |
Bis heute bestehen starke patriarchale Strukturen. | |
Der Verein wendet sich deshalb bewusst in erster Linie an Frauen und | |
Mädchen. „Wir bieten einen Safe Space für Frauen an, durch den sie [5][ihre | |
Selbstwirksamkeit erhöhen] können. Der Papierkram soll aber nicht nur an | |
ihnen hängenbleiben, deshalb nehmen wir in die Sozialberatung auch manchmal | |
Männer auf, damit die sich ebenfalls damit auseinandersetzen“, erklärt Maul | |
das Konzept. | |
„Die Voraussetzung für unsere Arbeit ist dabei immer, die Kultur und | |
Strukturen in der Community zu respektieren und den Frauen auf Augenhöhe zu | |
begegnen.“ | |
Über die Jahre hinweg hat sich in dieser Hinsicht bereits einiges | |
verändert: „Unsere Großmutter sagt uns immer wieder, dass wir unseren | |
eigenen Weg gehen und eine Ausbildung machen sollen“, sagt Jana. „Wir | |
wachsen anders auf als die Generationen vor uns.“ | |
13 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://karola-hamburg.de/ | |
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[4] /Bericht-zu-antiziganistischen-Vorfaellen/!6014544 | |
[5] /Romnja-Kuenstlerin-ueber-Frauen/!5932893 | |
## AUTOREN | |
Marta Ahmedov | |
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