# taz.de -- das wird: „Die reinen Texte sind kaum auszuhalten“ | |
> In Bremen erinnert eine musikalische Lesung an die Deportation der Sinti | |
> und Roma in die Vernichtungslager | |
Interview Benno Schirrmeister | |
taz: Ist Musik nicht viel zu schön, um an den Porajmos zu erinnern, die | |
Deportation und Ermordung der Sinti und Roma, Herr Lorenzen? | |
Ralf Lorenzen: Das ist eine Frage, die nur jene entscheiden können, die | |
noch immer unter diesen Ereignissen leiden, deren Familien ausgelöscht | |
worden sind. Und die sind es ja auch, die bei unserer Lesung die Musik | |
machen, aus dem Gefühl heraus, dass sich sehr viel von ihrem Schmerz und | |
Leiden erst in Musik ausdrücken lässt. Aber es stimmt: Dass diese Musik | |
dabei wirklich sehr schön ist, mag eine Irritation sein für andere, die | |
keine Opfer zu beklagen haben. Musik macht es einfacher, die Schrecken zu | |
ertragen und anzunehmen. | |
Ohne sie zu übertönen? | |
Ganz sicher wird hier nichts geglättet. Aber diese Ereignisse überfordern, | |
denke ich, einen rein kognitiven Ansatz. Musik ermöglicht vielleicht | |
Zugänge zu diesen unbewussten Aspekten, dem Irrationalen, die über Texte | |
nicht erreichbar sind. | |
Die wären auch schwer zu ertragen, gerade für Schüler*innen, an die sich | |
die Veranstaltung ausdrücklich auch richtet. | |
Da ist was dran. Zumal wir diesmal in Bremen auch, anders als vor vier | |
Jahren, auf das szenische Element verzichten, der reine Wortlaut also noch | |
mehr im Mittelpunkt steht. Zwar erfassen die Texte auch das Moment des | |
Widerständigen, und gerade von Schauspieler Rolf Becker mit seiner | |
wunderbaren Stimme vorgetragen, sind sie sehr lebendig. Aber die reinen | |
Texte sind dort, wo es um die Verfolgung und Vernichtung an sich geht, kaum | |
auszuhalten. | |
Dieses Jahr jährt sich die Deportation aus Bremen zum 80. Mal. Sollte eine | |
solche Veranstaltung nicht auch jenseits runder Jahrestage stattfinden? | |
Ja. Zumal die Geschichte ja nicht abgeschlossen ist, sondern sich | |
fortschreibt, und zumal wir in Bremen die wirklich einzigartige Situation | |
haben, dass der historische Ort der Deportation auch derjenige des | |
künstlerischen Gedenkens ist: Die Sinti und Roma sind hier am Schlachthof | |
zusammengetrieben worden, der heute ein Kulturzentrum ist. Es war auch nach | |
der Premiere 2019 eine Neuauflage für März 2020 vorbereitet, die dann aber | |
wegen Corona entfiel. Wenn jetzt ermöglicht würde, das regelmäßig zu | |
machen, das wäre absolut in unserem Sinne. | |
Die Geschichte schreibt sich fort? | |
Bei unserer Inszenierung 2019 hatten wir ja auf die Geschichte der Familie | |
Schwarz fokussiert. Die lebte direkt am Schlachthof – und infolge unseres | |
Projekts ist der Platz, an dem der steht, mittlerweile umbenannt worden in | |
Familie Schwarz-Platz. Zugleich wussten wir vor vier Jahren noch sehr wenig | |
über sie, außer den Aussagen aus den Dokumenten, also etwa, dass ihre | |
Kinder alle in die Schule an der Gothaer Straße gesteckt worden waren – | |
eine Sonder- oder wie man damals sagte Hilfsschule. Durch die Forschungen | |
des Historikers Hans Hesse hat sich die Quellenlage deutlich verbessert. | |
Inwiefern? | |
Zum Beispiel haben wir jetzt Fotos der Familie, deren Angehörige wir uns | |
bis dahin nur hatten vorstellen können, das war wirklich sehr berührend. | |
Außerdem ist ihm sogar gelungen, den Sohn der einzigen Überlebenden dieser | |
12-köpfigen Familie ausfindig zu machen. Dessen Stimme haben wir, | |
gesprochen von Rolf Becker, in unsere Lesung integriert. | |
21 Mar 2023 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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