# taz.de -- Schweden preppt für den Ernstfall: Stell dir vor, es ist Krieg | |
> In Schweden soll die Bevölkerung in Kursen lernen, wie man sich auf | |
> Krisen und Kriege vorbereitet. Unsere Autorin war dabei. Und baut jetzt | |
> Gemüse an. | |
Bild: Mit Ernstfall meint die Regierung: „Russland greift an“. Schwedisches… | |
Örnsköldsvik taz | Yvonne erzählt von ihrem Sommerhaus. Sie scheint mir | |
schon ganz gut gewappnet zu sein für diesen potenziellen Krieg, von dem in | |
Schweden gerade so viel die Rede ist: Solarzellen, Wasser aus dem Brunnen, | |
Kaminholz im Schuppen, Essen aus dem Gemüsebeet. Ich bin direkt ein | |
bisschen neidisch. | |
Warum sitzt sie trotzdem hier, in diesem fensterlosen Seminarraum im Keller | |
des Haus des Volkes in der Kleinstadt Örnsköldsvik? „Ich bin einfach | |
neugierig“, sagt die 65-Jährige. Jetzt, frisch berentet, hat sie Zeit | |
herauszufinden, wie gut sie wirklich auf alles vorbereitet ist. Alles, das | |
heißt in dem Fall: das Szenario, dass Russland [1][das Nato-Land angreifen] | |
könnte. | |
Draußen scheint die Sonne, drinnen leuchten die Neonröhren, Kursleiterin | |
Agneta hat Kaffee und Supermarktkekse serviert. Zum Aufwärmen sollten wir | |
mit unseren Sitznachbarn über Fragen wie diese plaudern: Wie gut ist dein | |
Vorratsschrank gefüllt? Hast du die Möglichkeit, selbst Gemüse anzubauen? | |
Agneta gehört zum Svenska Lottakåren, einer von 18 | |
Freiwilligenorganisationen, die Kurse wie diesen anbieten. Dafür bekommen | |
sie Unterstützung von der Behörde für Zivilschutz und Bereitschaft (MSB), | |
deren Regierungsauftrag es ist, die schwedische Gesellschaft krisenfester | |
zu machen. Die Menschen sollen wissen, wie sie bei Bränden, Stromausfällen | |
und Überschwemmungen reagieren müssen – und auch auf die größte | |
anzunehmende Krise, den Kriegsfall, vorbereitet sein. | |
Schweden ist mit diesem Ziel nicht allein. In Deutschland erklärte die | |
Bundesregierung zuletzt im Juli, mit welchen konkreten Maßnahmen sie die | |
Katastrophenresilienz des Landes stärken will. Und vielleicht erinnert sich | |
auch noch jemand an die Aufregung im Jahr 2016, als der damalige | |
Bundesinnenminister Thomas de Maizière das Konzept zur zivilen Verteidigung | |
vorstellte, darin die Liste für den Krisenvorrat, mit der alle Deutschen | |
bitte einmal einkaufen gehen sollten? | |
Der Regierung wurde Panikmache vorgeworfen – und ich bekam Streit mit | |
Verwandten, weil sie den Rat befolgten und ich nur darüber lachte. Ich | |
konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals einen Krisenvorrat brauchen | |
würde. So sicher fühlte ich mich. | |
Die Dinge haben sich geändert. Seit April bin ich taz-Korrespondentin in | |
Schweden. Dass ich mit diesem Job in einer Zeit anfange, in der die | |
schwedische Regierung immer wieder vor einer Gefahr durch Russland warnt, | |
hatte ich nicht auf dem Zettel meiner Erwartungen. | |
Örnsköldsvik liegt an der Ostseeküste, ziemlich weit im Norden des Landes. | |
Auf der anderen Seite des Wassers liegt Finnland, dahinter bekanntlich | |
bereits Russland. Wir sind nur zu fünft im Krisenkurs: Eva und Lisen, beide | |
um die 70, sind zusammen gekommen, sie kennen sich vom Schwimmen. | |
Ich bin mit 51 die Jüngste und habe die Älteste mitgebracht, meine | |
Nachbarin Eila, 82. „Es wird am schönen Wetter liegen, die Leute sind alle | |
draußen irgendwo. Im Winter hatte jeder Kurs über 20 Teilnehmer“, beteuert | |
Kursleiterin Agneta. Ein Tag am See schlägt Krisenwissen: So groß ist die | |
Sorge in der Bevölkerung dann wohl doch nicht. Aber die Nachfrage sei seit | |
Januar „signifikant gestiegen“, sagt Agneta. | |
„Schweden ist nicht [2][bereit für den Ernstfall]!“, so schallte es im | |
Januar von der jährlichen Sicherheitskonferenz Folk och Forsvar | |
(Bevölkerung und Verteidigung). Mit Ernstfall war das Szenario „Russland | |
greift an“ gemeint. „Der Krieg kann kommen – auch zu uns“, sagte | |
Verteidigungsminister Pål Jonson. Und: Das fehlende Tempo bei der | |
Vorbereitung auf diese Bedrohung bereite ihm schlaflose Nächte, erklärte | |
Carl-Oskar Bohlin, der Minister für Zivilverteidigung. | |
Übertreiben die da nicht ein bisschen? Das hoffte die aus ihrem Winterblues | |
aufgeschreckte Bevölkerung, und die Opposition warf den Ministern genau das | |
vor: Der Tonfall sei unnötig alarmistisch. Aber die konservative, von den | |
rechtsextremen Schwedendemokraten unterstützte Regierung lässt sich seitdem | |
nicht mehr davon abbringen, dass Schweden verteidigungsmäßig dringend auf | |
Kurs gebracht werden müsse. | |
Da fügte sich im Sommer auch das wöchentliche Ferien-Update der Regierung | |
ins Bild: Die Zivilschutzbehörde und die Regionalregierungen erhielten den | |
Auftrag, einen Evakuierungsplan zu entwickeln. Wo sind Schutzräume, und | |
wohin werden Menschen gebracht, wenn Schutzräume nicht mehr ausreichen. Wie | |
kämen sie etwa schnell und unauffällig von strategisch sensiblen | |
Küstengebieten ins sichere Hinterland? | |
Auch Eila hat ein Sommerhaus, sie bekommt Wasser aus dem Fluss, der | |
Kühlschrank ist gasbetrieben, sie hat Holz zum Heizen (und für die Sauna) | |
und Solarzellen. Eilas Sommerhaus liegt im Norden Finnlands. Dort verbringt | |
sie jedes Jahr den Sommer, „wenn die Russen bis dahin nicht einmarschiert | |
sind“. | |
Es ist nicht ganz klar, wo der Scherz endet und der Ernst anfängt. Russen | |
in Finnland, das ist Teil von Eilas Familiengeschichte. Im Jahr 1939, als | |
die Sowjetunion in ihre Heimat einmarschierte, seien ihre Geschwister | |
vorübergehend nach Schweden in Sicherheit gebracht worden, erzählt Eila | |
jetzt Yvonne und mir. | |
Agneta wirft eine Powerpointpräsentation an. Die Ziele des Tages: Wir | |
werden über das System der schwedischen Krisen- und | |
Verteidigungsbereitschaft informiert. Über unsere persönliche Verantwortung | |
in einer Krisensituation, dazu soll es noch praktische Tipps geben. Zur | |
Einleitung wird es erst mal grundsätzlich: Was ist eine Krise? | |
Es ist seltsam befriedigend, einmal durchdekliniert zu bekommen, wovon wir | |
überhaupt reden: Eine Krise bedroht demnach grundlegende Funktionen und | |
Werte der Gesellschaft, zum Beispiel die Stromversorgung, unsere | |
Gesundheit, unsere Freiheit. Von einer Krise sind sehr viele Menschen | |
betroffen, oder es ist ein Ereignis mit so großen Konsequenzen, dass die | |
Gesellschaft nicht mehr so funktioniert, wie sie soll. Agneta liest das mit | |
ruhiger Stimme vor. Es wäre sicher gut, sie in der Nähe zu haben, wenn es | |
losgeht. | |
Auf der nächsten Folie steht er auch schon, der Begriff, den ich beunruhigt | |
bestaune, seit ich ihn im Januar das erste Mal gehört habe. Totalförsvar. | |
Totalverteidigung. Es klingt martialisch. In Wirklichkeit wäre | |
„Gesamtverteidigung“ die bessere Übersetzung, wurde mir irgendwann klar. So | |
heißt es in Deutschland, wenn es um die Gesamtheit der militärischen und | |
zivilen Verteidigungsbereitschaft geht. Und schon klingt es etwas | |
sachlicher. | |
Nur: Wenn ich mich entscheide, dauerhaft nach Schweden zu ziehen, würde | |
auch für mich die „Totalsförsvarsplikt“ gelten. An der Wand im Kursraum i… | |
zu lesen: „Die Totalverteidigungspflicht gilt für alle, die in Schweden | |
wohnen und 16 bis 70 Jahre alt sind.“ Ich habe davon gelesen, ich habe | |
Satirevideos dazu gesehen, und ich habe mich beunruhigt gefragt, was genau | |
diese Totalverteidigungspflicht für mich heißen würde. | |
Im Frühling habe ich mich einmal beim Blick aus dem Fenster erschreckt: Da | |
waren plötzlich Kriegsschiffe auf dem Wasser. Zum ersten Mal in meinem | |
Leben sah ich solches Kriegsgerät live und in Tarnfarbe. Was für ein | |
beunruhigender Anblick – obwohl er mich natürlich beruhigen sollte. Es | |
waren schwedische Schiffe, aber das wusste ich in dem Moment noch nicht. | |
Ich fuhr mit dem Auto los, um an Land ihren Weg zu verfolgen, und traf an | |
einem Aussichtspunkt auf einen Mann, der eindeutig zum Militär gehörte. | |
Dessen Auftrag war es, so stellte sich heraus, PR-Fotos zu machen von | |
diesem Manöver vor der naturschönen Kulisse. | |
Was ich sah, war es eine Premiere für das Stockholmer Amphibienregiment: So | |
weit im Norden hatten sie bisher nicht geübt. Ihre Aufgabe: die | |
Verteidigung von Küstengebieten und Flussdeltas. Seit Oktober 2023 ist das | |
Regiment für die ganze Ostküste Schwedens zuständig, es hat die | |
Verantwortung für den Militärhafen von Härnösand übernommen – eine | |
strategische Folge des Nato-Beitritts des Landes. | |
Das passt ins Gesamtbild des großen militärischen Gewusels in diesem Jahr: | |
der historische Nato-Beitritt und die Debatten über dessen Folgen. Das | |
[3][Defence Cooperation Agreement, das US-Militär Zugang zu schwedischen | |
Stützpunkten garantiert]. Und nicht zuletzt die Frage, wie man genug junge | |
Leute dazu bringt, ihren Militärdienst zu leisten. | |
Am elegantesten wäre es natürlich, wenn niemand tatsächlich merkt, dass man | |
in Schweden inzwischen wieder dazu verpflichtet werden kann. Aber weil die | |
Zahl der Militärinteressierten eventuell zu gering ist, musste die | |
zuständige Behörde dieses Jahr auch schon einmal klarstellen, was | |
Wehrpflicht genau bedeutet. | |
Ich bin in den 80er-Jahren in Deutschland aufgewachsen. „Stell dir vor, es | |
ist Krieg und keiner geht hin“: das war lange meine einzig denkbare Antwort | |
zum Thema. Es war eine Friedensutopie, aber mir erschien sie nur logisch. | |
Und einen weniger utopischen Ansatz hätte ich nicht ertragen in meiner | |
jugendlichen Verzweiflung über das von Deutschland ausgegangene Elend der | |
beiden Weltkriege. | |
## 200 Jahre Frieden | |
In Schweden bin ich umgeben von Menschen, die ohne historisch bedingte | |
Schuldgefühle aufwuchsen. Stattdessen waren sie mit dem sicheren Gefühl | |
ausgestattet, dass ihr Land [4][sich aus allem raushält] und deshalb auch | |
seit über 200 Jahren keinen Krieg mehr geführt hat. | |
Für beide Selbstverständnisse ist die sich verändernde Weltlage unangenehm | |
kompliziert, wie auch die Teilnehmerinnen des Überlebenskurses wissen. | |
Natürlich gebe es Leute, die lachen, wenn man von seinem Interesse am „Sköt | |
dig själv“-Lehrgang berichtet, erzählt Teilnehmerin Lisen. Der Name des | |
Kurses könnte wiederum auch direkt die Antwort auf das Gelächter sein, denn | |
„Sköt dig själv“ bedeutet eigentlich so viel wie „Kümmer dich um deinen | |
eigenen Kram“. | |
Was in dem Fall mit dem Kurstitel gemeint ist: Wenn jeder an sich selbst | |
denkt, ist an alle gedacht. Dann kann der Staat also im Krisenfall erst mal | |
ans große Ganze denken, denn er weiß, dass seine Bewohner weder erfroren | |
noch verhungert sind, bis die Regierung auf Krisenmodus umgestellt hat. So | |
jedenfalls lautet die Theorie. | |
In der Praxis machen natürlich auch hier in Schweden die meisten Menschen | |
einfach so weiter wie bisher. Dass die Themen Krise und Krieg | |
gesellschaftlich diskutiert werden, zeigt sich auf Social Media an | |
Satire-Videos über Prepper und die Totalverteidigungspflicht. Oder bei | |
einer traditionellen Sommerreihe im Radio, bei der täglich ausgewählte | |
Menschen eine Stunde lang erzählen, was ihnen wichtig ist. | |
Dieses Jahr gehörte Schauspieler Hampus Nessvold dazu. Sein Thema: „Wenn | |
der Krieg kommt, ruft bitte nicht mich an.“ Alles, was er anbieten könne, | |
wäre, in den Pausen an einem Kiosk Blaubeersuppe zu verkaufen. „Aber, ich | |
weiß nicht, gibt es eigentlich Pausen im Krieg?“ | |
So klingt es, wenn man sich das alles, einen Krieg, nicht wirklich | |
vorstellen kann. Zugleich wurde bei aller öffentlichen Scherzerei dieses | |
Jahr die Broschüre „Wenn Krise oder Krieg kommen“ häufiger als sonst von | |
der Seite der Zivilschutzbehörde heruntergeladen. | |
Wir sitzen derweil im Keller in Örnsköldsvik und lernen: „Die zivile | |
Verteidigung ist die Tätigkeit verantwortlicher Akteure mit dem Ziel, der | |
Gesellschaft den Umgang mit Situationen zu ermöglichen, in denen die | |
Bereitschaft erhöht wird“. Okay. Die Erklärung zu dieser etwas sperrigen | |
Definition von ziviler Selbstverteidigung folgt auf dem nächsten Bild: Es | |
gibt, so ist dort zu lesen, die verschärfte Bereitschaft. Und dann gibt es | |
noch die höchste Bereitschaft, und wenn Letztere ausgerufen wird, möchte | |
man eigentlich schon in Sicherheit sein, denn das bedeutet Krieg, oder | |
mindestens: unmittelbare Kriegsgefahr. | |
In meinem alten Traum von einem eigenen Haus in Bullerbü-Country, also | |
einem sicheren Ort mit Realitätsverweigerungs-potenzial, kam natürlich | |
keine unmittelbare Kriegsgefahr vor. So. Was sind jetzt also an dieser | |
Stelle meine zivilen Pflichten? Der Kurs ist offenbar so aufgebaut, dass er | |
das Wort Krieg nur im Notfall einsetzt und dafür lieber mehr von Krise | |
spricht: Waldbrände, Überschwemmung, Klimakrise. Alles kann zu | |
Stromausfällen und anderen Problemen führen, die ähnliche Maßnahmen | |
erfordern. Fokussieren wir uns also, sagt Kursleiterin Agneta, konkret auf | |
die Maßnahmen. | |
Unsere Verantwortung, Agneta liest sie vor: Uns und unsere Nächsten vor | |
Unglücken und größeren Ereignissen im Alltag und in einer Krise zu | |
beschützen. Ich schreibe in Stichpunkten mit: WASSER – ESSEN – WÄRME – | |
KOMMUNIKATION. | |
Informationen zur Lage, erfahre ich, bekomme ich für meine Region im | |
Lokalsender P4 des Schwedischen Radios, im Fernsehen, auf | |
krisinformation.se und auf deren Social-Media-Kanälen und Apps. Logisch. | |
Und Obacht: Wenn ich gerade nicht am Bildschirm hänge, aber draußen einen | |
ungewöhnlich lauten Ton höre, dann soll ich sofort die Zeit stoppen: Sind | |
es jeweils 7 Sekunden, mit 14 Sekunden Pause dazwischen? Dann ab ins Haus, | |
alles zumachen, und P4 checken. | |
Der schwedische Zivilschutz gibt den Kursteilnehmern auch das Mittagessen | |
aus. Grillbüfett im Restaurant um die Ecke, wir sitzen zusammen und | |
erzählen uns was. Krisenstimmung ist keine zu spüren, im Gegenteil. Lisens | |
Tochter arbeitet bei der Kommunalverwaltung in der Krisenbereitschaft, | |
erfahren wir, sie freut sich, dass ihre Mutter den Kurs mitmacht. | |
Dann geht es „um früher“, wie einfach man gelebt habe, wie wenig man gehabt | |
habe, und wer in der Runde von Selbstversorgerfamilien abstammt. Ein | |
bisschen Nostalgie macht sich breit: Könnte man doch zurück zum einfachen | |
Leben, weniger abhängig sein von der globalisierten Wirtschaft und allem | |
unnötigen Technikluxus. | |
Wie wohl Menschen unter 50 auf diese Gespräche reagieren würden? In dieser | |
Runde ist niemand aus dieser Altersgruppe dabei. Ist die Krisenvorbereitung | |
ein Hobby für Rentner? | |
Nach der Pause gibt es Gruppenarbeit. Das Szenario, für das wir einen | |
Notfallplan entwerfen sollen: Eine Familie mit Pferden und Schafen wohnt in | |
einem Waldgebiet mit herrlichen Flächen für die Tiere und für die Kinder. | |
Doch ein großer Waldbrand nähert sich. Die Familie erhält laufend Updates | |
übers Radio und über Social Media – bis das Schlimmste eintritt: Das Feuer | |
kommt zu nah, sie müssen den Hof räumen. Die Frage, die wir in der | |
Gruppenarbeit beantworten sollen: Was sollte die Familie bis jetzt | |
unternommen haben? Und: Was nimmt sie mit, wenn sie den Hof räumen muss? | |
Yvonne und Eila haben viele Nachfragen: Wie alt sind die Kinder, wie viele | |
Pferde sind es, hat die Familie Tiertransporter zur Verfügung? Wie viel | |
Zeit haben sie genau? Zu kompliziert gedacht, hören wir von der | |
Kursleiterin. | |
Agneta klärt auf, was gemeint war: Die Tiere müssen schon längst in | |
Sicherheit gebracht worden sein, vielleicht auf eine Weide von Bekannten. | |
Die Feuerwehr könnte das Haus von außen mit Wasser besprühen. Die Kinder | |
sollten darauf vorbereitet sein, dass sie eventuell ihr Zuhause verlassen | |
müssen. Vielleicht haben sie schon mal ihre Stofftiere eingepackt. Eine | |
Tasche mit den wichtigsten Dingen für jeden. Dokumente und Wertgegenstände | |
nicht vergessen. | |
Eigentlich ist das alles nicht überraschend. Es aber gedanklich einmal | |
durchzuspielen hat einen ähnlichen Effekt wie die Definition von „Krise“ | |
ganz zu Beginn des Tages. Es ist beruhigend, als hätte man einmal etwas | |
sehr Grundsätzliches geklärt. | |
Aber was ist jetzt mit meiner Totalverteidigungspflicht? Was muss ich tun, | |
wenn tatsächlich ein Krieg kommen sollte? Keine Sorge, meint Agneta: | |
Nichts, was du nicht könntest. Die schwedische Arbeitsvermittlung hätte | |
dann den Auftrag, Kenntnisse von Privatpersonen und den öffentlichen Bedarf | |
an diesen Kenntnissen zu koordinieren. Agnetas Beispiel: Wenn ich ein Auto | |
habe, könnte man mich bei der Evakuierung von Orten einteilen. Ich sehe | |
mich plötzlich fliehen mit Fremden im Auto, die Geräusche der Artillerie | |
hinter uns lassend. Eine seltsam konkrete Vorstellung. | |
Zum Abschluss des „Kümmer dich um deinen eigenen Kram“-Kurses verteilt | |
Agneta wieder Kaffee, dazu Obst und einen Feedback-Zettel. Ich schreibe wie | |
immer viel und sage doch vor allem eins: Dass ich es gut fand. Anregend, | |
lehrreich. | |
## Dreimal Gurke, einmal Tomate | |
Was folgt daraus? Praktisch erst mal nur wenig. An meinem Kühlschrank hängt | |
seitdem der Magnet mit den wichtigsten schwedischen Notfallnummern, und auf | |
der Terrasse stehen vier neue Pflanzen. Dreimal Gurke, einmal Tomate. Einen | |
Monat nach dem Tag in Örnsköldsvik konnte ich die erste von insgesamt vier | |
Gurken ernten. Dass die 14 kleinen Tomaten ihre Farbe von Grün zu Rot | |
ändern, darauf musste ich noch länger warten. | |
Ich werde also wohl nicht zur Selbstversorgerin, nicht auf diesem | |
Minigrundstück. Aber wie niedlich eine Babygurke aussieht, wenn sie anfängt | |
zu wachsen – das weiß ich erst jetzt. Mir reicht vorerst die für mich neue | |
Erfahrung, dass das Essen vor meinen Augen entstehen könnte. Also | |
theoretisch. Vielleicht frag ich die Nachbarn, ob sie ein Gemüsebeet | |
vermieten. Beeren gibt es in Hülle und Fülle, ich koche viel Marmelade. | |
Pilze sammeln muss ich noch üben. | |
Es beruhigt mich, dass es von hier aus nicht weit ist bis zum Fluss und zum | |
See. Anders als in Berlin wüsste ich, wohin ich ginge, wenn nichts mehr aus | |
dem Wasserhahn käme. Und weil ich diese Stunden mit Agneta und den anderen | |
Frauen verbracht habe, weiß ich auch, dass ich das draußen geholte Wasser | |
möglichst durch Kaffeefilter (ich notiere mir: Kaffeefiltervorrat anlegen!) | |
schütten und dann ohne Deckel einige Minuten kochen soll, bevor ich es | |
trinke. | |
Es beruhigt mich auch, dass ich einen Kamin habe. Wenn die Vorbesitzer ihn | |
auch im Untergeschoss, ihrem Hobbyraum, haben installieren lassen. Dann | |
wäre das eben bei einem winterlichen Stromausfall das eine warmzuhaltende | |
Zimmer. Der Birkenholzvorrat im Schuppen müsste für ein paar Tage reichen. | |
Anzünder, Streichhölzer und Kerzen hatte ich schon. Eine Stirnlampe mit | |
Batterievorrat ist ebenfalls im Haus – auch in Friedenszeiten ist es im | |
Winter sehr dunkel vor der Tür. | |
Ich hätte vieles von dem, was ich im Kurs gehört habe, auch online | |
rausfinden können. Aber einen ganzen Tag mit Gedankenspielen und Fokus auf | |
das Thema verbracht zu haben, es einmal von allen Seiten zu bedenken, das | |
fühlt sich richtig an. Als würde es einen verlässlicheren Platz in meinem | |
Gehirn bekommen. Und als wäre ich nicht allein damit. | |
Es ist viel Zeit vergangen, seit ich in Deutschland über die | |
Vorratseinkäufe der Verwandtschaft gelacht habe. „Stell dir vor, es ist | |
Krieg und keiner geht hin“: Mit der Utopie im Kopf alle „Was wäre | |
wenn“-Gedanken konsequent wegzuschieben, das muss nicht mehr sein. Dass | |
meine Vorratshaltung weiterhin sehr ausbaufähig ist und ich es trotz allem | |
für unvorstellbar halte, jemals persönlich von einem Krieg betroffen zu | |
sein, nehme ich mir aber nicht übel. Ich würde es schon kapieren, wenn es | |
so weit käme. Und dann würde sich zeigen, ob ich etwas zur Krisenfestigkeit | |
der Gesellschaft beizutragen habe. | |
6 Sep 2024 | |
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Anne Diekhoff | |
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