# taz.de -- Paramilitärische Organisation für Frauen: Die Naiskodukaitse will… | |
> In Estland bereiten sich Frauen auf eine mögliche Invasion Russlands vor | |
> – auch deshalb, weil sie aus der Geschichte ihres Landes gelernt haben. | |
Bild: Nach dem militärischen Grundkurs beherrschen die Frauen der Naiskodukait… | |
Tallinn, Tartu und Pärnu taz | Distrikt Tartu, 550 Mitglieder.„Runter! Auf | |
den Boden! Haltet die Schnauze!“, zwei dunkel gekleidete Frauen mit | |
schwarzen Sturmhauben stürzen in den Raum. Die rechte brüllt, die linke | |
reißt die Arme hoch. Nur Augen und Mund sind durch die Löcher im schwarzen | |
Stoff erkennbar. In den Händen halten sie Schlagstöcke. Sieben Frauen | |
werfen sich von ihren Stühlen unter die Tische auf den Fußboden, bedecken | |
mit ihren Händen ihre Köpfe. | |
Es ist jetzt ganz still im Raum, bis die Linke brüllt: „Die Handys zu mir! | |
Sofort!“ Die Frauen legen ihre Mobiltelefone vor sich auf den Boden und | |
die, die eben noch gebrüllt hat, sammelt sie ein. Dabei verrutscht ihre | |
Sturmhaube. Sie rückt sie zurecht. „Bleibt unten! Alle hierüber in die | |
Mitte!“, befiehlt die andere Frau nun den unter den Tischen Kauernden, die | |
sofort in die Mitte kriechen. Sie sehen jetzt aus wie ein menschliches | |
Knäuel. | |
„Stopp! Danke, bis hierhin!“, unterbricht die Kursleiterin die Situation. | |
Es war nur eine Übung. Die beiden Angreiferinnen nehmen ihre Sturmhauben | |
ab, legen die Schlagstöcke weg. Das Knäuel auf dem Boden löst sich auf, die | |
Frauen setzen sich zurück auf ihre Plätze. „Was habt ihr erlebt?“, fragt | |
die Kursleiterin in den Raum. | |
Die Anstrengung der vergangenen Minuten ist ihnen anzumerken. Erst sammeln | |
die Frauen sich selbst und dann auf einem Flipchart ihre Empfindungen: | |
Kontrollverlust, Aggressivität, Enge, Lärm, Angst. Reale Empfindungen in | |
einer inszenierten Situation. Nach einer kurzen Pause sammeln sie auf einem | |
zweiten Flipchart Strategien für eine reale Geiselnahme: „Ruhig bleiben“ �… | |
„Anweisungen befolgen“ – „Umgebungsgeräusche wahrnehmen“. | |
An diesem Februarwochenende haben sich 23 Frauen auf dem Übungsgelände der | |
estnischen Militärakademie in Tartu versammelt. Sie sind zwischen 20 und 55 | |
Jahre alt und gekommen, um an einem Basistraining der Naiskodukaitse | |
teilzunehmen. Die Naiskodukaitse ist eine [1][Nebenorganisation der | |
Kaitseliit], dem Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, übersetzt | |
bedeutet ihr Name „Frauenverteidigung“. | |
## Die Naiskodukaitse ist eine reine Fraueneinheit | |
Als reine Fraueneinheit wird die Naiskodukaitse ursprünglich 1927 nach | |
finnischem Vorbild gegründet. Doch unter sowjetischer Besatzung werden | |
viele ihrer Mitglieder nach Sibirien deportiert und die Organisation wird | |
aufgelöst. Erst als Estland 1991 unabhängig wird, erfolgt die Neugründung. | |
Ihre Mitglieder müssen volljährig sein und die estnische Staatsbürgerschaft | |
besitzen. 46 Stunden Training im Jahr sind Pflicht. | |
Die Naiskodukaitse ist mit der Kaitseliit dem estnischen | |
Verteidigungsministerium untergeordnet und wird auch von ihm mit 600.000 | |
Euro jährlich finanziert. Im vergangenen Jahr erhielt die Kaitseliit | |
insgesamt 54 Millionen Euro vom Ministerium. Dieses Jahr sind es 58 | |
Millionen und 2026 werden es 60 Millionen Euro sein. | |
Die Kaitseliit soll sicherstellen, dass große Teile der Bevölkerung im | |
Ernstfall verteidigungsbereit sind. 2024 zählt die estnische Armee 7.100 | |
Soldat:innen und ist damit eher klein. Dagegen hat der | |
Freiwilligenverband 18.000 Mitglieder. Tritt der Ernstfall ein, untersteht | |
die Kaitseliit mit der Naiskodukaitse der militärischen Leitung der | |
estnischen Streitkräfte. | |
Distrikt Tallinn, 689 Mitglieder. Den Willen zur Verteidigung, den hätten | |
sie hier im Blut, so nah an Russland, sagt Elisa im Tallinner Hauptquartier | |
der Kaitseliit. Deshalb komme man eben hierher in die Naiskodukaitse. Der | |
gehört auch Elisa an. „Wir wollten uns selbst organisieren, nicht unter der | |
Kontrolle der Männer stehen. Für Frauen ist das hier ein geschützter Ort, | |
an dem sie ihren Zugang zum Militär entdecken können“, sagt Elisa. Sie hat | |
dunkelblonde Locken und ein warmes Lachen, sieht nicht wie eine Soldatin | |
aus. Aber wie sieht die schon aus? | |
„Die Ausbildung hier ist sehr praktisch“, sagt Elisa. „Das ist kein Töten | |
per Power Point.“ Die Frauen müssen bereit sein, an ihre persönlichen | |
Grenzen zu gehen. So sind zum Beispiel Schlafentzug oder das Tragen | |
schwerer Lasten Bestandteile des Trainings. Manche der Übungen finden in | |
Dunkelheit statt. Immer wieder setzen die Frauen sich auch mit moralischen | |
Fragen auseinander. Mit Frontalunterricht, sagt Elisa, habe all das wenig | |
zu tun. | |
Seit sechs Jahren arbeitet die Vierzigjährige hauptberuflich für die | |
Naiskodukaitse als Entwicklungsbeauftragte und hat die App „Ole valmis!“ | |
mitentwickelt, „Mach dich bereit!“. Die App gibt Anweisungen für | |
Krisensituationen. Ein Kapitel trägt die Überschrift „Verhalten in einem | |
besetzten Gebiet“. Denn die Vergangenheit, glaubt man hier in Estland, kann | |
schnell zur Gegenwart werden. | |
Wenn Elisa in die Vergangenheit schauen will, muss sie nur aus dem Fenster | |
gucken. Aus einem der hinteren sieht sie das Vabamu. Das estnische Wort | |
heißt auf Deutsch „Freiheit“. Es ist der Name des Okkupationsmuseums in | |
Tallinn, das direkt neben dem Hauptquartier liegt. Das Museum beschäftigt | |
sich mit der sowjetischen und nazideutschen Besatzung Estlands. | |
Estland ist ein junges Land, seit nicht einmal 34 Jahren ist es wieder | |
unabhängig. Immer wieder musste Estland Fremdherrschaften über sich ergehen | |
lassen: Dänemark, der Deutsche Orden, Polen-Litauen, Schweden, Russland, | |
Nazideutschland und [2][wieder Russland]. Die älteren Einwohner:innen | |
haben länger in einem abhängigen als in einem unabhängigen Staat gelebt. | |
Fast 300 Kilometer Grenze zu Russland, Nato-Ostflanke, EU-Außengrenze – | |
Estland hat eine geografische Schlüsselposition inne. Im gesamten Land | |
leben 1,3 Millionen Menschen. Fast die Hälfte von ihnen in der Hauptstadt | |
Tallinn. Außerhalb der Städte verlieren sich die Dörfer zwischen den Wiesen | |
und Wäldern, und die asphaltierten Straßen werden zu Schotterwegen. | |
## Sich und die eigene kleine Nation schützen | |
Staatliche Verteidigungsstrategien treffen auf ein großes inneres Anliegen | |
der estnischen Bürger:innen, sich selbst und die eigene kleine Nation zu | |
schützen – damit sich Geschichte nicht wiederholt. Das bringt einen | |
Patriotismus zum eigenen Land hervor, der uns in Deutschland aufgrund | |
unserer Vergangenheit befremden mag. | |
Das Hauptquartier der Kaitseliit ist zentral gelegen. Ein blassgelber | |
Altbau, der das Emblem der Kaitseliit trägt: einen Adler, der in der | |
rechten Kralle ein Schwert, in der linken das estnische Wappen hält. | |
Eisiger Januarwind pfeift um das Gebäude herum, in das eine Steintreppe | |
führt. Rechts liegen die Büros, links der Flaggensaal. In ihm reihen sich | |
zu drei Seiten alle fünfzehn Flaggen der Distrikte auf, in denen sich die | |
Naiskodukaitse über ganz Estland erstreckt. | |
Nur eine Wand hat keine Flaggen, an ihr hängt goldumrahmt ein Stück | |
Landesgeschichte. „Need, kes vabastasid Isamaa“ ist der Titel des Bildes, | |
zu Deutsch: „Diejenigen, die das Vaterland befreit haben.“ Marschierende | |
Menschen in Uniform, vom Esten Maximilian Maksolly mit Öl auf Leinwand | |
gemalt. Es ist eine Szene aus dem Estnischen Freiheitskrieg, in dem die | |
Kaitseliit von 1918 bis 1920 für die Unabhängigkeit von Russland gekämpft | |
und ihren Ursprung hat. | |
Die Geschichte zu dem Bild hat Elisa oft erzählt. Seit mehr als 17 Jahren | |
ist sie bei der Naiskodukaitse: „Ich habe als Studentin angefangen. Ich | |
wollte draußen im Wald sein. Mich um mein Land kümmern.“ Ihren Abschluss | |
hat die dreifache Mutter in Produktentwicklung an der Taltech, der | |
Technischen Universität in Tallinn, gemacht. In der Naiskodukaitse kann | |
sie beides verbinden. Wir nennen sie, wie die anderen Frauen in diesem | |
Text, nur beim Vornamen, um sie vor möglichen Repressalien durch Russland | |
zu schützen. | |
Bewaffnet und für Krisensituationen geschult, kann der Staat die | |
Naiskodukaitse für paramilitärische Aufgaben einsetzen. Obwohl die Einheit | |
nicht zum staatlichen Militär gehört, kann sich jede der Frauen in der | |
Naiskodukaitse als Soldatin ausbilden lassen und als Mitglied der | |
Reservearmee des Militärs dienen. Wer sich anders entscheidet, kann sich in | |
den Bereichen Krisenmanagement, medizinische Versorgung und | |
Katastrophenschutz schulen. Auch das Überleben in der Wildnis, | |
Selbstverteidigung und ein Feuerschutztraining sind Bestandteile der | |
Basisausbildung, die alle absolvieren müssen. | |
Im militärischen Grundkurs lernen die Frauen, mit verschiedenen Waffen | |
umzugehen, persönliche Tarnkleidung anzulegen und über Funk zu | |
kommunizieren. Alle von ihnen durchlaufen außerdem einen Lehrgang zur | |
Truppenführerin. „Jede hat am Ende schon mal eine Waffe gesehen und | |
angefasst, beherrscht die wichtigsten Schießpositionen“, sagt Elisa. | |
Trotzdem sagt sie auch: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich schießen würde. | |
Technisch kann ich es. Ich weiß, wie man die Waffe hält, wie man sie | |
abfeuert. Vielleicht ist es keine Frage mehr, wenn die Situation da ist. | |
Also, als Mutter würde ich wahrscheinlich schießen.“ | |
Dass so eine Situation schnell zur Realität werden kann, hat Elisa gleich | |
zu ihrer Anfangszeit in der Naiskodukaitse während der sogenannten | |
„[3][Bronzenacht“] erlebt. Die Nacht war für sie ein Schlüsselmoment: Am | |
Abend des 26. April 2007 beginnen in Tallinn die schwersten Unruhen seit | |
dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Grund für die Eskalation ist die | |
Versetzung des Bronzesoldaten im Stadtzentrum Tallinns auf einen | |
Kriegsgefallenenfriedhof außerhalb der Stadt. In Folge dieser demonstrieren | |
und randalieren Teile der russischsprachigen Bevölkerung in der Innenstadt. | |
Geschäfte werden geplündert und zerstört. Ein Mensch stirbt, 70 Menschen | |
werden verletzt. | |
Aus russischer Sicht symbolisiert der Bronzesoldat die Befreiung Tallinns | |
von der NS-Herrschaft 1944, für die Est:innen steht er für den erneuten | |
Verlust ihrer Unabhängigkeit. Zwei ganze Nächte dauern die Unruhen an. „Das | |
war das erste Mal, dass die estnische Regierung an alle Menschen eine SMS | |
verschickt hat: ‚Verhalten Sie sich ruhig! Gehen Sie nicht auf die | |
Straße!‘“, erinnert sich Elisa. „Natürlich wussten sie, wenn die | |
Naiskodukaitse jetzt rausgeht, in Uniform, dann kommt Russland vielleicht | |
mit Panzern.“ | |
Ein bewaffneter Konflikt mit Russland, das wird Elisa in diesem Moment | |
klar, ist nur einen Schritt, eine Entscheidung weit weg. Sie greift sich in | |
ihre dunkelblonden Locken, bindet sie zu einem Zopf zusammen. „Krieg ist | |
nichts, was nur die Soldat:innen tun. Krieg beeinflusst alle. Du kannst | |
nicht zu Hause sitzen und deine Blumen gießen, und der Krieg passiert | |
woanders.“ | |
## Mehr neue Mitglieder seit dem Angriff auf die Ukraine | |
Als 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschieren, sei der | |
Kriegsbeginn für alle ein Schock gewesen, sagt Elisa. Dennoch hätten sie | |
hier immer gewusst, dass es passieren würde. „Wie oft haben wir gehört: | |
Kommt endlich darüber hinweg, das ist nur eine posttraumatische | |
Belastungsstörung. Aber die russische Invasion in die Ukraine hat allen | |
gezeigt, dass wir nicht paranoid sind“, erzählt sie. Manche Nationen | |
änderten sich nicht. „Das ist ein imperialistisch denkendes Land und es | |
wird wahrscheinlich eine ganze Nation brauchen, um Estland zu schützen.“ | |
Daher sei der Krieg in der Ukraine von Beginn an ein Krieg gewesen, der die | |
Menschen in Estland betreffe und auch die Naiskodukaitse verändert habe: | |
„Vor 2022 hatten wir ungefähr 150 neue Mitglieder pro Jahr. Plötzlich | |
hatten wir in nur anderthalb Jahren 1.300 neue Mitglieder.“ Anfang 2025 | |
sind es 4.000. Elisa gibt das Zuversicht. | |
Vorbereitung sei das, was sie jetzt während der Friedenszeit tun könnten. | |
„Vor den Bomben haben die meisten keine Angst. Eine neue Okkupation wäre | |
viel schlimmer.“ Die Russ:innen, die seien in der Ukraine wie Tiere, höre | |
Elisa die Menschen in Estland immer wieder sagen. „Wir hoffen einfach, dass | |
Russland sieht, dass wir stark genug sind, die Nato stark genug ist und | |
dass sie dann nicht angreifen werden.“ | |
Über 1,3 Milliarden Euro – 3,43 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes – | |
gibt Estland 2024 für die Verteidigung aus. Es liegt damit auf [4][Platz | |
zwei der Nato-Mitgliedsstaaten]. Nur Polen liegt mit knapp über vier | |
Prozent vor Estland. Hanno Pevkur, der Verteidigungsminister Estlands, | |
sieht in den hohen Ausgaben die einzige Möglichkeit, eine starke | |
Nato-Ostflanke aufzubauen. „Wir bauen Wege für Kriegsinfrastruktur aus, | |
errichten Panzersperren und Bunkeranlagen an der Grenze zu Russland“, | |
schildert er die Pläne im Herbst 2024 im [5][Interview im | |
Deutschlandradio]. | |
Gemeinsam mit Lettland und Litauen realisiert Estland die Baltic Defence | |
Line, eine Verteidigungslinie entlang der Grenzen zu Russland und Belarus; | |
2022 auf dem Nato-Gipfel in Madrid beschlossen, als Reaktion auf die | |
russische Invasion in die Ukraine. Die Bauarbeiten haben inzwischen | |
begonnen. „Die Hoffnung, dass Russland ein demokratisches Land wird, haben | |
wir aufgegeben. Wir haben es 2008 in [6][Georgien] gesehen, 2014 auf der | |
Krim und 2022 nun wieder“, sagt Pevkur. | |
In seiner Stimme liegt Entschlossenheit, wenn er über Estlands Verhältnis | |
zu Russland spricht. „Der Grenzfluss Narva ist für mich immer auch eine | |
Grenze der Zivilisation gewesen. Auf russischer Seite gibt es eine | |
autoritäre Regierung. In Estland haben wir eine freie Gesellschaft. 1991 | |
haben wir uns dazu entschlossen, Teil des Westens zu sein.“ Das Baltikum | |
gehört seit 2004 zur Europäischen Union. Alle drei Länder treten im | |
gleichen Jahr der Nato bei. | |
Zurück in den Distrikt Tartu. Die Militärakademie von Tartu, in der die | |
Frauen an diesem Februartag das Basistraining absolvieren, liegt am | |
östlichen Ende der Stadt; gegenüber Plattenbauten aus Sowjetzeiten, davor | |
eine Wiese, Birken und Nadelbäume. Ein Kind übt im kalten Wind das | |
Fahrradfahren mit Stützrädern, begleitet von seiner Mutter. Sein Lachen | |
wird vom Wind in die Umgebung getragen. Alltag, der bis an die hohen Zäune | |
der Akademie heranreicht. Auf dem Gelände stehen verschiedene | |
Militärfahrzeuge neben breiten asphaltierten Wegen für Panzerfahrten, große | |
Hallen reihen sich links und rechts entlang der Wege auf. | |
Eine der Hallen ist eine Sporthalle, sie liegt im hinteren Teil des | |
Geländes. Innen grenzen schwarze und weiße Linien auf dem Hallenboden das | |
Spielfeld ein. Eine weitere Linie trennt das Feld in zwei gleichgroße | |
Hälften. Hier, keine Autostunde von Russland entfernt, wo fast auf den Tag | |
genau vor 105 Jahren der Friedensvertrag von Tartu unterzeichnet und die | |
Ländergrenzen zwischen Estland und Russland festgelegt wurden, wirken sie | |
wie eine politische Allegorie. | |
Epp steht mit den anderen 23 Frauen im Kreis. Gleich trainieren sie den | |
Nahkampf, eine weitere Station im heutigen Basistraining. Die beiden | |
Kursleiterinnen machen die erste Übung vor. Dann sollen es alle versuchen. | |
Zweier- und Dreiergruppen verteilen sich in der Halle. Epp und ihre | |
Kampfpartnerin Kristiina nehmen Position ein: eine Schulterbreite Abstand | |
zwischen den Füßen, das Körpergewicht auf beide Beine verlagert, die Füße | |
bilden eine Diagonale. | |
Sie bewegen sich in schnellen Vor- und Rückwärtsschritten über die Linien | |
des Hallenbodens hinweg. Mit der geraden Führhand versuchen sie, ihr | |
Gegenüber auf Distanz zu halten. Mit der anderen Hand, der Schlaghand, | |
versuchen sie, die Faust ihres Gegenübers zu treffen. Die meisten hier | |
tragen Leggings und T-Shirt, sind müde von der Woche und kämpfen heute zum | |
ersten Mal. Epp hat triftige Gründe, weshalb sie ihr Wochenende hier | |
verbringt: „Der Ukrainekrieg hat alles wieder konkreter gemacht. Meine | |
Großeltern wurden während der Sowjetzeit nach Sibirien deportiert. Ich will | |
mich nicht von meiner Angst überwältigen lassen, aber dass die Bedrohung da | |
ist, ist klar.“ | |
Die Atmosphäre in der Halle ist konzentriert. Epp und Kristiina sollen | |
jetzt Kraft aus kleinen Bewegungen entwickeln, dabei nah genug an ihr | |
Gegenüber gelangen und gleichzeitig wenig Angriffsfläche bieten, eine | |
Technik für Stresssituationen. „2022 war ich in Deutschland, kurz nach | |
Kriegsbeginn“, sagt Epp. „Da ist mir klar geworden, dass nicht alle dieses | |
Bewusstsein haben. Für viele Deutsche war das viel weiter weg, dass | |
wirklich was passieren kann.“ Sie zielt mit der Schlaghand in Kristiinas | |
Richtung. | |
## Wann fängt ein Krieg an? | |
Wann fängt ein Krieg an? In gewisser Weise ist er in Estland schon da. | |
Leise, subtil, beinahe unbemerkt ist er zurückgekommen. Nicht im | |
völkerrechtlichen Sinne, es gibt keinen bewaffneten Konflikt. Aber wenn | |
Grenzbojen im Grenzfluss Narva von russischen Grenzschutzbeamten entfernt, | |
immer wieder GPS-Signale im estnischen Luftraum von Russland gestört, | |
Unterseekabel beschädigt und russische Cyberangriffe auf Ministerien in | |
Estland verübt werden – dann sind das Akte einer hybriden Kriegsführung. | |
Dann verwischen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden. | |
Der hybride Krieg ist nicht im internationalen Recht definiert. Die | |
Zustände von Krieg und Frieden aber in ihrer Divergenz aufzulösen, ist ein | |
politisches Machtinstrument, das eine staatliche Ordnung in einen Zustand | |
der Undefiniertheit überführt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt | |
unterwandert. Fängt man so Krieg an? | |
Auf einem Schotterplatz neben der Sporthalle findet nun das | |
Brandschutztraining statt. Für Kristiina ist es das erste innerhalb des | |
Basistrainings. Sie spricht Deutsch mit bayerischem Dialekt, war lange in | |
München für das Studium und die Arbeit. Erst vor Kurzem kam sie zurück: | |
„Heimat ist Heimat“, sagt sie. Und weil Heimat Heimat ist, ist sie jetzt in | |
der Naiskodukaitse. „Als ich hier ankam, dachte ich, es sind unruhige | |
Zeiten, also wird es Zeit. Wir kennen die Russen.“ Viele kämen zum | |
Freiwilligenverband, um sich die Angst zu nehmen, sagt Kristiina – sie | |
selbst auch: „Dann weiß ich, was zu tun ist, wenn es so weit ist.“ | |
Ein Brandmeister der örtlichen Feuerwehr zeigt, wie der Feuerlöscher | |
bedient werden muss, auf was es beim Löschen ankommt. Danach sollen es die | |
Frauen selbst versuchen. Kristiina ist die Erste. Mit dem Zeigefinger der | |
rechten Hand entfernt sie den Sicherheitsstift des Feuerlöschers, platziert | |
sich in Windrichtung, sodass die Flammen nicht in ihre Richtung schlagen. | |
Sie löst die Löschpistole aus der Halterung, zielt in die Glut und verteilt | |
den Löschschaum von unten nach oben stoßweise über das Feuer. Unter | |
zischenden Geräuschen legt sich der Schaum über die Flammen. Innerhalb | |
weniger Sekunden ist nur noch Rauch zu sehen, der mit dem Wind über das | |
Gelände zieht. Kristiina hat das Feuer gelöscht. Die Nächste macht sich | |
bereit. | |
Es sind unspektakuläre Szenen. Vielleicht, weil das Feuer so klein ist. | |
Vielleicht, weil die Frauen es selbst anzünden. Vielleicht, weil es in | |
Friedenszeiten brennt. Und vielleicht ist die Übung damit Sinnbild für | |
politische Beziehungen zwischen Ländern. Dafür, dass man einen Brand | |
löschen muss, solange er noch kontrollierbar ist. | |
Ortswechsel, Distrikt Tallinn. „Auch das wird vorübergehen“, steht da, auf | |
Hebräisch unter den Kirschblüten auf Irinas Unterarm. Sie sagt, das Leben | |
sei sinusförmig. Weil sich alles im Leben schnell ändere, soll man die | |
guten Dinge genießen. Manchmal vergesse sie das, deshalb die Tattoos. Irina | |
ist in Moskau aufgewachsen, hat dort gelebt und als Intensivpflegekraft | |
gearbeitet, bis sie vor 13 Jahren nach Estland kam. | |
Nachdem sie einen Master in Psychologie abgeschlossen hat und Putin 2012 | |
wieder Präsident wird, fasst Irina einen Entschluss: „Ich wollte gehen, um | |
in Estland noch mal Design zu studieren. Aber ich wollte auch weg aus | |
Russland, das war eine Entscheidung für mich. Als ich an der Kunstakademie | |
angenommen wurde, war klar, ich konnte hier leben und arbeiten.“ | |
Seitdem wohnt die 43-Jährige in Tallinn. Sie trägt ihre dunkelblonden Haare | |
kurz, hat einen Sohn und eine jüngere Tochter, die sie allein großzieht. | |
Die Tochter ist in Estland geboren – in eine Realität, die Irina sich erst | |
erschließen musste: „Erst als ich hier ankam, verstand ich so richtig, dass | |
die Sowjetzeit für Estland eine Geschichte der Okkupation war. Ich hatte | |
einen estnischen Freund zu der Zeit, mit dem ich viel geredet habe, und ich | |
habe angefangen, mich genauer mit der estnischen Geschichte zu | |
beschäftigen.“ | |
Für Irina hat das den Blick auf ihre Heimat verändert. Es sei schwer für | |
sie, Kontakt zu ihrer Familie und zu den Verwandten zu halten, weil Putins | |
Propaganda sie abschotte. Mit der russischen Invasion in die Ukraine sei es | |
noch schwieriger geworden. Irina vertritt eine klare Position: „Ich hoffe | |
immer noch, dass der Krieg in der Ukraine bald endet, auch wenn ich nicht | |
weiß wie. Ich hoffe, dass Amerika die Ukraine nicht in eine | |
Verliererposition drängen wird.“ | |
2024 entscheidet sie sich, zur Naiskodukaitse zu gehen. Die Grundausbildung | |
hat sie schon abgeschlossen. „Die meisten brauchen zwei Jahre“, berichtet | |
sie. Irina hat es in weniger als der Hälfte der Zeit geschafft. Die | |
russische Invasion in die Ukraine habe ihr Angst gemacht: „Ich habe eine | |
elfjährige Tochter. Für sie wollte ich die Grundausbildung schnell zu Ende | |
bringen. Ich will vorbereitet sein.“ Irinas Blick ist ernst und | |
konzentriert. Sie spricht bedacht, wählt ihre Worte behutsam. | |
Wenn sie kommen, sagt sie, dann gebe es ohnehin keinen Ort, an den du gehen | |
kannst, dann musst du bleiben und wissen, was zu tun ist. „Ich habe zuerst | |
das Soldatinnen-Modul absolviert. Das war eine Herausforderung für mich“, | |
sagt sie. „Einmal haben wir drei Tage im Wald verbracht. Das waren | |
körperlich anstrengende Tage und ich musste mich zusammenreißen, alle | |
Aufgaben in der vorgegebenen Zeit richtig auszuführen. Ich habe in diesen | |
Tagen verstanden, wie hart das Soldatinnendasein ist.“ | |
Eines von Irinas Vorbildern sei immer Sarah Connor gewesen, die | |
Protagonistin aus den Terminator-Filmen. In ihnen kämpft Sarah Connor | |
gegen das Superintelligenzsystem „Skynet“, das 2029 die Welt durch einen | |
Atomkrieg zerstört, indem es das Verteidigungssystem der USA kontrolliert | |
und einen militärischen Angriff auf Russland initiiert. | |
Vor einiger Zeit hat Irina die estnische Staatsbürgerschaft angenommen und | |
noch einen Master in Gesundheitswissenschaften draufgesattelt. Ihr Vater | |
hat den Kontakt zu ihr abgebrochen. Irina will weitermachen, arbeitet | |
freiberuflich als Designerin und leitet eine Intensivstation in einem | |
Tallinner Krankenhaus. Bald wird sie auch die Kurse für die medizinische | |
Ausbildung in der Naiskodukaitse leiten. | |
Distrikt Pärnu, 230 Mitglieder. Ein Februartag im Seebad Pärnu, der | |
Sommerhauptstadt Estlands. Es sind fünf Grad, ein paar Menschen baden | |
trotzdem im Meer. Über dem Strand kreisen die Möwen, ihre Rufe hallen bis | |
in die Stadtmitte. Hinter Hotelanlagen und dem Rannapark bricht der Strand | |
ab. Der Himmel ist grau und Pärnu bunt. Zwischen den roten, grünen und | |
gelben Holzhäusern stadteinwärts kann man immer noch den Ostseewind spüren. | |
Schräg gegenüber vom Busbahnhof wird Estland am 23. Februar 1918 um acht | |
Uhr abends unabhängig. Dort, vom Balkon des Theaters Endla wird das | |
„Manifest kõigile Eestimaa rahvastele“, das „Manifest an alle Völker | |
Estlands“, verlesen; die Unabhängigkeitserklärung vom Russischen Reich, die | |
Gründungsurkunde der Republik Estland. Erst einen Tag später findet die | |
Verkündung in Tallinn statt. | |
Das Holzhaus der Kaitseliit steht keine 300 Meter von hier. Es ist beige | |
wie der Strand, bis auf die dunkelbraunen Verzierungen an Fassade und | |
Fenstern. Innen knarzt der Holzboden. Ave und Pille haben gerade einen Kurs | |
über Funkkommunikation für die Naiskodukaitse vorbereitet. | |
Ave ist schon länger dabei, die Vierzigjährige hat als Studentin der | |
Aquakultur in Tartu angefangen. Sie sagt, es sei ein paradoxer Zustand, | |
sich auf eine mögliche Realität vorzubereiten, die vielleicht nie eintrete: | |
„Neulich haben wir trainiert, starke Blutungen zu stillen. Blutungen, für | |
die ein Pflaster nicht reicht. Da waren auch zwei Frauen aus der Ukraine | |
dabei. Für die war das viel realer. Und hier wirst du erschossen, fällst zu | |
Boden und stehst wieder auf. Aber so funktioniert das im echten Leben | |
nicht.“ Inzwischen ist Ave bei der Kaitseliit angestellt und dafür | |
zuständig, die militärische Ausrüstung zu organisieren und zu verwalten. In | |
der Naiskodukaitse ist sie im Evakuierungsteam. Ave hat zwei Söhne, | |
dreizehn und sechzehn Jahre alt. | |
2022 war die Realität fast in Pärnu und ist dann doch weiter nach Tallinn | |
gefahren. Damals sollten die ersten ukrainischen Geflüchteten nach Pärnu | |
kommen. Vor Ort haben alle mit angepackt: Zelte und Betten aufgestellt, | |
psychologische Unterstützung organisiert, Medikamente besorgt und Essen für | |
Hunderte gekocht. Innerhalb weniger Stunden haben sie ein ganzes | |
Evakuierungslager aufgebaut. „Alles stand bereit, und dann gab es die | |
Anweisung, dass die Busse direkt nach Tallinn weiterfahren sollten“, | |
erzählt Pille. | |
Die zweifache Mutter ist Kindergärtnerin, hat einen Abschluss in Pädagogik. | |
Ihre jüngere Tochter ist gerade drei geworden. Bei der Naiskodukaitse ist | |
Pille jetzt seit gut zwei Jahren. „Wenn du hier viel machen willst, | |
brauchst du jemanden, der sich zu Hause um alles kümmert“, sagt sie. | |
„Manche von uns würden gerne öfter kommen, aber schaffen es nicht.“ Pille | |
glaubt man sofort, dass sie die Kinder und die Naiskodukaitse unter einen | |
Hut bekommt. | |
Nur, wenn der Ernstfall mit Russland einträte, wüsste sie auch nicht genau, | |
wie sie handeln würde: „Wir haben hier eine Mission, aber ich fühle mich | |
meiner Familie verpflichtet. Ich will gehen, aber gleichzeitig bleiben. | |
Vielleicht ist das etwas Weibliches, ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, | |
es wäre für die Männer leichter, an die Front zu gehen.“ | |
Die Unabhängigkeit hielt in Estland immer nur übergangsweise. Nach dem | |
Krieg war vor dem Krieg. Das Theater Endla, in dem Estland 1918 seine | |
Unabhängigkeit verkündet, brennt 1944 im Zweiten Weltkrieg ab; vier Jahre, | |
nachdem Estland erneut seine Unabhängigkeit an Russland verlor. Jetzt steht | |
hier ein Hotel. | |
„Ich bin nicht so weit, an die Front zu gehen“, sagt Ave, „aber es wird | |
konkreter. Du musst es nehmen, wie es kommt.“ | |
Den Krieg nehmen, wie er kommt – vielleicht ist das etwas Estnisches. | |
16 Mar 2025 | |
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