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# taz.de -- Paramilitärische Organisation in Estland: Jung, patriotisch und ge…
> In Estland werden immer mehr Jugendliche militärisch ausgebildet, um im
> Ernstfall ihr Land verteidigen zu können. Wie problematisch ist das?
Bild: Für viele Jugendliche ist der Freiwilligenverband vor allem Zeitvertreib…
Narva und Tallinn taz | Ein Wald in Läänemaa, 90 Kilometer westlich von
Tallinn. Die Frühlingssonne scheint, die Vögel feiern Hochzeit. Und dann,
irgendwo aus dem Gestrüpp, kommt Geschrei. Vier Teenager rennen los, ihre
Ausrüstung schlenkert dabei durch die Luft. Da, hinter einem Busch liegt
ein Soldat, dem eine Mine das rechte Bein abgerissen hat. Erfreulicherweise
hört sein Geschrei sofort auf, als sie ihn erreichen. Er stützt sich auf
seine linke Hand, drückt mit der rechten rhythmisch eine kleine Pumpe,
sodass munter Blut aus dem Beinstumpf spritzt, und schaut beinahe etwas
gelangweilt zu, wie die vier hektisch beraten, was zu tun ist. In holprigen
Stimmbruch-Stimmen reden sie durcheinander, die Zeit läuft. Dann scheinen
sie sich nach und nach zu erinnern: Den Verletzten ansprechen, Blutung
stoppen, mit dem Walkie-Talkie Sanitäter rufen und … war da noch was?
Gut für alle Beteiligten, dass das hier eine Übung ist, eine Mischung aus
Manöver und Wettbewerb, organisiert vom [1][Kaitseliit], dem
Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte. Die Organisation ist ein
hervorragendes Untersuchungsobjekt, wenn man etwas über das
Selbstverständnis der Est:innen erfahren will, über ihre Geschichte und
ihre Zukunftsängste. Und über das komplizierte Zusammenleben von ethnischen
Est:innen und der russischstämmigen Minderheit.
Der große Mann, der mit Offiziersmütze auf dem Kopf neben der
Minenopfer-Szene steht und sich alles genau angeschaut hat, ruft, dass die
Zeit um ist. Gut hätten sie das gemacht. Wenn sie nicht alle schon zehn
Meter weiter vorne von einer anderen Mine erwischt worden wären. „Schärft
es euch ein: Immer! Zuerst! Die Umgebung sichern!“ Josua, 16, der Anführer
der Einheit, ärgert sich: „Wir wollen hier gut abschneiden, damit wir zum
nationalen Wettbewerb können und …“ Einer seiner Teammitglieder ruft ihm
etwas zu und er schaut sich nervös um: „Er hat irgendwas gehört … könnte
der Feind sein.“ Sie schauen kurz nach, es war nicht der Feind. Und schon
verschwinden sie wieder im endlosen Birken- und Sumpfgelände West-Estlands.
108 Menschen in Tarnanzügen rennen hier 36 Stunden lang, teilweise ohne
Schlaf, in Vierereinheiten durch die Wildnis. Die Erwachsenen mit echten
Waffen, die Minderjährigen mit Attrappen, die unter 16-Jährigen ohne.
Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer sind Jugendliche. Sie navigieren von
Checkpoint zu Checkpoint, an denen sie verschiedene Aufgaben bestehen
müssen: Sie quälen sich durch Parcours, paddeln durch Sümpfe, spähen
feindlichen Stellungen aus, machen Feuer, lösen unter simuliertem
Gefechtslärm Navigations-Rätsel oder wehren mit Schlagstöcken Angreifer ab.
Dabei müssen sie immer wieder feindlichen Patrouillen ausweichen.
## Junge Adler und Heimat-Töchter
Normalerweise gebe es auch immer noch Schießübungen, sagen alle, die man
nach den Gewehren fragt. Einmal noch mit der Ergänzung: „Vielleicht wurde
das gestrichen, weil dieses Mal ein Journalist dabei ist.“ Man hätte
nämlich schon einmal schlechte Erfahrungen mit einem anderen Journalisten
gemacht. 2017 gab es großen Unmut in Estland und Litauen, als ein
italienischer Reporter gezielt jugendliche Mitglieder der jeweiligen
Freiwilligenverbände mit Waffen in den Händen fotografierte. Man
verdächtigte ihn damals, Finanzierung aus Russland für anti-baltische
Propaganda erhalten zu haben, die die Länder als nationalistisch und
kriegstreiberisch darstellen sollte.
Seit aber aller Welt klar ist, dass diese Attribute auf Russland selbst
zutreffen, scheint man deutlich weniger Hemmungen zu haben, vor dem Ausland
zu seinen Waffen tragenden Bürger:innen zu stehen. Der Kaitseliit sind
Est:innen, die sich militärisch ausbilden lassen, um die reguläre Armee im
Ernstfall zu unterstützen. Im Wortlaut heißt es aus der Pressestelle, die
Aufgaben seien „militärische Verteidigung und Widerstand, Schutz der
Bevölkerung, innerer Sicherheit und gewaltloser Widerstand“. Der Verband
untersteht ganz regulär dem Verteidigungsministerium und wird von diesem
finanziert. 28.000 Mitglieder zählt er zurzeit insgesamt, schon mit sieben
Jahren kann man einer der Jugendorganisationen beitreten.
Die Jungen heißen Noored Kotkad – Junge Adler – und die Mädchen Kodutütr…
– Heimat-Töchter. Sie lernen nicht nur militärische Grundlagen, sondern
auch estnische Geschichte. Und „was es bedeutet, Este zu sein“, sagt
Helmuth Martin Reisner, der vor der Fahrt in die Wildnis nach einem
aufwändigen Sicherheitscheck im Verteidigungsministerium in Tallinn den
Freiwilligenverband ganz offiziell erklären soll: „Der Kaitseliit ist ein
lebenswichtiger Teil unserer Verteidigungspolitik und wird von der gesamten
Bevölkerung befürwortet.“ Das einzige Problem sei, dass die Nachfrage so
groß sei, vor allem seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Man
arbeite daran, mehr Ortsgruppen zu gründen und mehr Ausbildungspersonal
stellen zu können.
Eine paramilitärische Organisation also, in der engagierte Bürger:innen
einen gewissen Patriotismus pflegen können und sich fit halten für den
Fall, dass ihr Land und dessen demokratische Werte gegen Aggressoren
verteidigt werden muss. Und tatsächlich findet in Estland daran kaum jemand
etwas bedenklich. Wenn man sich umhört, dann werden die
Kaitseliit-Mitglieder hier und da als Pfadfinder:innen mit
Waffen-Fimmel auch mal etwas belächelt, aber tendenziell ist man dankbar,
fast jede:r hat Verwandte oder Bekannte, die mitmachen. Und: Kaum jemand
versteht die Irritation des Deutschen bei Namen wie Heimat-Töchter und
Junge Adler und der Vorstellung, dass da schon Kinder und Jugendliche
spielerisch ans Militär herangeführt werden.
„Da ganz links ist ein T-14!“, ruft Marili, 16, ohne ihren Feldstecher von
den Augen zu nehmen. Sie liegt an einem anderen Checkpoint neben ihren drei
Kamerad:innen auf dem Waldboden, unter einer Tarnplane und starrt
weiter ins Dickicht, wo die Prüfer Miniatur-Panzer, Miniatur-Lastfahrzeuge
und Miniatur-Kampfhubschrauber versteckt haben, die die Gruppe
identifizieren soll. Als Letzte von den vier ist sie eben am Checkpoint
angekommen, die rot gefärbten Haarsträhnchen verschwitzt. Ihre
Maschinengewehr-Attrappe ist so schwer wie eine echte und sie schleift es
beinahe hinter sich her, unter den „Auf! Auf!“-Rufen der Prüfer. Als das
Panzer-Erspähen dann vorbei ist, legen sich die Jugendlichen für ein paar
Minuten ins Gras, trinken aus Feldflaschen, kauen Nussriegel.
Für sie und ihre Freunde ist der Kaitseliit in erster Linie ein
Zeitvertreib. Man erlebt und lernt was, lernt neue Freunde kennen. Aber ja,
natürlich gehe es auch darum, ihr Land zu verteidigen. „Aber das mit den
Waffen ist ehrlich gesagt nicht so mein Ding“, ergänzt sie. Auf die Info,
dass laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov nur elf
Prozent der Deutschen ihr Land im Ernstfall mit der Waffe verteidigen
würden, während es in Estland laut einer Umfrage des estnischen
Verteidigungsministeriums 66 Prozent sind, lächelt das Team nur verwirrt:
„Warum das denn …?“
Die Antwort dürfte in den unterschiedlichen Historien der beiden Länder
liegen. Während Dingen wie Patriotismus, nationaler Identität und Militär
in Deutschland aus naheliegenden geschichtlichen Gründen eher misstraut
wird, werden sie in Estland als lebensnotwendig wahrgenommen. Das kleine
Land war den allergrößten Teil seiner Geschichte über von fremden Mächten
besetzt. Besonders prägend und im Gedächtnis vieler Est:innen noch
relativ frisch ist die Sowjet-Besatzung. Viele ethnische Est:innen können
von Eltern oder Großeltern erzählen, die während der ersten Besatzung 1940
verhaftet, umgebracht oder nach dem Krieg nach Sibirien deportiert wurden,
gut 20.000 insgesamt, vor allem Frauen und Kinder.
Gleichzeitig haben auch nicht wenige Esten im Zweiten Weltkrieg auf Seiten
der Deutschen gekämpft. Für Alfons Rebane zum Beispiel, Offizier der
Waffen-SS, existiert sogar eine Gedenktafel, vor der regelmäßig frische
Blumen niedergelegt werden. Auch er war als junger Mann im Kaitseliit, der
seinen Ursprung im estnischen Unabhängigkeitskrieg (1918–1920) hat – und
hier ist man als Deutscher dann doch wieder irritiert. Allerdings gelten
Figuren wie Rebane in Estland nicht als Nazis, sondern als
Freiheitskämpfer. Denn die erste estnische Unabhängigkeit von 1920 bis 1940
wurde von den Sowjets beendet, die gleich nach der Besetzung begannen,
Tausende Est:innen zu verhaften und hinzurichten.
Als ein Jahr später die Deutschen die Russen vertrieben, nahm man sie erst
als Befreier wahr. Allerdings kämpften auch viele Est:innen auf der Seite
der Sowjets. Die estnische Geschichte bestand meistens aus der Wahl
zwischen zwei Übeln. Nur waren es zuletzt eben die Russen, die den
Est:innen ihren Willen aufzwangen. Und dementsprechend schlecht ist man
auf sie zu sprechen.
Die feindlichen Einheiten, die während der Übung die Straßen mit ihren
Einsatzfahrzeugen patrouillieren, werden augenzwinkernd die
„Zwiebel-Republik“ genannt, ein anderes Wort für Russland. Und auch, wenn
in diesem Kontext eindeutig der Staat Russland gemeint ist: Sibul – Zwiebel
– ist auch eine abfällige estnische Bezeichnung für diejenigen Est:innen,
deren Muttersprache Russisch ist. Manche sagen, wegen der Zwiebeltürme
orthodoxer Kirchen, manche, weil Russen früher oft Zwiebeln verkauft
hätten. 25 Prozent der Bevölkerung gehören jedenfalls zu dieser in sich
wieder relativ heterogenen Gruppe.
Die Familien der meisten wurden während der Sowjet-Besatzung aus
verschiedenen Teilen der UdSSR in Estland angesiedelt, die meisten von
ihnen sind heute estnische Staatsbürger:innen. Und verschwindend wenige von
ihnen sind im Kaitseliit. Obwohl es für estnische Staatsbürger keine
Aufnahmebeschränkungen gibt. „Unsere russischen Mitschüler:innen würden
hier nie mitmachen“, sagt Marili. Sie habe überhaupt nichts gegen sie, aber
sie seien eben anders – undiszipliniert, hibbelig, laut – gängige
stereotype Attribute, die jungen Russischsprachigen zugeordnet werden.
Ist das vielleicht der Haken an der ganzen Sache? Sind diese Paramilitärs
ein exklusiver Verein, in dem ein ethnisch-estnischer Nationalismus
herangezüchtet wird? Erstmal nur so viel: Man sollte Aussagen wie der von
Marili nicht gleich Chauvinismus unterstellen. Das Verhältnis von
estnischen Esten und russischsprachigen Esten ist nämlich komplex und stark
davon abhängig, wen man fragt. Von älteren Est:innen, die teilweise in der
Roten Armee gedient haben, kann man wüste Dinge über Russen hören. Vor
allem, wie besessen sie von Gewalt seien. Wobei dann nie ganz klar ist, wer
gemeint ist – die Russen, die die Ukraine angegriffen haben? Die Sowjets?
Die Männer, die früher ihre Kameraden waren und die auch heute noch ihre
Nachbarn sind? Oder allgemein von der russischen Kultur geprägte Menschen?
Bei Nachfragen wird dann oft ausgewichen: „Jeder ist Este, der unsere Werte
akzeptiert und Estnisch sprechen kann“, sagt ein älterer Ausbilder. Sprache
ist ein großes Thema, sie ist zentral für die estnische Identität und ihre
Beherrschung Bedingung für die Staatsbürgerschaft. Trotzdem sprechen sie
viele, vor allem ältere Russischstämmige, vor allem im Osten des Landes,
nicht. Sie stehen dann auch schnell unter dem Verdacht, weiterhin
ausschließlich russisches Fernsehen zu konsumieren, das seit dem Angriff
auf die Ukraine in Estland eigentlich verboten ist, und in der Gedankenwelt
von Putins Russland zu leben.
Spricht man mit jungen Est:innen, egal ob aus russisch- oder
estnischsprachigen Familien, dann scheint das Verhältnis zwischen den
Gruppen in der Regel deutlich entspannter zu sein. Man bestreitet gewisse
Unterschiede zwar nicht, sieht aber in der Regel keinen Grund, einander zu
misstrauen. Estnischsprachige sagen, anders als ihre Eltern, auch eher
„russischsprachige Esten“ als einfach „Russen“, wenn diese Spezifizieru…
überhaupt notwendig ist. Viele haben einen estnisch- und einen
russischsprachigen Elternteil. Auch Freundeskreise mischen sich immer
öfter, auch, weil eben viele junge Russischstämmige fließend Estnisch
sprechen. Man geht gemeinsam jede Woche vor der russischen Botschaft in
Tallinn gegen den [2][Krieg in der Ukraine] demonstrieren – und das schon
seit 2014.
Aber auch das ist wieder nur ein Teil der Wahrheit. Man hört oft, dass es
einen gewissen Unterschied zwischen den in Tallinn und den im Osten
lebenden Russischsprachigen gebe. Erstere seien besser integriert und
hätten ein höheres Bildungsniveau. Letztere kämen wenig in Kontakt mit der
estnischsprachigen Mehrheit und würden sich weniger mit dem Land
identifizieren. Und es mag vielleicht kein ganz verlässlicher Indikator
sein – aber wenn der Kaitseliit ein Angebot für alle Est:innen ist, sich
für ihr Land zu engagieren, warum tritt dann auch vom russischsprachigen
Nachwuchs kaum jemand den Jungen Adlern oder den Heimat-Töchtern bei?
Helmuth Martin Reisner vom Verteidigungsministerium sagt, das liege vor
allem daran, dass die meisten Russischsprachigen in urbanen Gegenden leben,
wo Outdoor-Aktivitäten, die einen Großteil des Kaitseliit-Programms
ausmachen, einfach nicht so beliebt seien. Man sehe aber vor allem die
Jugendorganisationen eigentlich als ein gutes Instrument zur Integration
und die Statistiken zeigen, dass die wenigen Russischsprachigen, die
Mitglieder sind, später einmal ein höheres Einkommen und bessere
Aufstiegschancen hätten. Das Durchschnittseinkommen von Russischsprachigen
liegt im Baltikum etwa zehn bis zwölf Prozent unter dem der jeweiligen
ethnischen Mehrheit.
Es gibt sie aber, diejenigen, die russischer Herkunft sind und Estland im
Ernstfall verteidigen wollen. In Narva, besagter Grenzstadt mit 95 Prozent
russischsprachigen Einwohnern und 30 Prozent mit russischer
Staatsbürgerschaft, hat die einzige russischsprachige Kaitseliit-Gruppe
ihren Sitz, mit 120 Mitgliedern. Die drittgrößte estnische Stadt bietet ein
anderes Bild als Tallinn: alles ein bisschen heruntergekommener, viele
hässliche Mehrfamilienhäuser aus der Sowjetzeit. Direkt am Fluss Narva ragt
eine große mittelalterliche Grenzfestung empor, wie auch am
gegenüberliegenden russischen Ufer, der Stadt Iwangorod.
Der Kaitseliit hat in Narva sein eigenes Haus und Vladislav Eglet, Chef der
Jugendgruppen, bittet in einem Raum Platz zu nehmen, dessen Wände behangen
sind mit allen möglichen Wimpeln und Urkunden. Er bleibt lange vor einem
eingerahmten Bild stehen, auf dem ein estnisches Gedicht steht, eingerahmt
von einer großen Biene und einem Bienenstock, das in den estnischen Farben
– Blau, Schwarz, Weiß – angemalt ist. In dem Gedicht gehe es darum, dass
alle Est:innen verschiedene Lebenswege einschlagen und dann trotzdem alle
in den gemeinsamen Bienenstock heimkehren.
Mit ihm ist eine Teenagerin gekommen, Maria. Auf die Frage, ob es in Narva
Leute gibt, die es ihr übelnehmen, dass sie bei den Heimat-Töchtern
mitmacht, muss sie lachen. „Ach was. Viel komischer, dass ich als
Russischsprachige beim Kaitseliit bin, finden die, dass ich ein Mädchen bin
und mich für Militärsachen interessiere“, sagt die 16-Jährige, deren Look …
Septum-Piercing, gefärbte Haare, Schlabberpulli – eher an Billie Eilish als
an eine Heimat-Tochter denken lässt. Vladislav ergänzt: „Hier in Narva
wären wir die Ersten, die von einem russischen Angriff betroffen wären. Und
wir wollen um jeden Preis unsere Heimat, Estland, verteidigen.“ Die
Einstellung der meisten hier in Narva zum Kaitseliit sei neutral bis
positiv. Es gebe in Narva höchstens hundert bis zweihundert
unverbesserliche Putin-Fans.
Während er das sagt, haben sich ein paar hundert Meter weiter an der
Uferpromenade sicher mehr als tausend Menschen versammelt. Es ist der 9.
Mai, Tag des Sieges, und man hat direkt am russischen Ufer eine riesige
Bühne und Bildschirme aufgebaut, über den Fluss nach Narva gerichtet.
Stundenlang dröhnen Sowjet-Schlager und Sprüche wie „Putin ist mein
Präsident“ und „Russland ist das beste Land der Welt“ herüber.. Eine
Handvoll mutiger Jugendlicher mit Ukraine-Fahnen werden angeschrien,
bedroht. „Diese Leute spielen sich heute groß auf, aber keiner von denen
würde in Russland leben wollen“, sagt Vladislav. „Die wissen, wie gut es
ihnen hier in Estland geht.“
Maxim, 35, Unternehmer, sieht das anders: „Ich fühle mich hier manchmal wie
ein Bürger zweiter Klasse“, erzählt er bei einem Treffen in Tallinn. Seine
Muttersprache ist Russisch, aber er hat auch eine estnische Großmutter. Er
bezeichnet sich selbst als „Rustonian“. Offene Anfeindungen oder Ähnliches
habe er zwar nie erlebt, aber sein Leben lang das Gefühl gehabt, wegen
seines Namens und seiner Sprache irgendwie unten gehalten zu werden, ohne
dass er genau benennen könne, wie. „Dieses Gefühl hat sich seit dem
russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt“, sagt er.
Abgesehen von einigen wenigen Berichten von Bekannten, die beschimpft
wurden, als sie in der Öffentlichkeit russisch gesprochen haben, sind es
vor allem zwei Neuerungen, die innerhalb des letzten Jahres beschlossen
wurden und die ihn ärgern: Der [3][Unterricht in öffentlichen Schulen] soll
nur noch auf Estnisch stattfinden und sämtliche sowjetische Denkmäler im
öffentlichen Raum sollen abgerissen werden.
Maxim, der nicht mit seinem echten Namen genannt werden will, habe nichts
für das heutige politische Russland übrig, darum ginge es nicht. „Aber der
Kommunismus war ein großes – wenn auch schiefgegangenes – Experiment, an
dem sowohl Russen als auch Esten beteiligt waren, er ist Teil dieses
Landes. Aber heute wird so getan, als ob es eine simple Geschichte von Gut
und Böse, von Besatzern und Unterdrückten gewesen sei.“ Und wenn man wolle,
dass alle Estnisch lernen, dann müsse man auch Geld dafür ausgeben. Im
Moment gebe es bei Weitem nicht genug Lehrangebote, es würde erwartet, dass
sich die Schüler und Studenten die Sprache selbst beibringen. „Wenn der
estnische Staat Angst hat, dass sich irgendwelche Russischsprachigen im
Land radikalisieren, dann sollte er ihnen eher signalisieren: wir vertrauen
euch und wir wissen zu schätzen, was ihr kulturell zu diesem Land
beitragt.“
Was den Kaitseliit angeht, hat er das Gefühl, man wolle gar nicht wirklich,
dass allzu viele „Russen“ beitreten. Andererseits glaubt er auch nicht,
dass dort eine ideologische Indoktrination stattfinde. „Zumindest ist das
sicher nicht vergleichbar mit der gezielten Gehirnwäsche von jungen
Menschen, die seit Jahren in Russland betrieben wird.“
Aber wenn man genau hinschauen will, findet man, wie wohl in den meisten
Organisationen mit Militärbezug, auch im estnischen Freiwilligenverband
[4][Rechtsextremismus]. Tiina, Gründerin eines der vielen IT-Start-ups, auf
die Estland so stolz ist, zögert erst, über ihre Erfahrungen mit dem
Kaitseliit zu sprechen – ein Zögern, auf das man häufig stößt, wenn man
die Themen Verteidigung und Militär in Estland anspricht. Niemand will
einer unpatriotischen Haltung verdächtigt werden. Unter der Bedingung, dass
auch sie anonym bleibt, erzählt sie dann doch: 2018 wollte sie nach einem
Grundtraining einer Anti-Panzer-Spezialeinheit des Kaitseliit beitreten.
In deren Chat-Gruppe sah sie dann im Laufe der Zeit mehrere Nachrichten mit
rechtsextremem Inhalt, geschrieben vom Leiter der Einheit. Unter anderem
bot er Mitgliedern an, estnische Übersetzungen von „Mein Kampf“ bei ihm zu
kaufen. Tiina machte Screenshots und schickte sie einem Journalisten. Eine
Woche später wurde sie unter einem Vorwand aus der Einheit ausgeschlossen.
Auf Anfrage heißt es vom Pressesprecher des Kaitseliit, dass man zu diesem
Fall keine Aussage machen könne, aber dass „Mein Kampf“ in Estland nicht
verboten sei.
Verglichen mit den rechtsextremen Netzwerken in der Bundeswehr, die
teilweise gewaltsame Umstürze planen, scheint das zwar noch halbwegs
harmlos, zeigt aber, wie fließend der Übergang von Patriotismus zu
Nationalismus in solchen Organisationen ist. Was Estland angeht, lässt sich
aber nicht von der Hand weisen, dass es eine sehr reale Bedrohung durch ein
Nachbarland gibt. Den Kaitseliit deshalb als einen Haufen Waffen-Nerds mit
rechtsextremen Fantasien abzutun wäre falsch. Viele hier rechnen fest mit
einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten, vielleicht in einem,
vielleicht in zehn Jahren. Und viele glauben, dass es trotz
Nato-Verbündeter und Wehrpflicht in Estland wichtig ist, sich zusätzlich
als Einzelperson ein Minimum an Wehrhaftigkeit zuzulegen.
Die Reportage wurde unterstützt durch den von Renovabis und Hoffnung für
Osteuropa ausgeschriebenen Recherchepreis Osteuropa 2023
30 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.kaitseliit.ee/
[2] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5943919
[3] /Bildung-in-Estland/!5907729
[4] /Russische-Minderheit-im-Baltikum/!5889720
## AUTOREN
Kolja Haaf
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Estland
Verteidigung
Militär
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
wochentaz
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Frank-Walter Steinmeier
Lesestück Recherche und Reportage
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