# taz.de -- Die eigene Geschichte selbst schreiben: „Der Widerstand war nie g… | |
> In Nienburg interviewen junge Sinti und Sintizze ihre Vorfahren. | |
> Ausgangspunkt für das Erinnerungsprojekt war ein ungelöster Kriminalfall. | |
Bild: Geschichtsbewusst: Mitglieder des Jungen Forums gegen Antiziganismus am N… | |
BREMEN taz | Ein kleines Ladenlokal an einer Hauptverkehrsader im | |
niedersächsischen Nienburg. Hier treffen sich seit einigen Monaten junge | |
Erwachsene der [1][Sinti-Community] und erforschen ihre Geschichte. Sie | |
führen Interviews, verschriftlichen sie und verarbeiten gemeinsam das | |
Gehörte. „Wir haben ganz viel gehört, bei dem man dachte, dass das noch nie | |
ausgesprochen wurde. Darum ist es umso wichtiger, das auch aufzuschreiben“, | |
sagt Ashanti Brettmann. „Als ich zum Beispiel ein Interview mit meiner | |
Großmutter gemacht habe, habe ich auch von Greueltaten erfahren, bei denen | |
mir die Tränen kamen.“ | |
Jede Familie aus der Minderheit der Sinti und Roma hat [2][Vorfahren, die | |
von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden]. „Egal in welchem | |
Lager sie gewesen sind, sie haben sich alle gleich gefühlt“, sagt Ginger | |
Laubinger. „Wir haben zum Beispiel die Frage gestellt: Warum glauben Sie, | |
dass Ihre Familie deportiert worden ist? Und es kommt jedes Mal dieselbe | |
Antwort: Hitler wollte ein rein arisches Volk, und wir gehörten nicht | |
dazu.“ | |
Mittlerweile gibt es etliche Forschungsarbeiten und viel | |
Erinnerungsliteratur über die Geschichte der Sinti und Roma. In Nienburg | |
sind die Forschenden ausnahmsweise die Nachfahren der Opfer selbst. | |
„Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft nutzen die Quellen aus der | |
Mehrheitsgesellschaft, die von der Mehrheitsgesellschaft geschrieben sind“, | |
sagt Maik Claasen. „Aber die größte Quelle für die Geschichte der Sinti und | |
Roma sind doch die Sinti und Roma selbst, die Menschen, die es erlebt und | |
weitergegeben haben.“ | |
Das vom Landessozialministerium geförderte Projekt hat von den jungen | |
Forschenden den Titel „Tschatschepen (Gerechtigkeit, d. Red.) – die | |
Wiedergewinnung der Geschichte der Sinti und Roma“ erhalten. „Wir möchten | |
uns unserer Geschichte selbst bemächtigen“, sagt Claasen. „Wir möchten | |
selbst unsere Geschichte deuten. Das dürfen nicht Menschen über unsere | |
Köpfe hinweg machen, die von unserer Kultur gar keine Ahnung haben.“ | |
## Halbherzige Ermittlungen | |
Claasen befasst sich seit seinem siebten Lebensjahr mit der Geschichte | |
seiner Volksgruppe. Über die Jahre ist er immer tiefer in die Literatur | |
eingestiegen und stellte fest, dass sie meist in einem antiziganistischem | |
Kontext entstand. Den entscheidenden Anstoß für das Zeitzeugenprojekt gaben | |
allerdings eigene [3][antiziganistische Erfahrungen] der Nienburger Sinti. | |
Seit 2008 gilt die Sintezza Mandy Müller als vermisst. Ihre Familie ist | |
überzeugt, dass sie ermordet wurde, doch die erste Ermittlungsgruppe habe | |
nur halbherzig ermittelt. Außerdem habe es in den Akten antiziganistische | |
Formulierungen gegeben. „Wir wissen, dass wir von klein auf mit diesem | |
Rassismus und diesen Vorurteilen leben mussten“, sagt Sabine Müller, die | |
Mutter von Mandy, die auch in dem Projekt mitarbeitet. „Aber was wir seit | |
dem Verschwinden meiner Tochter von den Behörden zu spüren bekommen haben, | |
das ist wirklich menschenunwürdig.“ | |
Im August 2022 forderte eine Demonstration „Gerechtigkeit für Mandy | |
Müller“. In dem Aufruf hieß es, dass „erst auf erheblichen Druck aus der | |
Zivilgesellschaft“ 2016 in Nienburg eine neue Ermittlungsgruppe | |
eingerichtet worden sei. Obwohl die zuletzt eingesetzte Mordkommission laut | |
Nordwest Zeitung davon ausgeht, den mutmaßlichen Täter ermittelt zu haben, | |
ist bislang keine Anklage erhoben worden. | |
Das Engagement für die Aufklärung des Falles hat zur Gründung des Vereines | |
„Junges Forum gegen Antiziganismus“ geführt. „Mit diesem Rassismus wurde | |
nicht nur der betroffenen Familie, sondern wirklich allen Sinti und Roma | |
die Menschenrechte und die Menschenwürde genommen“, sagt Claasen. „Und das | |
ist auch im Nationalsozialismus und viele Male davor und danach passiert: | |
dass man einfach keine Gleichbehandlung erfährt.“ | |
## „Die Lebensfreude, die unsere Menschen hatten“ | |
Irgendwann ging es den Forschenden auch um Fragen wie: „Wo kommt dieser | |
Antiziganismus her?“ und „Wie haben ihn unsere Vorfahren erlebt?“. Da nur | |
noch wenige der direkt vom Nazi-Terror Betroffenen leben, werden auch die | |
Angehörigen der zweiten Generation interviewt. „Für mich persönlich war das | |
Wichtigste, das ich aus diesen Interviews mitgenommen habe, der Wille | |
unseres Volkes zu überleben und zu leben“, sagt Claasen. | |
„Der Widerstand war nie gebrochen“. fährt er fort. „Die Lebensfreude, die | |
unsere Menschen irgendwann auch wieder hatten, obwohl sie so stark | |
traumatisiert waren. Die Menschen, die aus der Hölle der | |
Konzentrationslager kamen und es geschafft haben, eine neue Familie | |
aufzubauen und zurück ins Leben zu finden, zeigen uns: Wenn wir | |
zusammenhalten, können wir wirklich alles schaffen.“ | |
Unterstützung erhalten die Nienburger Sinti auch vom einstigen Stadt- und | |
Kreisarchivar Thomas Gatter, der sich seit Jahren für die Erinnerungskultur | |
engagiert. „Mich interessieren die unterschiedlichen Formen von | |
Widerstand“, sagt Gatter. „Vom offenen Aufstand wie im Mai 1944 in | |
Auschwitz-Birkenau bis zur Kommunikation in den Lagern, die es trotz der | |
Repression möglich gemacht hat, sich untereinander zu verständigen. Es ist | |
für die nachfolgenden Generationen wichtig zu sehen, dass man eben nicht | |
alles so hingenommen hat, wie es meist berichtet wird.“ | |
Erschwert wird die Arbeit durch das aktuelle politische Klima. „Seit den | |
Erfolgen der AfD und erst recht nach der Geschichte mit der Remigration | |
haben viele wirklich Angst, sich interviewen zu lassen“, sagt Claasen. „Sie | |
sagen sich: Ich sterbe in ein paar Jahren, aber meine Enkelkinder, die | |
werden dann vielleicht irgendwann wieder deportiert. Darum gibt es bei uns | |
auch die Möglichkeit, sich anonym interviewen zu lassen.“ | |
Bis September will die Projektgruppe ihre Interviews und | |
Literaturrecherchen abschließen und für die Veröffentlichung aufbereiten. | |
Geplant sind neben einem Buch auch mehrere Workshops und eine Ausstellung. | |
7 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Lorenzen | |
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