# taz.de -- Sinto über Mord und Erinnerung: „Ich werde das nicht los“ | |
> Wie groß der Verlust war, erfuhr der Sinto Erdmann Grimm erst viel | |
> später: Nur seine Mutter überlebte die Deportation ihrer Familie nach | |
> Auschwitz. | |
Bild: „Wenn ich gesehen habe, dass Wohnwagen in der Nähe waren, bin ich hin … | |
wochentaz: Herr Grimm, Sie haben mir erzählt, dass Sie zum | |
[1][Django-Reinhardt-Festival] nach Hildesheim wollten. Wie war es dort? | |
Erdmann Grimm: Es hat mich umgehauen. Vor allem der eine Gitarrist, auf | |
dessen Namen ich gerade nicht komme. Der hat gespielt und ich war weg. Ich | |
habe dann ein Video von ihm rumgeschickt und eine Bekannte hat gesagt: Das | |
ist ja sehr fingerfertig. Ich habe geantwortet: Das hat nichts mit seinen | |
Fingern zu tun, das ist sein Herz. Ich war schon mindestens fünfmal auf dem | |
Festival, vergangenes Jahr habe ich es leider verpasst, aber der Termin für | |
nächstes Jahr ist schon notiert. | |
Wie ist Ihre Leidenschaft für den Sinti-Jazz entstanden? | |
Durch meine Mama. Sie hat mich mal ins alte VW-Museum mitgenommen, als da | |
eine Sinti-Combo aus Hamburg gespielt hat. Ab da gab es für mich kein | |
Halten mehr. Da hatte ich das erste Mal das Gefühl, irgendwo angekommen zu | |
sein. Die Musik löst so ein Fernweh bei mir aus. Dann möchte ich überall | |
sein, wo meine Leute mal waren. Ich sage jetzt meine Leute, weil ich mich | |
wirklich den Sinti zugehörig fühle. Mein Vater war zwar kein Sinto, aber | |
meine Mutter eine Sintiza. | |
Das war Ihnen schon immer klar? | |
Ja, sehr früh, daraus hat sie nie einen Hehl gemacht. Aber sie hat lange | |
bestritten, dass sie Romanes spricht. Ein paar Jahre nach dem Konzert im | |
VW-Museum waren wir auf einem Konzert im alten Gewerkschaftshaus in der | |
Nähe vom Bahnhof, da ist sie einfach in die Musiker-Garderobe gegangen. Da | |
habe ich das erste Mal gehört, dass meine Mutter perfekt Romanes spricht. | |
Sie hat pausenlos mit den Musikern geschnabbelt. | |
Warum hatte sie das vorher verheimlicht? | |
Sie wollte nicht, dass mein älterer Bruder und ich Romanes lernen. | |
[2][Damit wollte sie uns schützen], weil noch zu viele verkappte Nazis | |
rumliefen. Sie hatte schließlich ihre ganze Familie durch die Nazis | |
verloren und auch Angst um uns. | |
Was wussten Sie als Kind über die Familie ihrer Mutter? | |
Nicht viel. Mama hat nur von denen erzählt, von denen es noch Fotos gab und | |
nach denen ich gefragt habe. Von ihrer Schwester Gertrud, einem Bruder und | |
von meinem Pappo. | |
Pappo? | |
Das heißt auf Romanes Großvater. | |
In Ihrem Fall der Musiker Wilhelm Schwarz, der mit seiner Frau und zehn | |
Kindern [3][neben dem alten Bremer Schlachthof] lebte. Von dort aus wurden | |
sie im März 1943 mit etwa 270 anderen Sinti und Roma ins Vernichtungslager | |
Auschwitz-Birkenau deportiert. | |
Meine Mutter war die Einzige von ihnen, die Auschwitz überlebt hat. Aber | |
das habe ich alles erst viel später erfahren. Ich habe sie zwar danach | |
gefragt, was die Nummer auf ihrem Arm bedeutet, aber da hat sie nur gesagt: | |
Die ist aus Auschwitz – und damit konnte ich lange nichts anfangen. | |
Was hat sie von ihrem Vater Wilhelm Schwarz erzählt? | |
Nur aus der Zeit in Bremen. Man konnte ihm jedes Instrument in die Hand | |
drücken und er hat es ohne Noten gespielt. Und wenn sie ihm einen Streich | |
gespielt hat, hat er zwar geschimpft, aber nie seine Hand gehoben. Er hat | |
seine Kinder geliebt. Aber ich wusste ja damals nicht, dass es so viele | |
waren. Sie hat das alles weggeschwiegen. Das hätte sie nervlich gar nicht | |
ausgehalten, wenn sie von all ihren neun Geschwistern erzählt hätte. Und | |
ich hätte es auch nicht ertragen: Vor dem Schmerz hat sie mich geschützt. | |
Wie war sie als Mutter? | |
Wie eine Mutter sein soll, einfach ganz lieb. Sie hat auch mal geschimpft, | |
aber immer gelacht dabei. Sehen Sie das Bild dahinten? | |
Das Kind in der Lederhose mit der langen Lockenmähne? | |
Das bin ich mit fünf Jahren in der Lüneburger Heide. Ich war der einzige | |
Junge mit langen Haaren, die anderen hatten alle eine Pottschnitt. Aber | |
meine Mutter fand meine Haare so schön, dass sie wachsen sollten. Bis mein | |
Bruder und ich mit zwei Nachbarsmädchen Frisör gespielt haben. Danach blieb | |
auch für mich nur noch ein Pottschnitt übrig. Viel später, in meiner Zeit | |
bei VW, habe ich mir einen langen dünnen Zopf wachsen lassen, der bis zu | |
meinem Vorruhestand dranblieb. Mein Chef fand das zwar nicht so gut, aber | |
ich habe mir nicht reinreden lassen, schließlich habe ich nicht an | |
rotierenden Geräten gearbeitet. | |
Der Historiker Hans Hesse schreibt in seinem [4][Buch über die Deportation | |
der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland], dass Ihre Mutter Frisörin | |
werden wollte und sogar schon eine Lehrstelle hatte, die sie Ostern 1943 | |
antreten sollte. | |
Mir hat sie oft erzählt, dass sie gern Porzellanmalerin geworden wäre. Sie | |
konnte sehr gut malen, vor allem ganz feine Sachen. Das Bild da hinten ist | |
auch von ihr (zeigt auf das Bild einer Schneelandschaft mit zwei Häusern). | |
Hatte sie in Wolfsburg Kontakt zu anderen Sinti? | |
Nein, aber ungefähr dreimal im Jahr ist sie mit mir zu Sinti nach Bremen | |
gefahren, zu Harry und Gina. Dort ist meine Mutter immer richtig | |
aufgeblüht, da war sie viel lockerer. In Wolfsburg war sie anderen | |
gegenüber immer sehr reserviert. Manche dachten schon, sie sei hochnäsig. | |
Das war aber zu ihrem eigenen Schutz. In Bremen war sie eine ganz andere, | |
da war sie nicht die Frau Grimm, sondern die Anni. | |
Wie ist Ihr Vater mit dieser Veränderung umgegangen? War er auch bei den | |
Bremen-Besuchen dabei? | |
Ja, manchmal war er auch dabei, aber damit hatte er keine Probleme. Ich | |
glaube sogar, dass er sich da auch wohler gefühlt hat. Er hat meine Mutter | |
geachtet und gut behandelt. Er hatte eher ein kleines Problem damit, dass | |
sich die Männer immer nach meiner Mutter umgedreht haben – sie war eine | |
sehr schöne Frau. | |
Haben Ihre Eltern Ihnen erzählt, wie sie sich kennengelernt haben? | |
Das war auch einer der Punkte, über den sie nicht gesprochen haben. Es muss | |
aber in Thüringen gewesen sein, wo sie 1946 geheiratet haben. Dorthin hatte | |
meine Mutter sich abgesetzt nach der Auflösung des Frauen-KZ Ravensbrück, | |
in das sie 1944 aus Auschwitz verlegt worden war. | |
Wie waren die Besuche in Bremen für Sie selbst? | |
Sie haben mein Leben verändert. Auch ich habe mich da viel wohler gefühlt | |
als in Wolfsburg. Vorher hatten wir in der Göhrde gewohnt, wohin meine | |
Eltern 1951 geflohen waren und mein Vater als Gärtner gearbeitet hat. Da | |
gab es vielleicht zwölf Häuser. Als wir nach Wolfsburg zogen, weil Papa bei | |
VW angefangen hat, bin ich gar nicht klargekommen und habe mich so | |
durchgemogelt. | |
Was war bei den Besuchen in Bremen anders als in Wolfsburg? | |
Ich habe mich richtig ernst genommen gefühlt. Sobald wir ankamen, ist Onkel | |
Harry mit mir zum Angeln an die Wümme gefahren. Das ist immer noch meine | |
große Leidenschaft. Er hat mir die erste Angel geschenkt und mir die | |
Anfänge beigebracht, zum Beispiel wie man am Gewässer lesen kann, wo der | |
Fisch steht. Einmal habe ich einen Zehn-Liter-Eimer voll mit Barschen | |
gefangen. Die haben wir dann zu Hause geschuppt, ausgenommen und gebraten. | |
Worüber haben Sie beim Angeln geredet? | |
Über Gott und die Welt. Als ich ungefähr neun oder zehn war, hat Onkel | |
Harry mir auch etwas über die Geschichte der Sinti erzählt und ein paar | |
Brocken Romanes beigebracht. Auch er hat mir nichts über die Grausamkeiten | |
erzählt, die unserer Familie angetan wurden. Aber ich habe mich so | |
verbunden mit den Leuten und ohne Worte verstanden gefühlt, dass ich immer | |
dableiben wollte. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich wieder dahin | |
konnte. Ab da habe ich mich als Sinto verstanden. | |
Wussten das Ihre Mitschüler in Wolfsburg? | |
Dem einen oder anderen habe ich das mal gesagt, und das ging dann rum. Ich | |
frage mich manchmal, ob das richtig oder falsch war, aber ich tendiere mehr | |
zu richtig. Es gab zwei, drei Mitschüler, die zu mir gehalten haben. Aber | |
der Rest hat sich, ich sage es mal vorsichtig, ein bisschen weggedreht. | |
Später muss es auch mein Ausbildungsleiter bei VW, wo ich Modelltischler | |
gelernt habe, mitbekommen haben. Das habe ich gespürt, ich hatte es nicht | |
leicht bei ihm. | |
Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, wenn man zehn Jahre alt ist und | |
eine Identität als Sinto aufbaut, aber in einem ganz anderen Umfeld | |
aufwächst. Wie haben Sie diesen Widerspruch ausgehalten? | |
Ich habe versucht, das Beste draus zu machen. Ich habe mich immer gefreut, | |
wenn es wieder nach Bremen ging. Da habe ich mein Leben ein bisschen drauf | |
ausgerichtet. Als ich älter wurde, habe ich das alles besser weggesteckt, | |
dann konnte ich mich auch freier bewegen. Wenn ich gesehen habe, dass | |
Wohnwagen in der Nähe waren, bin ich hin und habe mich mit ans Lagerfeuer | |
gesetzt. Mit der Zeit habe ich auch mehr nachgefragt, vor allem bei Harry, | |
und erfahren, dass auch von mir Angehörige in Auschwitz umgebracht worden | |
sind. Ich habe mir dann Mamas KZ-Nummer auf den Oberarm tätowieren lassen, | |
um meine Verbundenheit mit den Opfern zu zeigen. | |
Hat Ihnen Ihre Mutter mehr über ihre Lagerzeit erzählt, als Sie älter | |
wurden? | |
Nicht die Grausamkeiten. Als ich die ganze Geschichte meiner Familie | |
erfahren habe, sind mir wieder Momente eingefallen, in denen ich sie sehr | |
traurig und in sich versunken erlebt habe. | |
Wann haben Sie von der zwölfköpfigen Familie Schwarz aus Bremen erfahren – | |
und davon, was ihr widerfuhr? | |
Vor etwa drei Jahren bekam ich einen Brief vom Friedhofsamt, in dem ein | |
zweiter Brief steckte. Der war von Hans Hesse, der mir von seinen | |
Recherchen schrieb – und fragte, ob er mit mir sprechen könne. | |
Wie haben Sie darauf reagiert? | |
Das war erst mal ein Schock, bis dahin wusste ich ja nur von Gertrud und | |
einem Bruder. Und von Pappo und Mami, meiner Großmutter. Aber dann wollte | |
ich alles ganz genau wissen und habe alles aufgesogen und gelesen, was ich | |
darüber erfahren konnte. Ich werde das nicht los, das ist immer da. Als | |
2022 [5][der Platz vor dem Kulturzentrum Schlachthof] in Bremen nach meiner | |
Familie benannt wurde, hat der Schlachthof-Mitarbeiter Matthias Otterstedt | |
die lebensgroßen Silhouetten einer zwölfköpfigen Familie auf Bildplatten | |
gemalt, vom Baby bis zum Vater. Nur eine Figur hat ein Gesicht: das meiner | |
Mutter. Ein Foto davon habe ich mir jetzt rahmen lassen. Ich habe große | |
Hochachtung vor meinen Leuten, die so bestialisch umgebracht wurden. | |
Was bedeutet es für Sie, dass dieser Platz jetzt nach Ihrer Familie heißt? | |
Es hat mich sehr ergriffen, als ich mit dem Bürgermeister das Schild | |
enthüllt habe. Ich hatte wieder das Gefühl, angekommen zu sein, ein Stück | |
meiner Wurzeln wiederbekommen zu haben. Außerdem habe ich mich bei den | |
Bremer Sinti und ihren Freunden gleich wohlgefühlt und einen neuen | |
Angelfreund gefunden. Sie nennen mich Männi, wie es meine Mutter getan hat. | |
Wann ist Ihre Mutter gestorben? | |
Das war 2007. Am Tag vorher musste ich noch wie jeden Sonntag bei ihr zum | |
Essen antanzen, am Montag habe ich sie dann in ihrer Wohnung gefunden. Das | |
war einerseits hart, aber auch so, als wenn es so sein sollte. Bei der | |
Trauerfeier hat der Pastor eine Christusfigur gezeigt, die von einem | |
polnischen Künstler aus dem Draht von Auschwitz gefertigt worden ist. Und | |
dazu gesagt, dass meine Mutter dort inhaftiert gewesen ist. Außer meinem | |
Sohn und mir waren noch zwei Nachbarinnen da, die das nicht wussten und | |
ganz still wurden. | |
War Ihre Mutter religiös? | |
Ja, sie ist regelmäßig in die Kirche und zu Gemeindetreffen gegangen. | |
Welche Bedeutung haben für Sie [6][die Erinnerungstage] wie der 2. August, | |
der internationale Holocaust-Gedenktag für die Sinti und Roma? | |
Die sind sehr wichtig – wie Mahnmale. Es ist unvorstellbar, wie Menschen | |
andere so grausam behandeln konnten. Wie Nummern und wie Kreaturen, die | |
einfach nur wegmüssen. Heute muss sich niemand mehr dafür schuldig fühlen, | |
aber wenn ich sehe, welche Parolen es in Deutschland wieder gibt, kriege | |
ich ganz schön Angst. Meinen Mund lasse ich mir trotzdem nie verbieten. | |
28 Jul 2024 | |
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