# taz.de -- Ischgl nach Corona: Einer geht noch | |
> Vor fünf Jahren wurde Ischgl zum Synonym für den verantwortungslosen | |
> Umgang mit der Coronapandemie. Wie steht es heute um die | |
> Après-Ski-Hochburg? | |
Bild: Da war an Corona noch nicht zu denken: eine Aufnahme von 2014 aus Lois He… | |
Über 50 Mal zum Skilaufen in denselben Ort, das schafft auch nicht jeder. | |
Jürgen Stang schon. Seit 1991 reiste der Maurermeister aus Langenfeld nahe | |
Leverkusen nach Ischgl in Tirol: Weihnachten, Ostern, und wenn es ging, | |
noch mal zwischendurch. Sogar seine zweite Frau lernte Stang, heute 62 | |
Jahre alt, dort kennen. „Ein so gutes Skigebiet finden Sie in Österreich | |
nicht noch mal“, sagt er. | |
Zum letzten Mal in Ischgl war Stang 2020, mit zwei Freunden und vier | |
Kollegen. Am 7. März kam die Gruppe im Paznauntal an. Eine Woche wollten | |
sie bleiben. Die österreichischen Behörden wussten da schon seit drei | |
Tagen, dass sich 14 Isländer:innen in der letzten Februarwoche in | |
Ischgl mit Covid-19 angesteckt hatten. | |
Dennoch dauerte es bis zum 13. März 2020, bis die österreichische | |
Bundesregierung Ischgl und das Paznauntal zum Risikogebiet erklärte und | |
eine Quarantäne verhängte. In dieser Woche jährt sich der Ischgl-Ausbruch | |
zum fünften Mal. Die kleine Gemeinde und das Bundesland Tirol wurden damals | |
international zum Synonym für den verantwortungslosen Umgang mit der | |
Pandemie. | |
## Ein Jahr lang kam er Treppen nicht hoch | |
Auch Jürgen Stang infizierte sich in Ischgl und erkrankte schwer. Es | |
dauerte ein Jahr, sagt Stang, bis er wieder Treppen laufen konnte wie | |
zuvor. Er zog bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um | |
die Behörden zur Verantwortung zu ziehen. | |
„Man hätte Zeit genug gehabt, den Schlagbaum an der Einfahrt zum Paznauntal | |
runterzumachen. Sache erledigt“, sagt Stang. „Wir wären dann eben nächstes | |
Jahr gefahren, kein Problem.“ Doch nach der Mitteilung aus Reykjavík | |
wiegelte das Land Tirol ab und behauptete in einer Pressemitteilung, dass | |
die Isländer sich „erst im Flugzeug bei der Rückreise“ angesteckt haben | |
dürften. „Falsch und irreführend“ war dies, steht später im | |
Untersuchungsbericht einer unabhängigen Expertenkommission. | |
So verbringen Jürgen Stang und etwa 15.000 weitere Gäste die Woche zunächst | |
arglos im Paznauntal. Als die Behörden die ersten Aprés-Ski-Bars schließen, | |
geht man eben in die Lokale, die geöffnet blieben. „Die Leute wollten ja | |
was essen, ein Bier trinken“, sagt Stang. | |
Am 13. März spürt Stang beim Frühstück leichtes Fieber. Zum Mittagessen | |
sitzt er mit seinen Freunden auf der Idalp, einem Bergrestaurant mit den | |
Dimensionen einer Großkantine, als 600 Kilometer weiter östlich in Wien der | |
damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz eine Pressekonferenz gibt. Kurz | |
erklärt, dass er dem Virus „geografisch punktgenau gegensteuern“ wolle. | |
Unter anderem werde deshalb das Paznauntal „ab sofort isoliert“. | |
Wie so oft wollte Kurz sich als Macher zeigen und hatte diese | |
Quarantäne-Entscheidung mit niemand besprochen. Die lokalen Behörden | |
erfahren davon aus dem Fernsehen. Die sich anschließende chaotische | |
Massenabreise, teils in restlos überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, | |
gilt als eine der Haupt-Infektionsquellen des Ischgl-Covid-Clusters. | |
## Nach zwei Wochen im Rollstuhl aus der Klinik | |
Jürgen Stang und seine Freunde taten, was alle Urlauber in Ischgl taten: | |
Sie sahen zu, dass sie noch wegkamen. „Wir sind schnell runter in die | |
Pension, Klamotten gepackt, ab ins Auto.“ 720 Kilometer sind es zurück nach | |
Langenfeld. Die Gruppe fährt durch, ein Tankstopp wird am Automaten | |
bezahlt: „Nicht dass wir noch wen in der Tankstelle anstecken, haben wir | |
gedacht.“ | |
Zu Stangs Fieber kommt unterwegs Schüttelfrost. Am Samstag weist ein Test | |
im Leverkusener Krankenhaus die Covid-Infektion nach. Am folgenden | |
Donnerstag bringt ihn ein Krankenwagen in die Langenfelder LVR-Klinik. Eine | |
Röntgenaufnahme zeigt eine beidseitige Lungenentzündung. „Das ist, als ob | |
du nur durch einen Strohhalm Luft kriegst. Du hast eine wahnsinnige | |
Erstickungsangst“, sagt Stang. Erst Ende März wird er aus der Klinik | |
entlassen, [1][im Rollstuhl, um 12 Kilo abgemagert]. | |
Beim österreichischen Verbraucherschutzverein haben sich bis zum Sommer | |
2020 über 6.100 Menschen und Angehörige gemeldet, die nach einem Skiurlaub | |
in Tirol an Covid-19 erkrankten. Drei Viertel der Betroffenen waren in | |
Ischgl. Etwa 30 der Erkrankten starben, rund die Hälfte der Toten habe sich | |
in Ischgl direkt infiziert, die andere Hälfte sei durch Rückkehrer | |
angesteckt worden, so schätzt es der Chef des Verbraucherschutzvereins, | |
Peter Kolba. Rund 11.000 Infektion seien insgesamt auf Ansteckungen in | |
Ischgl zurückzuführen, [2][heißt es in österreichischen Medien]. | |
232 Menschen haben deshalb die österreichischen Behörden auf | |
Millionensummen verklagt, einer davon ist Jürgen Stang. Doch bis Mai 2023 | |
wiesen die österreichischen Gerichte ausnahmslos alle Klagen zurück. Im | |
Dezember 2023 zog Stang vor den Europäischen Gerichtshof für | |
Menschenrechte. Denn Ischgl habe „nur aus wirtschaftlichen Gründen“ den | |
Betrieb weiterlaufen lassen, glaubt er. Damit seien nicht nur die | |
Touristen, sondern auch die eigene Bevölkerung und die vielen | |
Saisonarbeiter in Gefahr gebracht worden. „Eine Entschuldigung kam nie“, | |
sagt Jürgen Stang. | |
Wer heute mit der Gemeindeverwaltung Ischgl darüber sprechen will, wie sie | |
heute auf diese Zeit zurückblickt, welche Spuren die Ereignisse | |
hinterlassen haben, kriegt kein Interview, sondern eine E-Mail: Die | |
Pandemie „gehört der Vergangenheit an“, steht darin. Das Virus sei „nicht | |
nur in Ischgl, sondern weltweit zum Ausbruch gekommen“, das Thema „stößt | |
auf kein weitergehendes Interesse mehr“. Der Tonfall gleicht jenem des | |
Auftritts des damaligen ÖVP-Gesundheitslandesrates Bernhard Tilg, der | |
damals sagte, die Behörden hätten „alles richtig gemacht“. | |
Die 1.600-Einwohner-Gemeinde hat ihr Zentrum einem Gebäudekomplex geopfert, | |
der an ein mehrstöckiges Flughafenterminal mit angeschlossenem Parkhaus | |
erinnert. An einem Dienstag im Februar sind alle Parkplätze hier belegt, | |
ebenso wie praktisch alle rund 12.000 Betten der fast 400 Unterkünfte. Die | |
Pardatschgratbahn führt von hier in die grandiosen Gipfel der Samnauner | |
Alpen, das Skigebiet gilt als eines der besten der Welt. | |
Auch wenn sich das Ansteckungsgeschehen nach Expertenmeinung wohl auf den | |
gesamten Ort verteilte, wird der Ischgler Covid-Ausbruch vor allem mit | |
einem Namen in Verbindung gebracht: dem „Kitzloch“, einer mit schweren, | |
dunklen Balken auf Hüttenoptik getrimmten Après-Ski-Bar neben dem | |
Liftausgang im Ortskern. Auf der Karte stehen hier Austern und teure | |
Wagyū-Burger. Weil die Bar durch die Pandemie noch berühmter geworden ist, | |
hat der Betreiber ein großes lilafarbenes Holzherz mit dem Logo vor der Tür | |
anbringen lassen, damit die Leute es mit den Selfies leichter haben. | |
## Im „Kitzloch“ läuft es längst wieder rund | |
Am frühen Nachmittag sind die meisten Touristen noch oben auf dem Berg, | |
unten am Liftausgang steckt ein DJ die Kabel seiner Anlage zusammen. Im | |
Kitzloch liegt auf fast allen Tischen ein „Reserviert“-Schild, es läuft | |
Metallica, am Tresen wartet ein Fotograf. Die Presse aus Wien hat ihn | |
geschickt, um vom Betreiber Bernhard Zangerl ein Bild zu machen. „Ich hab | |
die gefragt, ob er auch schön schuldig dreinschauen soll“, sagt der | |
Fotograf. | |
Zangerl ist 31, ein freundlicher Typ. Für das Foto lehnt er sich an das | |
Herz vor der Tür, schuldig schaut er dabei nicht. Er trägt die blonden | |
Haare lang, dazu Cap, Hoodie, weite Hose. Er sieht aus wie die | |
Snowboardfahrer im Ort. | |
„Es war eine sehr spezielle Situation, auf einmal vor der ganzen Welt | |
Rechenschaft geben zu müssen“, sagt Zangerl dann. Er habe „offen auftreten… | |
wollen, „das hat den Effekt gehabt, dass über uns sehr viel berichtet | |
worden ist“. Selbst auf CNN war vom Kitzloch die Rede. Denn die ersten drei | |
Covid-Fälle in Tirol waren drei norwegische Erasmus-Studenten, die im | |
Kitzloch waren und am 5. März positiv getestet wurden. Am 7. wurden ein | |
Kellner, am 9. dann 14 Mitarbeiter und ein Gast des Kitzlochs positiv | |
getestet. Dann ordnete die Polizei endgültig die Schließung an. | |
Warum er nicht schon früher zugemacht habe? „Wir haben täglich mit den | |
Behörden kommuniziert und darauf vertraut, dass die Experten uns die | |
richtigen Anweisungen geben“, sagt Zangerl. „Es tut uns um jeden leid, der | |
sich angesteckt hat. Aber jetzt sind wir umso mehr froh, dass die Menschen | |
wieder gemeinsam hier Zeit verbringen können.“ Er hoffe, das Rekordniveau | |
von 2018/19 diese Saison wieder zu erreichen. | |
Rund 2,3 Millionen Übernachtungen verzeichnete Ischgl im vergangenen | |
Winter, fast 50 Millionen sind es in ganz Tirol. Gute 6 Milliarden Euro | |
„touristische Wertschöpfung“ bringt das pro Jahr. | |
Der Journalist Sebastian Reinfeldt hat ein Buch über die Ereignisse in | |
Ischgl geschrieben. Der Titel: [3][„Alles richtig gemacht“]. Auf seiner | |
Seite „[4][semiosis.at]“ hat Reinfeldt die „Ischgl-Files“ dokumentiert.… | |
Reinfeldt ist klar: Die Behörden hätten den Betrieb „mutwillig weiterlaufen | |
lassen“. Die Lage sei „schöngeredet worden“, mit dem „klaren Ziel, das | |
vorzeitige Ende der Wintersaison hinauszuzögern“. So sehen es viele, auch | |
in Tirol selbst. | |
Der ÖVP-Politiker Franz Hörl empfängt in seinem palastartigen | |
4-Sterne-Hotel in Gerlos, im Osten Tirols. In der Gaststube sitzend, kann | |
er sich noch genau an den Nachmittag erinnern, an dem darüber entschieden | |
wurde, ob und wie die Wintersaison endet. Es war der 12. März. Eine Woche | |
nachdem die ersten Meldungen aus Island kamen. „Da bin ich einbestellt | |
worden, zum Landeshauptmann“, sagt der Hotelier und frühere | |
Nationalratsabgeordnete. | |
Hörl ist einer der wichtigsten Vertreter der Tiroler Tourismuswirtschaft, | |
wenn er die Gremien aufzählt, in denen er für sie sitzt, kommt man | |
irgendwann nicht mehr hinterher. An jenem Nachmittag sei die Situation so | |
gewesen: Die Landesregierung wollte ab dem folgenden Wochenende den Betrieb | |
in ganz Tirol für den Rest der Saison stoppen. 250.000 Gäste wären sonst am | |
Samstag, den 14. März neu angereist. Die sollten nicht mehr kommen. | |
„Die Entscheidungsgrundlage war dünn, und die Frage war: Ist es | |
verhältnismäßig oder nicht?“, sagt Hörl. „Es zählt ja nicht, was man | |
hinterher weiß, sondern das, was man damals wusste.“ Aber am Abend des 12. | |
März sei dann allen klar gewesen: Es geht nicht anders. „Mutig“ sei das vom | |
Landeshauptmann gewesen, sagt Hörl. Im Auto auf der Rückfahrt habe ihn der | |
Vorstand einer Seilbahngesellschaft angerufen. „Du trägst das mit?“, habe | |
er gefragt. Es sei „alternativlos“ habe er geantwortet. Der Vorstand habe | |
ihm daraufhin vorgeworfen, Schuld daran zu sein, dass „450 Mitarbeiter und | |
Familien in den wirtschaftlichen Untergang getrieben“ werden. | |
Untergang? Nach Jahrzehnten sprudelnder Einnahmen? Die Pandemie hat | |
gezeigt, wie selbstverständlich Tirol auf die enormen Einnahmen des | |
Wintersports eingestellt, ja von ihnen abhängig ist. | |
Nach dem Infektionsausbruch hofften viele, dass die Region sich neu | |
aufstelle: nachhaltiger, ökologischer, ruhiger. Mehr Wandern, weniger | |
Jagertee und Saufmusik. Après-après-Ski gewissermaßen. Die | |
millionenschweren staatlichen Coronahilfen wurden als Hebel gesehen, die | |
Tourismuswirtschaft zu einer Neuorientierung zu bewegen – am besten zu | |
einer, die auch gleich noch ökologisch ist. | |
Franz Hörl sagt, seine Oma habe den Après-Ski in Tirol quasi erfunden, er | |
selbst habe bis 2004 ein solches Lokal betrieben. Seine Frau kommt in die | |
Gaststube, ruft ihn zu den Handwerkern. „Sie können sie ja mal fragen, was | |
sie dazu sagt“, sagt Hörl und geht hinaus. | |
„Ich hasse Après-Ski“, sagt Margot Hörl dann. „Früher haben wir das au… | |
gemacht. Die Leute kamen vom Berg, tranken zwei Bier, um 18 Uhr war Schluss | |
– okay.“ Aber heute „ist das ja fast kriminell, Hasch, saufen, bis ein Uhr | |
früh. Erst gestern haben die Besoffenen wieder eine Lampe abgefetzt.“ | |
An dem Geschäft hänge er nicht, sagt auch Franz Hörl, als er zurückkommt. | |
Viele hätten darauf gesetzt, Après-Ski nach der Pandemie „umzudrehen“, | |
meint er. Es gab runde Tische bei der Landesregierung; das Management | |
Center Innsbruck, eine Privatuni, habe Konzepte entwickelt. „Ich stünde | |
diesen Ideen nicht entgegen,“ sagt Hörl. „Am Ende des Tages aber hat der | |
Kunde entschieden: Er will es so haben, wie es ist.“ | |
In Ischgl sieht Kitzloch-Wirt Bernhard Zangerl das ähnlich. Auch er hat an | |
den runden Tischen teilgenommen. „Man kann sicher drüber diskutieren; aber | |
so, wie es bei uns ist, schätzt der Gast es am meisten. Sie kriegen hier in | |
der Hauptsaison nie ein freies Zimmer, das muss ja irgendwo auch passen, | |
sonst wäre das ja nicht so.“ | |
Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner hat die Schattenseiten der | |
„enthemmten und zügellosen Urlaubswelt“ dokumentiert, wie es in seinem | |
Fotobuch „Ischgl“ heißt. Das Virus, so glaubt Hechenblaikner, konnte sich | |
da, wo „Exzesse nicht die Ausnahme, sondern die Regel“ sind, besonders gut | |
ausbreiten. | |
Dass die Versuche, eine neue Art von Tourismus aufzubauen, an der stabilen | |
Nachfrage für die alte Art scheiterten, wundert ihn nicht. Hechenblaikner | |
glaubt, dies hänge mit der „deutschen Seele“ zusammen. Denn die sei | |
„eingesperrt“, so sagt er, „zu Glanzleistungen fähig, aber sie wird nur | |
dann belohnt“. Der Exzess in Tirol sei ein „Überdruckventil für die | |
Leistungsgesellschaft“, das die deutschen Tourist:innen dankend | |
annehmen: 54 Prozent der Skitouristen in Tirol kommen aus Deutschland Und | |
„Druckablassen gegen Bezahlung“ – das sei auch deshalb ein besonders | |
lohnendes Business, weil beim Alkohol die Gewinnmarge für die Wirte am | |
höchsten ist. | |
Es sei wahr: Die Après-Ski-Wirte stünden „nicht draußen mit der Peitsche,�… | |
sagt Hechenblaikner. „Man geht da freiwillig hin.“ Doch das Geschäftsmodell | |
habe Folgen: Schlägereien, Gewalt gegen Rettungskräfte und „xenophobe | |
Rückkopplung“, wie er es nennt. „Das ist das Schlimmste im Tourismus: dass | |
man jene zu hassen beginnt, von denen man lebt“. Tirol sei „nicht so auf | |
die Welt gekommen“, doch nach der Pandemie seien beide Seiten, die Gäste | |
und die Wirte, sofort in die ganzen alten Muster zurückgefallen. „Wie ein | |
Drogenabhängiger, der rückfällig wird.“ | |
Angefangen hat der Ski-Boom vor ungefähr hundert Jahren. 1930 eröffnete die | |
Familie des Kitzloch-Chefs Bernhard Zangerl ihren ersten Gasthof. Damals | |
war das Paznauntal, wie fast die gesamten Tiroler Alpen, eine bettelarme | |
Gegend. Dann kamen die ersten Skilifte und mit ihnen der Reichtum. Heute | |
betreiben die Zangerls sechs Lokale und Restaurants, ein Hotel und einen | |
Bergbauernhof, beschäftigen 170 Mitarbeiter:innen aus 20 Ländern. | |
Bernhard Zangerl hat sich während der Pandemie überlegt, politisch aktiv zu | |
werden, „für unsere Zukunft Verantwortung direkt selber in die Hand | |
nehmen“. Er gründete mit Freunden und Bekannten aus Ischgl eine politisch | |
mittig stehende Wahlliste namens „B’sinna“. Bei den Kommunalwahlen im | |
Februar 2022 bekam sie fast 60 Prozent der Stimmen. Zangerl ist nun | |
Gemeinderat und -vorstand, zuständig für Bau und Verkehr. | |
Wie genau stellt er sich die „Verantwortung für die Zukunft“ vor? Man müs… | |
den Klimawandel ernst nehmen, sagt Zangerl, sich für die Zeit Gedanken | |
machen, wenn es keinen Schnee gibt. Da müsse man „auch andere Sachen | |
anbieten, aber wenn das so einfach wäre, dann hätten wir das natürlich | |
schon umgesetzt“. | |
Auch der ÖVP-Politiker Franz Hörl setzt erst mal darauf, dass alles noch | |
eine Weile weitergeht. In den niedriger gelegenen Skigebieten im Osten | |
Österreichs wird schon heute der Schnee knapp. Die höhergelegene | |
Zillertal-Arena hingegen, zu der Hörls Wohnort Gerlos gehört, investiert 30 | |
Millionen in neue Liftanlagen. „Da wären wir ja schlechte Kaufleute, wenn | |
wir nicht glauben würden, die noch 30 Jahre profitabel zu führen.“ | |
Nach Auskunft von Klimawissenschaftlern sei mit einem Anstieg der | |
Schneefallgrenze um 200 Meter bis 2050 zu rechnen. „Das schaffen wir locker | |
mit den Schneekanonen.“ Was wäre denn die Alternative, fragt Hörl. „Sanft… | |
Tourismus?“ Das Zillertal habe 8,5 Millionen Gäste pro Jahr. | |
In Sachen Skiwirtschaft mag in Tirol heute vorerst wieder vieles beim Alten | |
sein. Politisch aber haben sich die Dinge verändert. Dass die FPÖ in | |
Österreich heute so stark ist wie nie – das liegt auch an der Pandemie. In | |
deren Frühzeit konnten den Rechtsextremen die Maßnahmen erst gar nicht hart | |
genug sein. Sie warfen der Regierung Untätigkeit und Überforderung vor, | |
klagten gar, sie halte sich nicht an die WHO-Vorgaben für „flächendeckende | |
Tests“. | |
Doch schon ab April 2020 witterte der FPÖ-Chef Herbert Kickl, dass im | |
wachsenden Unmut über die Infektionsschutzmaßnahmen für ihn eine | |
Riesenschance steckte. Die Partei drehte ihre Linie in Sachen Corona in | |
kürzester Zeit um 180 Grad – und lebt bis heute gut davon, den Unmut weiter | |
zu bewirtschaften. Den Wahlkampfauftakt zur Tiroler Gemeinderatswahl Anfang | |
2022 etwa absolvierte Kickl kurzerhand auf einer Innsbrucker | |
Querdenker-Demo. In Niederösterreich legte die FPÖ-Landesregierung gar | |
einen millionenschweren „Corona-Opferfonds“ auf, der unter anderem | |
Bußgelder wegen Verstoßes gegen Covid-Maßnahmen zurückerstattet. | |
## Die Rechtsextremen profitieren bis heute | |
Wegen der Ereignisse in Ischgl hatten sich viele in Tirol damals zu Unrecht | |
an den Pranger gestellt gefühlt. Die Wut auf die Medien und die Regierung | |
hat die FPÖ seither nach Kräften befeuert. Bis zu den Nationalratswahlen im | |
September 2024, so sagen es viele, blieb das Thema präsent. | |
Im Wahlkampf schrieb die FPÖ, sie werde „niemals vergessen, was uns die | |
schwarz-rot-grün-pinke Einheitspartei während Corona angetan hat“. Alle | |
hätten „die Österreicher drangsaliert und schikaniert“. Doch „gemeinsam… | |
der Bevölkerung haben wir gegen den Corona-Wahnsinn angekämpft und so den | |
Impfzwang zu Fall gebracht“. Am Ende stand das beste Ergebnis aller Zeiten | |
für die FPÖ. | |
Der Aktivist und Lokalpolitiker Mesut Onay sitzt für die Alternative Liste | |
im Innsbrucker Gemeinderat. Als in Ischgl Covid ausbrach, unterstützte er | |
osteuropäische Saisonarbeiter, die jedes Jahr zu Tausenden nach Tirol | |
kommen – und damals teils ohne Einnahmen und Unterkunft dastanden. Das | |
wirke sich bis heute auf das ohnehin schwierige Werben von Arbeitskräften | |
aus, sagt Onay bei einem Treffen in Innsbruck. | |
Dass die Rechtsextremen die Coronamaßnahmen erfolgreich instrumentalisieren | |
konnten, zeige das größte Versäumnis in der Pandemie. „Covid hat die | |
Probleme, die es gab, zugespitzter vor Augen geführt“, sagt Onay. Alle | |
seien damals für Reformen gewesen, doch: „Hauptsache, das Geld fließt in | |
Richtung Unternehmen. Die haben dann versprochen, sie machen nachhaltigen | |
Tourismus und alles.“ In der Krise seien alle Sozialisten, kaum sei die | |
Krise vorbei, setzten sich die Neoliberalen wieder durch. „In dieser | |
Ideologie ist das Private alles und der Staat ist nichts.“ Auch so komme | |
dann die FPÖ mit ihrer neoliberalen Ideologie ins Spiel. | |
„Der Turbowettbewerb ist nicht reglementiert worden“, sagt Onay. „Nach der | |
Pandemie hatten die Skigebiete das Gefühl, sie müssten alles wieder | |
aufholen.“ Man habe „nicht wieder auf Normalbetrieb umstellen dürfen“. In | |
Zukunft werde es mehr Krisen statt weniger geben. Darauf müsse die | |
Gesellschaft sich vorbereiten. „Man hätte dafür so viel aus Covid lernen | |
können“, sagt Onay in Innsbruck. | |
In Langenfeld wartet Jürgen Stang derweil weiter darauf, dass der | |
Gerichtshof in Straßburg seine Klage annimmt. „Juristisch wird das schwer“, | |
sagt Stang. „Aber ich zieh das durch bis zuletzt.“ | |
15 Mar 2025 | |
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