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# taz.de -- Das Nachtleben in Tallinn: In der Gegenwelt
> Nach der Unabhängigkeit Estlands stand Techno für Aufbruch. Und jetzt,
> unter der Bedrohung durch Russland? Eindrücke aus den Technoclubs von
> Tallinn.
Bild: Nachts wird hier trotz russischer Bedrohung der Hedonismus gefeiert: Tech…
Elena hat es sich auf einem grünen Sessel bequem gemacht, bereit zu
erzählen. Sie scheint geübt darin. „Der Kapitalismus hat uns vor der
Sowjetunion gerettet, irgendwie seltsam, oder?“, sagt sie, blickt kurz aus
dem Fenster und grinst. Elena, 54, betreibt den größten Technoclub in
Tallinn, das Hall. Ein guter Ort, um Estland besser zu verstehen.
Ost und West prallen hier direkt aufeinander. In dem kleinen baltischen
Land ringen skandinavische und slawische Einflüsse um Geltung. Russland,
dem ehemaligen Besetzer, wird stoisch getrotzt. Die Westintegration ist
eng daran geknüpft, sich der Zuschreibung „postsowjetisch“ zu entziehen,
trotzdem spricht fast ein Drittel der estnischen Bevölkerung Russisch und
denkt vielleicht auch so.
Löst sich die westliche Erzählung eines besseren Lebens im Kapitalismus
hier irgendwo auf? Antworten darauf suche ich im Tallinner Nachtleben. In
ihm vermute ich eine Gegenwelt. Wird eine neoliberale Erfolgslogik hier
vielleicht hinterfragt? Geht das überhaupt, wenn Putins Russland wieder die
Säbel rasseln lässt? Und ist diese Projektion auf den Westen nicht auch ein
wichtiger Schutz?
Tagsüber begegnet man einer Stadt, die sich als Metropole herausputzt: In
Tallinn staunt man über die kaum von Zebrastreifen unterbrochenen
sechsspurigen Straßen, das öffentliche WLAN, die ineinander übergehenden
Shoppingmalls, die vielen Überwachungskameras, die makellosen Wohnviertel,
den Leerstand ohne Graffiti.
Tallinn hat sich seit der estnischen Unabhängigkeit 1991 zu einer der
modernsten Städte der Welt entwickelt. Nach der fast 50 Jahre andauernden
sowjetischen Besatzung gelang es Estland, sich schnell als souveräner Staat
zu emanzipieren und wieder dem Westen zuzuwenden.
## Gibt es subversive Räume?
Als Schocktherapie wird die Zeit ab Mitte der 1990er bezeichnet, damals
wurden im Rekordtempo gesetzliche Grundlagen, Arbeitsabläufe, ein neues
Schul-, Renten- und Einheitssteuersystem eingeführt, die Schuldentoleranz
liegt bei nahezu null. Während ausländische Investoren fleißig Gebäude und
Grundstücke aufkauften und die Regierung neoliberale Reformen demokratisch
stützte, hatten auch viele Esten und Estinnen vor allem eines im Sinn:
Wohlstand und Unabhängigkeit.
Wo tauchen die Menschen ab in dieser sich extrem schnell verdichtenden
Stadt. Wohin geht es zum Feiern und zur Suche nach Ablenkung? Vielleicht
auch zum Diskutieren und Protestieren? Gibt es diese subversiven Räume
überhaupt? Elena, blondiertes, dünnes Haar, volle Lippen, tiefe
Lachgrübchen, wuchs in Mailand auf, wo sie schon als Teenagerin in die
lokale Clubszene eintauchte.
Nach Abstechern in London und Ibiza besuchte sie 1991 ihre aus Finnland
ausgewanderte Mutter in Estland, verliebte sich in einen Esten und traf auf
die Tallinner Houseszene der 90er Jahre. Über der Bar im Technoclub Hall
leuchtet ein menschliches Herz in Pinktönen, auf einem klobigen Podest
konzentriert sich ein DJ mit Dockermütze auf das Mischpult, helle
Laserstreifen durchschneiden den dunklen Saal. Junge Menschen, mehrheitlich
schwarz gekleidet, stampfen, wirbeln, torkeln über den leicht nachgebenden
Holzboden.
Im Tallinner Nachtleben vermutet Elena eine klare Abgrenzung zum von
Russland entzündeten Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Die Gegenwart
verunsichert und macht allen Angst. Ich möchte einen Ort schaffen, an dem
sich junge Menschen wohlfühlen und ausdrücken können.“
## Hedonismus zelebrieren
Elenas Club zelebriert diesen Hedonismus, der in den 1990er Jahren noch für
Aufbruch stand. Damals tummelten sich in den Altstadtkellern Punk- und
Metalfans, HipHop-Crews und Elektronica-DJs. Die halb offiziellen Partys
haben Bilder im kulturellen Gedächtnis der Szene hinterlassen. [1][Nach
Aufbruch] fühlt es sich in Tallinn zwar heute nicht mehr an, aber Elena
scheint den jungen Leuten vor der konstanten Bedrohung aus dem Osten einen
gedanklichen Fluchtort anzubieten.
In Estland [2][befürchten die Menschen,] ein weiteres Mal Opfer russischer
Großmachtfantasien zu werden. Der baltische Staat hat seine
Verteidigungsausgaben in diesem Jahr auf 3,2 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts erhöht und liegt damit unter den Nato-Ländern vorne.
Einer der jungen Leute ist Yan. Der 20-Jährige studiert Architektur und
arbeitet im Hungr an der Bar, einem kleinen Club mit queerer Ausrichtung.
Ich treffe ihn – Vokuhila, schwarze Lederjacke, Nietengürtel – in einem
Fast-Food-Laden. Türen und Tresen sind mit Stickern übersät, fast alle
Gäste hocken im Raucherbereich. Es zieht. Yan grüßt sporadisch Bekannte.
Sie tragen Rennradbrillen, kurze Ponys und bunte Halstücher. Er steckt sich
eine Zigarette an.
Als das Hungr 2023 seine Pforten öffnete, stand Yan hinterm Tresen: „Es war
ekstatisch, und ich war komplett nüchtern. Die Musik dröhnte, mein Kopf
schmerzte. Es war so voll, du konntest dich nicht bewegen oder atmen. Es
fühlte sich richtig an.“ Im Hungr dienen selbst gebaute Hochbetten als
Sitzflächen. DJ-Pult und Bühne werden je nach Clubnacht, Dragshow oder
Karaokeabend umgestellt. An die rohen Wände sind Fotos der Beteiligten
gepinnt.
Yans Vorliebe für improvisierte Orte verkörpert einen Widerspruch im
Tallinner Nachtleben, denn die Stadt versucht sich als schicker
Marketingstandort zu etablieren. Damit grenzt sich das heutige Nachtleben
von der Sowjetzeit ab, die Yan selbst nicht mehr erlebt hat. Im Hungr“
abhängen bedeutet für ihn Ausbruch. Aus dem Elternhaus, dem universitären
Leistungsdruck und den Mainstreamclubs, wie er sagt.
## Die erste Nachtbürgermeisterin
Für neue Maßnahmen im Tallinner Nachtleben steht Natalie Mets. Seit gut
einem Jahr versucht sie alle Fäden zusammenzuspinnen, die das Knäuel des
Tallinner Nachtlebens ausspuckt. „Um wirklich etwas zu ändern“, trat sie
den Sozialdemokraten bei und wurde kurz darauf zur [3][ersten
Nachtbürgermeisterin] ernannt. Nathalie empfängt mich in ihrem Büro. Sie
streift ihre Lederstiefel ab, setzt sich und zieht die Füße zu sich heran.
Die Lippen rot, der Pony zerfranst. Auf dem Sofa stapeln sich Plakate einer
Aufklärungskampagne zum Thema sexuelle Belästigung.
„Die Situation des Nachtlebens ist nicht so lebhaft und vielfältig, wie sie
in einer Stadt mit einer Nachtbürgermeisterin sein sollte“, beginnt sie das
Gespräch. Nathalie schuf Grundlagen. Am Wochenende fahren nun Nachtbusse.
Kulturorte können eine Finanzierungshilfe von 15.000 Euro beantragen. Ein
neuer Verein bietet Workshops zum bewussteren Feiern an.
Im April 2024 ist die Koalition des Stadtrats rund um die linksliberale
Zentrumspartei zerbrochen. Fast 20 Jahre hat sie das Amt des Bürgermeisters
beansprucht. Eine Partei, die traditionell viele Stimmen der
russischsprachigen Minderheit erhielt und deswegen unter vielen Esten und
Estinnen verpönt ist. Eine Partei, die sich auch wenig aus Nachtleben und
Kultur macht. „Das sind eben Leute, die um 22 Uhr ins Bett gehen und viel
Sport machen“, sagt Nathalie.
## Eine gute Zeit haben
Als Nathalie, heute 32, selbst noch Partys organisierte, vor der Pandemie
und dem russischen Angriffskrieg, lautete das Motto: E[4][infach eine gute
Zeit haben.] Sicherheitsbedenken in Gebäuden gab es kaum. „Wenn ich daran
denke, wie gefährlich das war, bekomme ich heute eine Gänsehaut“, sagt sie.
In ihrer Position gibt es nun neue Prioritäten.
Wie die anderen Akteur:innen des Tallinner Nachtlebens bringt Nathalie
Dinge zusammen, die widersprüchlich wirken. Da ist einerseits das
standortkonforme Streben, andererseits der zelebrierte Untergrund. Während
diese Gegenwelt in den 1990er Jahren in Abgrenzung zur Sowjetzeit auf
hedonistischen, entgrenzten Partys ihre Erfüllung fand, ist die Lage heute
komplexer: Krieg, Inflation und eine durch die sowjetische Vergangenheit
stark polarisierte Bevölkerung bewirken Traumata und Zukunftssorgen. Von
was die Feiernden in der Nacht Ablenkung suchen, ist genauso komplex wie
die estnische Identität selbst.
Und dennoch: In den vergangenen Jahren scheinen die Beteiligten
zusammengewachsen zu sein. Sie haben Räume und Chancen genutzt, um Orte zum
Tanzen, Verweilen, des Ausdrucks und der Inspiration zu schaffen. Dass
es sie gibt angesichts der fortwährenden Angst vor einem erneuten
russischen Angriff und der hohen Kosten aufgrund des Wirkens einer streng
marktorientierten Regierung, ist nicht selbstverständlich.
28 Jul 2024
## LINKS
[1] /Die-Musik-der-Maria-Minerva/!5108830
[2] /Paramilitaerische-Organisation-in-Estland/!5942864
[3] /Nachtbuergermeister-von-Wuppertal/!5951196
[4] /Tallinn-Music-Week/!5014297
## AUTOREN
Hannah Krug
## TAGS
Techno
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Russland
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Kolumne Krieg und Frieden
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