# taz.de -- Klimawandel und Tourismus: Die Alpen verlieren ihren Kitt | |
> Extremwetter, Gletscherschwund, schmelzender Permafrost – Europas | |
> Zentralgebirge erwärmt sich enorm. Das macht auch das Bergsteigen immer | |
> unsicherer. | |
Bild: In 30 Jahren könnten die Alpen schon eisfrei sein | |
Zugspitze |taz | Es ist der höchste Schacht in Deutschland: Vor fast | |
einhundert Jahren errichtet, fuhren hier auf etwa 2.800 Höhenmetern einst | |
Skifahrer von der österreichischen Zugspitzbahn unter einem Felssattel | |
hindurch auf die deutsche Seite. Knapp 800 Meter ist die Röhre lang, an | |
ihrem Eingang warnt heute ein Schild: „Stollen wegen Frostschäden teilweise | |
schlecht begehbar.“ Aber der Schacht wird ohnehin nur noch zu | |
Forschungszwecken betreten: Wissenschaftler der Technischen Universität | |
(TU) München untersuchen hier den Permafrost. | |
Wenn die Erde wegen Temperaturen, die nicht über null Grad steigen, niemals | |
auftaut, spricht man von Permafrost. Auf rund 23 Millionen | |
Quadratkilometern, vor allem in Alaska, Nordkanada und Sibirien, aber auch | |
in den Hochgebirgen gibt es ihn. „Alle Spalten und Risse in diesem Tunnel | |
sind mit gefrorenem Wasser gefüllt“, erklärt Michael Krautblatter, | |
Geologieprofessor an der TU München. „Wie Kitt hält dieser Permafrost den | |
Berg zusammen.“ Eiszapfen sieht man im Stollen nirgends, denn die bilden | |
sich ja aus gefrorenem Schmelzwasser. Noch aber ist hier nichts | |
geschmolzen, das Wasser sieht aus wie eingelagertes Eis im Massiv der | |
Zugspitze. | |
Allerdings zeigen die Messungen, dass auch dieses Eis immer wärmer wird. Im | |
Jahr 2007 registrierten die Forscher im Kammstollen an der Zugspitze noch | |
maximal minus 1,2 Grad Celsius, mittlerweile sind es nur noch maximal minus | |
0,7 Grad. „Wir nähern uns dem kritischen Punkt“, sagt Krautblatter. „In … | |
spätestens 20 Jahren wird man hier voraussichtlich keinen Permafrost mehr | |
besichtigen können.“ Das kann die Gebäude auf Deutschlands höchstem Berg | |
gefährden: Wenn die dauergefrorenen, mit Wasser gefüllten Hohlräume | |
auftauen, kann der Unterboden in Bewegung geraten, was schnell die Statik | |
gefährdet. Risse wären die Folge, schlimmstenfalls die Zerstörung ganzer | |
Häuser. | |
Bauwerke gibt es viele an der Zugspitze, heutzutage ist der Vorgipfel | |
vollends zugebaut: An die Seilbahnstation auf der österreichischen Seite | |
schließt sich das Panoramarestaurant an, dann folgt das alte Grenzhäusel | |
zwischen Österreich und Deutschland und die höchste meteorologische Station | |
Deutschlands. Danach thront das Münchner Haus, [1][die 1897 eingeweihte | |
Wanderhütte des Deutschen Alpenvereins], bevor sich ein Kolossalbau der | |
deutschen Seilbahnstation anschließt: Restaurants, ein Museum, modernste | |
sanitäre Anlagen gibt es hier. Bis zum etwas höher gelegenen goldenen | |
Gipfelkreuz der Zugspitze sollte man allerdings schon „bergfest“ | |
ausgerüstet sein: Auf die Höhe von 2.962 Metern geht es über einen | |
Klettersteig, der bei schlechtem Wetter herausfordernd sein kann. | |
## Gletscher schmelzen immer schneller | |
Markant in diesem Gesamtensemble ist der Turm der meteorologischen Station: | |
Hier und im 300 Meter tiefer gelegenen Schneefernerhaus forscht der | |
Atmosphärenphysiker Ralf Sussmann. „Wir untersuchen etwa die Konzentration | |
von Methan in der Erdhülle“, sagt er. „Bis Mitte der 2000er Jahre war die | |
relativ stabil.“ Methan ist 28-mal so treibhausintensiv wie Kohlendioxid, | |
„in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre stiegen die Messdaten plötzlich | |
sehr stark an“, sagt Sussmann. Das hänge vor allem mit dem Run auf | |
Frackinggas in den USA zusammen. Methan tritt bei der Förderung als | |
Förderverlust aus und wird von dort binnen zwei Wochen von Winden zu uns | |
transportiert. | |
Frackingerdgas: Das ist das, was die Bundesregierung gerade in großem Maße | |
als Lösung für den Erdgasstopp aus Russland auserkoren hat, angeliefert in | |
Flüssiggastankern in regierungseigenen Häfen an Nord- und Ostsee. | |
Atmosphärenphysiker Sussmann sagt: „Derzeit hält die Menschheit durch ihre | |
Treibhausfracht zusätzlich so viel Energie pro Sekunde auf der Erde wie 14 | |
Atombomben der Hiroshimagröße verursacht haben.“ Logisch, dass dies nicht | |
ohne Folgen bleibt, auch nicht für die Alpen. | |
Wenige hundert Meter unter Sussmanns Forschungshaus liegt der Schneeferner, | |
Deutschlands größter Gletscher. Als kurz die Sonne durchbricht, sind große | |
Schneehaufen zu sehen, die von Pistenraupen aufgetürmt wurden. Sie sollen | |
dafür sorgen, dass die Sonnenenergie gar nicht erst bis zum gefrorenen | |
Wasser vordringen kann. „Gletscherpflaster“ nennt die Wissenschaft solche | |
Vorkehrungen. Eine andere Variante: riesige weiße Lastwagenplanen werden | |
über das Eis gelegt, um es vor der Sonne zu schützen. | |
„Mit dieser Technologie sind wir am Ende“, sagt die österreichische | |
Glaziologin Andrea Fischer. Der Klimawandel reiße Wunden in die Berge, die | |
mit Pflastern nicht mehr zu lindern seien. „Das Tempo der Gletscherschmelze | |
hat enorm zugenommen, wir stehen unmittelbar vor dem Kipppunkt“, sagt | |
Fischer. Zuletzt seien binnen zweier Jahre 10 Prozent der Eismasse | |
geschmolzen, „die Alpenregion erwärmt sich doppelt so schnell wie im | |
globalen Durchschnitt“. Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Studien, die | |
belegen, dass die Alpen in etwa 30 Jahren größtenteils eisfrei sein werden. | |
## Die Alpen werden unberechenbar | |
Das lässt sich auch auf Deutschlands höchstem Berg beobachten: Im Jahr 2018 | |
betrug die Eisdicke am Schneeferner an der tiefsten Stelle noch etwa 10 | |
Meter. Heute sind es keine 6 Meter mehr. Früher war der Schneeferner so | |
groß wie 500 Fußballfelder, aber der Klimawandel hat diesen Eispanzer in | |
kleine Einzelteile schrumpfen lassen. Weil zu wenig Eis übrig war, erkannte | |
die Bayrische Akademie der Wissenschaften dem Südlichen Schneeferner 2022 | |
den Gletscherstatus ab. Übrig geblieben ist der nördliche Teil, elf | |
Fußballfelder groß und mit diesen „Pflastern“ versehen. „Spätestens 20… | |
wird die Zugspitze eisfrei sein“, sagt Glaziologin Fischer. Auch eisfreie | |
Ostalpen seien nicht mehr allzu fern. | |
Es klingt lapidar: „eisfrei“. [2][Bereits heute führt der fehlende Frost zu | |
neuen Gefahren.] „Am Montblanc-Massiv gibt es in Höhen um 3.000 Meter | |
bereits Hunderte Felsstürze“, sagt Geologieprofessor Krautblatter. | |
Mittlerweile verändere sich die hochalpine Landschaft so massiv, dass | |
Bergführer bei gewissen Routen nicht mehr sicher sagen könnten, ob sie | |
gefahrlos sind. Krautblatter: „Der Kitt der Berge löst sich auf, und das | |
macht es so unberechenbar.“ Im Aletsch-Gebiet zum Beispiel sind bereits | |
Wanderwege verlegt worden, weil Fels plötzlich instabil ist. | |
## Todesfälle häufen sich | |
Tatsächlich häufen sich die Todesfälle unter den Bergsteigern. | |
Herabstürzendes Gletschereis tötete in dieser Woche zwei Alpinisten am Mont | |
Blanc in 4.100 Meter Höhe, Ende Juli begrub ein herabstürzender Felsen bei | |
Oberstdorf einen Wanderer. Im Jahr 2022 sorgten sehr hohe Temperaturen | |
dafür, dass am Berg Marmolata ein Eisblock vom Gletscher abriss und elf | |
Bergsteiger in den Tod riss. 2023 sind mindestens 100.000 Kubikmeter | |
Gestein vom Südgipfel des Fluchthorn-Massivs bei Galtür ins Tal gestürzt, | |
was so viel ist, wie etwa 12.000 Lkw transportieren können. Wie durch ein | |
Wunder kam niemand zu Schaden. | |
„Wir Bergsteiger spüren im Hochgebirge eine Zunahme der alpinen Gefahren in | |
Form von Steinschlag oder Felsstürzen“, sagt Tobias Hipp vom Deutschen | |
Alpenverein DAV. „Wenn ich heute noch Bergsport betreibe wie vor zehn, 15 | |
Jahren, begebe ich mich in potenziell tödliche Situationen. Die | |
Großglockner-Nordwand würde ich heute wahrscheinlich nicht mehr machen“. | |
Der Steinschlag sei wegen des tauenden Permafrostes derart unberechenbar | |
geworden, dass kein Bergsteiger mehr das Risiko eingehen sollte. „Wo | |
Gletscher abschmelzen, bleibt instabiles Moränengelände zurück“, sagt Hipp, | |
angrenzende Flanken und Wände können durch den fehlenden Gegendruck des | |
Gletschers kollabieren. | |
Kurzfristiger führe die Gletscherschmelze zusammen mit der geringeren | |
Schneebedeckung häufig zu einer erhöhten Spaltensturzgefahr. Der | |
DAV-Experte prognostiziert: „Hochtouren, wie wir sie bisher kannten, | |
sterben aus.“ | |
## Der Hochvogel droht auseinanderzubrechen | |
Doch auch weiter unten steigen die Gefahren. „Es ist nicht die Frage ob, | |
die Frage ist: Wann wird der Hochvogel auseinanderbrechen“, sagt Forscher | |
Michael Krautblatter. Mit 2.592 Höhenmetern ist er einer der markantesten | |
Gipfel der Allgäuer Alpen. Zumindest noch, der Hochvogel droht | |
auseinanderzubrechen, bis zu 260.000 Kubikmeter Fels könnten ins Tal | |
stürzen. „Von dem Hauptriss, der 3 bis 10 Zentimeter im Jahr aufgeht und | |
schon 10 Meter tief ist, gehen inzwischen mehrere Seitenrisse ab“, erklärt | |
der Geologieprofessor. Zunehmende Extremwetter vergrößern das Risiko. „Nach | |
jedem Starkniederschlag verstärkt sich die Felsbewegung zwei, drei Tage | |
lang“, so Krautblatter. | |
Vermutlich würde der Hochvogel auch ohne den Klimawandel irgendwann | |
auseinanderbrechen. Aber die zunehmenden Starkregen beschleunigen diesen | |
Prozess. Krautblatter: „In den vergangenen Jahren sind Anzahl und | |
Intensität um den Faktor zwei bis drei gestiegen.“ | |
Das setzt auch immer stärker der Infrastruktur zu: In Graubünden, | |
Ostschweiz, hatte schwerer Starkregen Ende Juni drei Häuser und einen Teil | |
der Autobahn A 13 weggerissen. Zuvor hatte die Schweizer Akademie der | |
Wissenschaften mitgeteilt: [3][Die Zeitspanne von Oktober 2022 bis | |
September 2023 war die wärmste Zwölfmonatsperiode seit Beginn der Messungen | |
im Jahr 1864 in der Schweiz]. | |
23 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Touristen-in-den-Bergen/!5713088 | |
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## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
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