# taz.de -- Sprecher über Clubkultur in der Ukraine: „Eigenständigkeit unse… | |
> Die Kyjiwer Clubkultur machte sich gerade einen Namen, als der Krieg kam. | |
> Ein Gespräch mit Andrii Yankovskyi über kurze Nächte und volle | |
> Tanzflächen. | |
Bild: Tanzen im HVLV-Club in Kyjiw: nach Kriegsbeginn gab es viele Solipartys f… | |
wochentaz: Andrii Yankovskyi, Sie sind Sprecher von UNight, einem Verband | |
der Kyjiwer Clubszene. Kann man gerade überhaupt von einem Nachtleben in | |
der Ukraine sprechen? | |
Andrii Yankovskyi: Es gibt wegen des Kriegs momentan noch die Sperrstunde | |
um Mitternacht, es sind also eher kurze Nächte. Aber ja, die Szene | |
entwickelt sich weiter, und die Auswirkungen nach zweieinhalb Jahren Krieg | |
sind drastisch. Gerade deshalb ist es wichtiger denn je, dass wir uns für | |
die Clubkultur einsetzen. | |
Der Verband wurde erst im vergangenen Jahr gegründet. Wie würden Sie Ihre | |
Arbeit beschreiben? | |
Nach der großangelegten russischen Invasion 2022 gab es viele Bemühungen, | |
die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur zu betonen, von einer | |
Ausstellung der Volkskünstlerin Maria Prymachenko bis hin zur Rettung alter | |
Denkmäler. Wir glauben, dass auch die Clubkultur und die elektronische | |
Musikszene ein Teil dieser Kultur ist, so wie sie zu vielen Kulturen | |
weltweit gehört. Und dass die Szene daher auch entsprechend unterstützt und | |
geschützt werden muss. Dafür wollen wir Geld sammeln und ein Bewusstsein | |
schaffen. Dabei war die Berliner Clubcommission unser großes Vorbild. | |
Vor der russischen Invasion im Februar 2022 war Kyjiw auf dem Weg, sich | |
einen internationalen Ruf zu erarbeiten. | |
Absolut. 2021 war eigentlich das beste Jahr überhaupt. Viele im Westen | |
entdeckten damals die Szene überhaupt erst, unsere Künstler*innen wurden | |
erstmals international anerkannt. Die Ukraine war eines der ersten Länder, | |
das nach der Covidpandemie wieder öffentliche Veranstaltungen zuließ – und | |
hier gibt es gute Clubs wie „∄“ und „Closer“ mit Top-Soundsystemen und | |
talentierten Residents. So wurde Kyjiw bald zu einem [1][Mekka für | |
Clubbesucher*innen.] Die Billigflieger aus Westeuropa heißen bei uns | |
Marschrutkas, die Flüge zwischen Berlin und Kyjiw haben fast nur noch Raver | |
transportiert. Das Brave!-Factory-Festival zog in dem Jahr rund 10.000 | |
Gäste an. Ich hatte einige Freund*innen in Westeuropa, die eigentlich | |
nach Kyjiw ziehen wollten. | |
Und dann begann am 24. Februar 2022 Russland, die Ukraine zu überfallen, | |
nicht nur die Clubszene lag brach. Wie ist die Stimmung in der Szene zwei | |
Jahre später? | |
Um ehrlich zu sein: mau. Die Clubs haben zwar wieder geöffnet und | |
veranstalten Partys tagsüber wegen der Sperrstunde. Die Eintrittsgelder | |
werden in der Regel an Armeeeinheiten an der Front gespendet. Weil wir | |
wollen, dass dieser Krieg so bald wie möglich vorbeigeht und unsere Freunde | |
heil und gesund aus dem Donbass wieder nach Hause kommen. Einige DJs | |
kämpfen im Krieg, mehrere Bekannte von mir sind leider ums Leben gekommen. | |
Hinzu kommt das neue Mobilisierungsgesetz: Männer ab 25 Jahren müssen sich | |
erneut beim Militär registrieren, damit sie womöglich mobilisiert werden | |
können. Was macht das mit der Szene? | |
Das führt zu viel Unsicherheit: Wir wissen noch nicht, wer eingezogen wird | |
und wer nicht. Das wird viele Clubs betreffen. Und es kommen jetzt schon | |
immer weniger Gäste, auch wenn das der Fall in vielen Ländern ist. Das | |
Mobilisierungsgesetz wird sicherlich diesen Trend fortsetzen. | |
Mit welchen Auswirkungen? | |
Große Clubs wie ∄ haben nach wie vor eine volle Tanzfläche jedes | |
Wochenende. Aber eine Clubszene ist wie ein Ökosystem, das aus großen und | |
kleinen Locations besteht. Wir brauchen die kleineren Läden, um unsere | |
Künstler*innen organisch wachsen zu lassen, damit sie eines Tages | |
Headliner werden können. Und dafür brauchen wir die Gäste. Aber es fehlt | |
inzwischen auch an Managern und Lightshow-Spezialisten, an anderen | |
wichtigen Leuten, die eine Szene am Laufen halten. Deshalb organisieren wir | |
zum Beispiel jetzt auch Workshops für die nächste Generation. | |
Einen dieser kleineren Läden, HVLV, betreiben Sie. Wie halten Sie sich | |
finanziell über Wasser? | |
Auch wir spenden den Eintritt an Einheiten an der Front. Wir können unser | |
Team unterstützen und die Gehälter gerade noch zahlen, Gewinn gibt es aber | |
nicht. Wir suchen noch nach Fördergeldern, in der Ukraine gibt es aber so | |
was für die Clubkultur nicht. Stattdessen müssen wir Partnerschaften mit | |
Alkoholmarken eingehen, was wir früher nicht getan haben. | |
2021 attackierten vermummte Hooligans Ihren Club mit Pfefferspray und | |
Schlagstöcken, sie skandierten dabei rechtsextreme und homofeindliche | |
Parolen. Auch andere Clubs wurden zum Ziel. | |
Sie haben unsere Fenster zerschlagen und behaupteten, dass hier mit Drogen | |
gehandelt werde und unser queeres Publikum Kinder zu Dämonen machen würde, | |
die üblichen Narrative von Rechtsaußen. Sie griffen einige unserer | |
Mitarbeiter*innen an. Das war auch einer der Gründe, warum die | |
Clubszene begann sich zu vernetzen, und ein Impuls für die Gründung von | |
UNight, aber die russische Invasion 2022 kam erst mal dazwischen. Ob das | |
wirklich Nazis waren oder bezahlte Schläger, die irgendwelche | |
Businessinteressen hier im Viertel durchsetzen wollen, bleibt Spekulation. | |
Handfeste Beweise haben wir nicht. | |
Wie geht die ukrainische Clubszene mit russischen DJs und Labels um? | |
Es gibt Aktivist*innen, die europaweit Party- und Festival-Lineups | |
beobachten, um zu schauen, ob Künstler*innen, die russisch sind oder | |
Russland weiterhin unterstützen, dort spielen. Sie kontaktieren die | |
Promoter*innen, um sie wieder auszuladen. Und natürlich wollen viele von | |
uns mehr ukrainische Namen auf internationalen Programmen sehen. | |
Finden Sie den Boykott russischer Künstler*innen richtig? | |
Ich kann hier nicht für UNight sprechen, sondern nur für mich selbst. | |
Okay. | |
Ich würde am liebsten niemanden nach der Farbe seines oder ihres Passes | |
beurteilen, weil wir uns nicht aussuchen können, wo wir geboren werden. | |
Aber wir haben uns diesen Krieg auch nicht ausgesucht. Wer noch in Russland | |
bleibt oder dorthin reist, um aufzulegen, trägt zu ihrer militaristischen | |
Wirtschaft bei. Und das ist eine persönliche Entscheidung, die Konsequenzen | |
haben sollte. | |
Haben Sie seit der russischen Invasion überhaupt Solidarität von den | |
elektronischen Musikszenen im Ausland erfahren? | |
Es gab zunächst immer wieder Solipartys für die Ukraine, [2][auch in | |
Berlin.] Aber das Interesse ebbte wieder ab. Ich finde es unfair, wenn | |
manche Leute von der Ukraine nun gelangweilt werden. Heute geht es in der | |
internationalen Szene primär um Palästina. Wir leben in einer Zeit, in der | |
sich die Krisen einfach häufen. Aber wir dürfen die Ukraine nicht | |
vergessen. | |
Wie reagierte die Kulturbranche? | |
Zu Beginn des Krieges [3][war kulturell tatsächlich viel los.] Es gab neue | |
Künstler*innen, neue Projekte, neue Musik. Aber das ändert sich nun | |
langsam. Die Menschen werden ärmer, weil die Wirtschaft ziemlich isoliert | |
ist. Viele haben zudem das Land verlassen. Die Situation an der Front wird | |
immer komplizierter, und die Stimmung ist nicht sehr gut im Moment. | |
Wofür steht die Clubszene in der Ukraine? | |
Es ist natürlich auch ein Business. Aber wir sind darin vereint, dass wir | |
für demokratische Werte, Menschenrechte, die queere Community, Feminismus | |
und Frieden einstehen. Insofern ist die ukrainische Szene so wie viele | |
andere internationale Szenen schon politisch. | |
20 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nicholas Potter | |
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