# taz.de -- Litauische Musiker*innen in Berlin: Angst vor dem Mond | |
> J. G. Biberkopf und Justina Jaruševičiūtė kommen aus Litauen, wohnen in | |
> Berlin und machen Musik. Mit ihr reagieren sie auf aktuelle Krisen. | |
Bild: Gediminas Žygus (links) und Justina Jaruševičiūtė. Trotz biografisch… | |
Es erklingt – suchend, klagend – eine unruhige, repetitive | |
Synthesizer-Komposition, in die nach einer Minute eine flüsternde Stimme | |
eindringt: „You’re really close to my face, and it feels fine.“ Der Sound | |
mit Ohrwurm-Potenzial fühlt sich intim, entfremdet und vertraut zugleich | |
an. Dann fährt die Stimme auf dem Track „Do You Love It“ fort: „The Seed, | |
The Sinkhole, The Flower, and The Flare“. | |
Diese obskuren Worte, zu Deutsch „Der Samen, das Senkloch, die Blume und | |
die Fackel“, bilden zugleich den Titel des neuen Albums von Gediminas | |
Žygus. 1991 in [1][der litauischen Stadt Kaunas] geboren, nun in Berlin | |
lebend und sich als nonbinär identifiziert macht Žygus Musik unter dem | |
Pseudonym J. G. Biberkopf. Das experimentelle und dabei zutiefst emotional | |
aufgeladene Elektronikalbum erschien beim Berliner Label Subtext. | |
Žygus’ Künstler*innenname verweist auf den Protagonisten [2][Franz | |
Biberkopf aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“], dem Berlinroman | |
schlechthin. „Mit ihm verbindet mich die Entfremdung von der Stadt“, sagt | |
Biberkopf der taz. Es handelt sich um den vierten Release und das zweite | |
Album unter diesem Namen. Auf ihm sind auch Freund*innen Biberkopfs mit | |
Gastauftritten zu hören. | |
## Eine eigene leibliche Sprache | |
Mittels Musik wolle die Künstler*in eine eigene Sprache erschaffen, keine | |
kritisch-analytische, sondern eine leibliche. „Die wichtigste Information | |
steckt in meinem Körper“, sagt Biberkopf. Diesem Anspruch wird das neue | |
Album gerecht. | |
In der zweiten Single „Self Vortex“ bohren sich Synthesizer-Melodien in den | |
Körper. Dynamische, zwanghafte Repetition wechselt sich mit langsamen | |
elegischen Klängen und unheimlichen Stimmen und Texten ab. Manchmal gibt es | |
tanzbare Einbrüche in diese abstrakten Klanganordnungen, so etwa auf dem | |
Track „Future Tripping“. Der Song „Miracle Damage“ schließt mit einer | |
Klaviermelodie und bricht damit den ansonsten konsequenten elektronischen | |
Charakter des Albums auf. | |
Es sind Erfahrungen aus einer krisengeplagten Zeit, die sich auf dem | |
kaleidoskopartigen Album herauskristallisieren: persönliche Miseren, die | |
Coronapandemie und schließlich die russische Großinvasion in die Ukraine. | |
Das ist der Musik anzuhören, ohne dass sie dabei therapeutisch klingt. | |
## Auf der Suche | |
Diese Eigenschaft weisen auch die Werke der 32-jährigen Klassik-Komponistin | |
Justina Jaruševičiūtė auf. „Selenophobia“ lautet der Titel ihrer beim | |
Düsseldorfer Label Piano and coffee records erschienenen neue Single, es | |
ist der Fachausdruck für eine irrationale Angst vor dem Mond. Die | |
Solovioline der knapp neunminütigen mit unterschiedlichen Dynamiken | |
hantierenden Komposition spielt Davis West. Melancholisch klingt die | |
eingängige Geigenmelodie des klassischen Stücks, sie ist auf der Suche nach | |
etwas – und dabei durchaus beharrlich. | |
Jaruševičiūtės elegante Komposition will nicht hip sein, sondern ist | |
ausdrücklich zeitlos, schön in ihrer Schlichtheit. Weltweite Aufmerksamkeit | |
erhielt Jaruševičiūtė bereits 2021 für ihr Debüt-Album „Silhouettes“ … | |
zehn Stücken für Streichquartett, von dem im März dieses Jahres eine | |
überarbeitete Version erschien. | |
Mit der klassischen Musik kam Jaruševičiūtė im Kindesalter in Berührung, | |
als ihre Eltern sie in die Musikschule schickten. Später gesellte sich dann | |
die Liebe zum [3][Metal] und Folk hinzu. Sie studierte Sound Design und | |
Engineering an der Litauischen Musik- und Theaterakademie in [4][Vilnius], | |
arbeitete danach zwei Jahre lang als Managerin der klassischen Konzerthalle | |
in Klaipėda. | |
## Drastische Veränderungen | |
Dieser stressige Job erlaubte es ihr jedoch nicht, kreativ zu sein, weshalb | |
sie beschloss, ihr Leben drastisch zu ändern, wie sie der taz im Gespräch | |
verrät: „Eines Nachts kam mir die Idee, nach Berlin zu ziehen. Ich | |
beschloss, alles liegen zu lassen, und zwei Monate später war ich hier. Das | |
war die beste Entscheidung meines Lebens.“ | |
Während der Coronapandemie fing sie schließlich an, „Silhouettes“ zu | |
schreiben und arbeitet mittlerweile an ihrem zweiten Album. Ihre Rolle | |
sieht sie dabei ausdrücklich als Komponistin, nicht als Instrumentalistin: | |
„Seit meiner Kindheit nahm ich jedes Instrument in die Hand, das ich | |
kriegen konnte. Doch meins – das kann ich noch immer nicht finden.“ | |
Am 13. September wird Justina Jaruševičiūtės Musik vom Deutschen | |
Symphonie-Orchester Berlin im Rahmen eines Sonderkonzerts von Sven Helbigs | |
Radioshow „Schöne Töne“ im Haus des Rundfunks zusammen mit Werken anderer | |
zu hören sein. | |
31 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kulturhauptstadt-Kaunas/!5824032 | |
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[3] /Heavy-Metal-in-Nordischen-Botschaften/!5947239 | |
[4] /Musikszene-Litauens/!5980929 | |
## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
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