# taz.de -- Personelle Aufrüstung in Schweden: Den Ernstfall vor Augen | |
> In Schweden wird darüber diskutiert, dass das Land auf einen Kriegsfall | |
> vorbereitet sein müsse. Der Nato-Beitritt steht bevor. | |
Bild: Schwedische Soldaten bei einer gemeinsamen Übung mit US-Soldaten im Sept… | |
BERLIN taz | Die Nato-Türsteher haben endlich nachgegeben – Schwedens | |
langes Warten auf Einlass wird bald Geschichte sein. [1][Die Zustimmung der | |
Türkei ist seit Donnerstagabend amtlich] – „ein entscheidender | |
Meilenstein“, twitterte Ministerpräsident Ulf Kristersson. | |
Und Victor Orbàn hatte angesichts der türkischen Vorwärtsbewegung ja | |
ebenfalls in dieser Woche mitgeteilt, dass auch Ungarn bald so weit sein | |
werde. Das Timing passt, nach mehr als anderthalb Jahren des Hinhaltens, | |
nun seltsam gut: In Schweden war der Januar 2024 geprägt von emotional | |
geführten Debatten über Kriegsgefahr, Verteidigungsbereitschaft und die | |
Notwendigkeit von batteriebetriebenen Radios. | |
Den Anfang hatte zum Jahreswechsel schon die Frage um steigende | |
Wehrpflicht-Quoten gemacht – was passiert, wenn nicht so viele junge Leute | |
zur Armee wollen, wie die Pläne es vorsehen? Kaum hatte man sich noch | |
einmal das Konzept Wehrpflicht vergegenwärtigt, schreckten ein paar Reden | |
auf der jährlichen Sicherheitskonferenz „Folk och Försvar“ die Schweden | |
auf. Es klang am ersten Januarwochenende plötzlich so, als rechne die | |
Regierung quasi jederzeit mit einem Angriff aus Russland. | |
„Ein bewaffneter Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlossen werden. Der | |
Krieg kann kommen – auch zu uns“, sagte Verteidigungsminister Pål Jonson | |
(„Die Moderaten“). Mit der drohenden Gefahr durch Russland erklärte er | |
nicht nur die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine, sondern auch die | |
Absicht, Schweden verteidigungsfähiger zu machen. | |
## Geografisch vage | |
Bis hierher kennt man es so ähnlich aus Deutschland – erst im Oktober hatte | |
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit dieser Art Aussage | |
aufhorchen lassen, allerdings beließ er es geografisch vager bei „Europa“. | |
Und in Schweden war das auch noch längst nicht alles. Der Minister für | |
Zivilverteidigung, Carl-Oskar Bohlin (ebenfalls „Die Moderaten“) machte aus | |
der politischen Weltlage im Handumdrehen ein persönliches Problem für | |
jeden: „Wer bist du, wenn der Krieg kommt?“ – diese Frage müssten alle | |
Menschen in Schweden für sich beantworten können, forderte er. | |
Das Bewusstsein dafür, wie ernst die Situation sei, müsse bei jedem | |
einzelnen wachsen, und daraus müssten praktische Konsequenzen entstehen, so | |
Bohlin weiter: Kommunen müssten sicherstellen, dass eine Notfallversorgung | |
im Krieg funktionieren würde, Angestellte sollten ihre Arbeitgeber fragen, | |
wo sie im Kriegsfall gebraucht würden, Privatpersonen sollen sich fragen, | |
wo sie am nützlichsten sein könnten. Noch sei Zeit dafür, meinte Bohlin – | |
doch dass die Vorbereitung auf den Ernstfall nicht schnell genug gehen | |
könnte, sei eine Sorge, die ihn nachts wach halte. | |
Er wurde für seinen alarmistischen Ton kritisiert, unter anderem vom | |
früheren sozialdemokratischen Justiz- und Innenminister Morgan Johansson. | |
Der sagte im schwedischen Fernsehsender SVT, diese Art Tonfall spare man | |
sich üblicherweise für Situationen auf, in denen ein Krieg direkt vor der | |
Tür stehe. Bohlin reagierte leicht beschwichtigend: Er habe nicht gemeint, | |
die Schweden sollten nachts vor Sorge wachliegen, sondern sich der | |
Ernsthaftigkeit der Lage bewusst werden. | |
## Auf alles vorbereitet | |
Schwedens Oberbefehlshaber Micael Bydén legte dann allerdings nochmal nach: | |
Er forderte ebenfalls bei SVT, die ganze schwedische Gesellschaft müsse auf | |
alles vorbereitet sein. Die kritische Infrastruktur müsste im Kriegsfall am | |
Laufen gehalten werden, und wer nicht direkt im Krieg eingesetzt werde, | |
müsse auch als Zivilist etwas beitragen. | |
Danach wurde in Schweden heiß diskutiert, wie dramatisch die Lage | |
tatsächlich und wie mit der Aufregung umzugehen sei. Infrage gestellt wurde | |
die Notwendigkeit der Warnungen nicht nur von Politikern: Der Kommentator | |
der liberalen schwedischen Zeitung Dagens Nyheter meinte, er höre aus den | |
Aussagen des Oberbefehlshabers eine heimliche Sehnsucht heraus, endlich die | |
Kriegstauglichkeit der eigenen Armee ausprobieren zu können. | |
Möglicherweise unerwartet kam eine ähnliche These dann aus Russland, wo der | |
Parlamentarier Alexej Puschkow auf Telegramm Schwedens „Paranoia“ in Bezug | |
auf Russland verhöhnte und die Vermutung anstellte, dass das schwedische | |
Militär und einige Journalisten „fast vom Krieg träumten.“ | |
Doch nun waren die Warnungen in der Welt, begleitet von Nachrichten wie | |
etwa der, dass Minister Bohlin die Zivilschutzbehörde MSB beauftragt habe, | |
einen Plan zur Unterstützung ziviler Behörden zu entwickeln, die sich auf | |
Kriegsorganisation umstellen müssen. | |
## Landesverteidigung als Pflicht | |
Auch soll die sogenannte Zivilpflicht wieder eingeführt werden. Seit 2008 | |
war für diesen Teil der Verteidigungsbereitschaft niemand mehr ausgebildet | |
worden. Zu Beginn soll der Rettungsdienst gestärkt werden. | |
Hier sollen zunächst Menschen ausfindig gemacht werden, die eine Ausbildung | |
beim Rettungsdienst gemacht haben, aber nicht mehr in dem Bereich arbeiten, | |
wie es die Generaldirektorin der Nationalen Rekrutierungsbehörde Plikt- och | |
Prövningsverket, Christina Malm, sagte. In Schweden gilt: Alle von 16 bis | |
70 Jahren können im Kriegsfall zur Teilnahme an der Landesverteidigung | |
verpflichtet werden – ob direkt in der Armee oder an ihrem Wohnort. | |
Dass künftig wieder mehr junge Menschen zur militärischen Grundausbildung | |
eingezogen werden sollen, um die Verteidigungsfähigkeit der Armee zu | |
erhöhen, wurde schon vor vier Jahren beschlossen, kurz nach | |
Wiedereinführung der Wehrpflicht. | |
Noch sind es nur 5000 bis 6000 pro Jahr, die Zahl soll fünfstellig werden. | |
Zur Frage, was passiere, wenn man nicht genügend militär-begeisterte junge | |
Leute finde, zeigte sich Christina Malm ungerührt: Man könne nicht mehr nur | |
nach der Motivation und dem Interesse einzelner Menschen gehen, sagte sie | |
der Nachrichtenagentur TT. Das Militär habe Vorrang vor persönlichen | |
Interessen. Sie erinnerte nochmal an das Prinzip Wehrpflicht: „Man soll | |
nicht glauben, dass das freiwillig ist. So ist es nicht“. | |
## Seit zig Generationen | |
Die Besonderheit: Schweden hält den Weltrekord in der historischen | |
Disziplin „Zeit, die seit der letzten kriegerischen Auseinandersetzung | |
vergangen ist“. Die Gewissheit, dass Krieg Schweden höchstens indirekt | |
betrifft, gehört quasi seit zig Generationen zur Kultur. Umso schwerer | |
wiegen die jüngsten Warnungen: Kann es wirklich sein, dass Krieg droht, zum | |
ersten Mal seit 1814? | |
Die Entscheidung, nach dem Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine | |
im Februar 2022 die lang gehegte und geliebte Neutralität aufzugeben und | |
sich auch offiziell dem Westen, also der Nato anzuschließen, hat gezeigt, | |
dass die Zeiten sich geändert haben. | |
Der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist | |
erklärte seine Abkehr von einem traditionellen Nein zu Schweden in der Nato | |
damit, es gebe eben eine Zeit vor und eine Zeit nach dem 24. Februar. | |
Noch während Schweden auf das Ende der Beitritts-Blockaden durch die Türkei | |
und Ungarn wartete, wurde schon mit den USA bilateral über eine engere | |
militärische Verbindung verhandelt – inzwischen unter der | |
bürgerlich-konservativen Regierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson | |
(„Die Moderaten“). | |
## Abkommen mit den USA | |
Das Abkommen, der Defence Cooperation Agreement (DCA), regelt für den | |
Krisenfall den Zugang zu 17 militärischen Einrichtungen in Schweden für die | |
US-Armee. Nicht als dauerhafte Stützpunkte, aber Operationen von dort aus | |
sollen für die USA im Krisenfall vereinfacht werden. Ein solches Abkommen | |
haben auch Finnland, Norwegen und Dänemark mit den USA geschlossen. | |
Dass die Menschen in Schweden den Ukraine-Krieg und seine internationalen | |
Implikationen vielleicht nicht mehr richtig auf dem Schirm hatten und die | |
Regierung sie nur einmal daran erinnern wollte, galt im Januar als | |
wahrscheinliche Erklärung für die warnenden Töne des Kabinetts und | |
Militärs. | |
Da hatte aber längst eine Rekordzahl von Schweden die Broschüre „Wenn die | |
Krise oder der Krieg kommt“ von der Website der Zivilschutzbehörde | |
heruntergeladen. Im Radio erklärten Experten, was der Unterschied zwischen | |
Vorrat anlegen und Hamstern sei. | |
Lokalzeitungen hakten vor Ort nach: Ist es nicht falsch, dass in diesem | |
militärisch genutzten Gebäude auch Büros an den örtlichen ambulanten | |
Pflegedienst vermietet werden? Sind militärische Gebäude nicht legitime | |
Angriffsziele? In den sozialen Medien kursierten zugleich satirische Videos | |
über übertriebenes Preppen. | |
## Mehr Sicherheit, mehr Verantwortung | |
Jetzt, nachdem auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg davon ausgeht, | |
dass Ungarns Parlament bei seiner nächsten planmäßigen Sitzung im Februar | |
als letztes Nato-Mitglied Schwedens Beitritt ratifiziert, widmen sich | |
Medien in Schweden der Frage, was der Beitritt bedeuten werde. | |
Die zusammen gefasste Botschaft des Senders SVT lautet: Mehr Sicherheit, | |
aber auch mehr Verantwortung. Es dürfte etwas Zeit brauchen, bis die Nato | |
die neuen Mitglieder Finnland und Schweden in ihre Verteidigungsstrategie | |
integriert haben werde. Aber ans Warten ist zumindest Schweden ja | |
inzwischen gewöhnt. | |
26 Jan 2024 | |
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[1] /NATO-Beitritt-Schwedens/!5985235 | |
## AUTOREN | |
Anne Diekhoff | |
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