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# taz.de -- Paramilitärische Organisation für Frauen: Die Naiskodukaitse will…
> In Estland bereiten sich Frauen auf eine mögliche Invasion Russlands vor
> – auch deshalb, weil sie aus der Geschichte ihres Landes gelernt haben.
Bild: Nach dem militärischen Grundkurs beherrschen die Frauen der Naiskodukait…
Tallinn, Tartu und Pärnu taz | Distrikt Tartu, 550 Mitglieder.„Runter! Auf
den Boden! Haltet die Schnauze!“, zwei dunkel gekleidete Frauen mit
schwarzen Sturmhauben stürzen in den Raum. Die rechte brüllt, die linke
reißt die Arme hoch. Nur Augen und Mund sind durch die Löcher im schwarzen
Stoff erkennbar. In den Händen halten sie Schlagstöcke. Sieben Frauen
werfen sich von ihren Stühlen unter die Tische auf den Fußboden, bedecken
mit ihren Händen ihre Köpfe.
Es ist jetzt ganz still im Raum, bis die Linke brüllt: „Die Handys zu mir!
Sofort!“ Die Frauen legen ihre Mobiltelefone vor sich auf den Boden und
die, die eben noch gebrüllt hat, sammelt sie ein. Dabei verrutscht ihre
Sturmhaube. Sie rückt sie zurecht. „Bleibt unten! Alle hierüber in die
Mitte!“, befiehlt die andere Frau nun den unter den Tischen Kauernden, die
sofort in die Mitte kriechen. Sie sehen jetzt aus wie ein menschliches
Knäuel.
„Stopp! Danke, bis hierhin!“, unterbricht die Kursleiterin die Situation.
Es war nur eine Übung. Die beiden Angreiferinnen nehmen ihre Sturmhauben
ab, legen die Schlagstöcke weg. Das Knäuel auf dem Boden löst sich auf, die
Frauen setzen sich zurück auf ihre Plätze. „Was habt ihr erlebt?“, fragt
die Kursleiterin in den Raum.
Die Anstrengung der vergangenen Minuten ist ihnen anzumerken. Erst sammeln
die Frauen sich selbst und dann auf einem Flipchart ihre Empfindungen:
Kontrollverlust, Aggressivität, Enge, Lärm, Angst. Reale Empfindungen in
einer inszenierten Situation. Nach einer kurzen Pause sammeln sie auf einem
zweiten Flipchart Strategien für eine reale Geiselnahme: „Ruhig bleiben“ �…
„Anweisungen befolgen“ – „Umgebungsgeräusche wahrnehmen“.
An diesem Februarwochenende haben sich 23 Frauen auf dem Übungsgelände der
estnischen Militärakademie in Tartu versammelt. Sie sind zwischen 20 und 55
Jahre alt und gekommen, um an einem Basistraining der Naiskodukaitse
teilzunehmen. Die Naiskodukaitse ist eine [1][Nebenorganisation der
Kaitseliit], dem Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, übersetzt
bedeutet ihr Name „Frauenverteidigung“.
## Die Naiskodukaitse ist eine reine Fraueneinheit
Als reine Fraueneinheit wird die Naiskodukaitse ursprünglich 1927 nach
finnischem Vorbild gegründet. Doch unter sowjetischer Besatzung werden
viele ihrer Mitglieder nach Sibirien deportiert und die Organisation wird
aufgelöst. Erst als Estland 1991 unabhängig wird, erfolgt die Neugründung.
Ihre Mitglieder müssen volljährig sein und die estnische Staatsbürgerschaft
besitzen. 46 Stunden Training im Jahr sind Pflicht.
Die Naiskodukaitse ist mit der Kaitseliit dem estnischen
Verteidigungsministerium untergeordnet und wird auch von ihm mit 600.000
Euro jährlich finanziert. Im vergangenen Jahr erhielt die Kaitseliit
insgesamt 54 Millionen Euro vom Ministerium. Dieses Jahr sind es 58
Millionen und 2026 werden es 60 Millionen Euro sein.
Die Kaitseliit soll sicherstellen, dass große Teile der Bevölkerung im
Ernstfall verteidigungsbereit sind. 2024 zählt die estnische Armee 7.100
Soldat:innen und ist damit eher klein. Dagegen hat der
Freiwilligenverband 18.000 Mitglieder. Tritt der Ernstfall ein, untersteht
die Kaitseliit mit der Naiskodukaitse der militärischen Leitung der
estnischen Streitkräfte.
Distrikt Tallinn, 689 Mitglieder. Den Willen zur Verteidigung, den hätten
sie hier im Blut, so nah an Russland, sagt Elisa im Tallinner Hauptquartier
der Kaitseliit. Deshalb komme man eben hierher in die Naiskodukaitse. Der
gehört auch Elisa an. „Wir wollten uns selbst organisieren, nicht unter der
Kontrolle der Männer stehen. Für Frauen ist das hier ein geschützter Ort,
an dem sie ihren Zugang zum Militär entdecken können“, sagt Elisa. Sie hat
dunkelblonde Locken und ein warmes Lachen, sieht nicht wie eine Soldatin
aus. Aber wie sieht die schon aus?
„Die Ausbildung hier ist sehr praktisch“, sagt Elisa. „Das ist kein Töten
per Power Point.“ Die Frauen müssen bereit sein, an ihre persönlichen
Grenzen zu gehen. So sind zum Beispiel Schlafentzug oder das Tragen
schwerer Lasten Bestandteile des Trainings. Manche der Übungen finden in
Dunkelheit statt. Immer wieder setzen die Frauen sich auch mit moralischen
Fragen auseinander. Mit Frontalunterricht, sagt Elisa, habe all das wenig
zu tun.
Seit sechs Jahren arbeitet die Vierzigjährige hauptberuflich für die
Naiskodukaitse als Entwicklungsbeauftragte und hat die App „Ole valmis!“
mitentwickelt, „Mach dich bereit!“. Die App gibt Anweisungen für
Krisensituationen. Ein Kapitel trägt die Überschrift „Verhalten in einem
besetzten Gebiet“. Denn die Vergangenheit, glaubt man hier in Estland, kann
schnell zur Gegenwart werden.
Wenn Elisa in die Vergangenheit schauen will, muss sie nur aus dem Fenster
gucken. Aus einem der hinteren sieht sie das Vabamu. Das estnische Wort
heißt auf Deutsch „Freiheit“. Es ist der Name des Okkupationsmuseums in
Tallinn, das direkt neben dem Hauptquartier liegt. Das Museum beschäftigt
sich mit der sowjetischen und nazideutschen Besatzung Estlands.
Estland ist ein junges Land, seit nicht einmal 34 Jahren ist es wieder
unabhängig. Immer wieder musste Estland Fremdherrschaften über sich ergehen
lassen: Dänemark, der Deutsche Orden, Polen-Litauen, Schweden, Russland,
Nazideutschland und [2][wieder Russland]. Die älteren Einwohner:innen
haben länger in einem abhängigen als in einem unabhängigen Staat gelebt.
Fast 300 Kilometer Grenze zu Russland, Nato-Ostflanke, EU-Außengrenze –
Estland hat eine geografische Schlüsselposition inne. Im gesamten Land
leben 1,3 Millionen Menschen. Fast die Hälfte von ihnen in der Hauptstadt
Tallinn. Außerhalb der Städte verlieren sich die Dörfer zwischen den Wiesen
und Wäldern, und die asphaltierten Straßen werden zu Schotterwegen.
## Sich und die eigene kleine Nation schützen
Staatliche Verteidigungsstrategien treffen auf ein großes inneres Anliegen
der estnischen Bürger:innen, sich selbst und die eigene kleine Nation zu
schützen – damit sich Geschichte nicht wiederholt. Das bringt einen
Patriotismus zum eigenen Land hervor, der uns in Deutschland aufgrund
unserer Vergangenheit befremden mag.
Das Hauptquartier der Kaitseliit ist zentral gelegen. Ein blassgelber
Altbau, der das Emblem der Kaitseliit trägt: einen Adler, der in der
rechten Kralle ein Schwert, in der linken das estnische Wappen hält.
Eisiger Januarwind pfeift um das Gebäude herum, in das eine Steintreppe
führt. Rechts liegen die Büros, links der Flaggensaal. In ihm reihen sich
zu drei Seiten alle fünfzehn Flaggen der Distrikte auf, in denen sich die
Naiskodukaitse über ganz Estland erstreckt.
Nur eine Wand hat keine Flaggen, an ihr hängt goldumrahmt ein Stück
Landesgeschichte. „Need, kes vabastasid Isamaa“ ist der Titel des Bildes,
zu Deutsch: „Diejenigen, die das Vaterland befreit haben.“ Marschierende
Menschen in Uniform, vom Esten Maximilian Maksolly mit Öl auf Leinwand
gemalt. Es ist eine Szene aus dem Estnischen Freiheitskrieg, in dem die
Kaitseliit von 1918 bis 1920 für die Unabhängigkeit von Russland gekämpft
und ihren Ursprung hat.
Die Geschichte zu dem Bild hat Elisa oft erzählt. Seit mehr als 17 Jahren
ist sie bei der Naiskodukaitse: „Ich habe als Studentin angefangen. Ich
wollte draußen im Wald sein. Mich um mein Land kümmern.“ Ihren Abschluss
hat die dreifache Mutter in Produktentwicklung an der Taltech, der
Technischen Universität in Tallinn, gemacht. In der Naiskodukaitse kann
sie beides verbinden. Wir nennen sie, wie die anderen Frauen in diesem
Text, nur beim Vornamen, um sie vor möglichen Repressalien durch Russland
zu schützen.
Bewaffnet und für Krisensituationen geschult, kann der Staat die
Naiskodukaitse für paramilitärische Aufgaben einsetzen. Obwohl die Einheit
nicht zum staatlichen Militär gehört, kann sich jede der Frauen in der
Naiskodukaitse als Soldatin ausbilden lassen und als Mitglied der
Reservearmee des Militärs dienen. Wer sich anders entscheidet, kann sich in
den Bereichen Krisenmanagement, medizinische Versorgung und
Katastrophenschutz schulen. Auch das Überleben in der Wildnis,
Selbstverteidigung und ein Feuerschutztraining sind Bestandteile der
Basisausbildung, die alle absolvieren müssen.
Im militärischen Grundkurs lernen die Frauen, mit verschiedenen Waffen
umzugehen, persönliche Tarnkleidung anzulegen und über Funk zu
kommunizieren. Alle von ihnen durchlaufen außerdem einen Lehrgang zur
Truppenführerin. „Jede hat am Ende schon mal eine Waffe gesehen und
angefasst, beherrscht die wichtigsten Schießpositionen“, sagt Elisa.
Trotzdem sagt sie auch: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich schießen würde.
Technisch kann ich es. Ich weiß, wie man die Waffe hält, wie man sie
abfeuert. Vielleicht ist es keine Frage mehr, wenn die Situation da ist.
Also, als Mutter würde ich wahrscheinlich schießen.“
Dass so eine Situation schnell zur Realität werden kann, hat Elisa gleich
zu ihrer Anfangszeit in der Naiskodukaitse während der sogenannten
„[3][Bronzenacht“] erlebt. Die Nacht war für sie ein Schlüsselmoment: Am
Abend des 26. April 2007 beginnen in Tallinn die schwersten Unruhen seit
dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Grund für die Eskalation ist die
Versetzung des Bronzesoldaten im Stadtzentrum Tallinns auf einen
Kriegsgefallenenfriedhof außerhalb der Stadt. In Folge dieser demonstrieren
und randalieren Teile der russischsprachigen Bevölkerung in der Innenstadt.
Geschäfte werden geplündert und zerstört. Ein Mensch stirbt, 70 Menschen
werden verletzt.
Aus russischer Sicht symbolisiert der Bronzesoldat die Befreiung Tallinns
von der NS-Herrschaft 1944, für die Est:innen steht er für den erneuten
Verlust ihrer Unabhängigkeit. Zwei ganze Nächte dauern die Unruhen an. „Das
war das erste Mal, dass die estnische Regierung an alle Menschen eine SMS
verschickt hat: ‚Verhalten Sie sich ruhig! Gehen Sie nicht auf die
Straße!‘“, erinnert sich Elisa. „Natürlich wussten sie, wenn die
Naiskodukaitse jetzt rausgeht, in Uniform, dann kommt Russland vielleicht
mit Panzern.“
Ein bewaffneter Konflikt mit Russland, das wird Elisa in diesem Moment
klar, ist nur einen Schritt, eine Entscheidung weit weg. Sie greift sich in
ihre dunkelblonden Locken, bindet sie zu einem Zopf zusammen. „Krieg ist
nichts, was nur die Soldat:innen tun. Krieg beeinflusst alle. Du kannst
nicht zu Hause sitzen und deine Blumen gießen, und der Krieg passiert
woanders.“
## Mehr neue Mitglieder seit dem Angriff auf die Ukraine
Als 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschieren, sei der
Kriegsbeginn für alle ein Schock gewesen, sagt Elisa. Dennoch hätten sie
hier immer gewusst, dass es passieren würde. „Wie oft haben wir gehört:
Kommt endlich darüber hinweg, das ist nur eine posttraumatische
Belastungsstörung. Aber die russische Invasion in die Ukraine hat allen
gezeigt, dass wir nicht paranoid sind“, erzählt sie. Manche Nationen
änderten sich nicht. „Das ist ein imperialistisch denkendes Land und es
wird wahrscheinlich eine ganze Nation brauchen, um Estland zu schützen.“
Daher sei der Krieg in der Ukraine von Beginn an ein Krieg gewesen, der die
Menschen in Estland betreffe und auch die Naiskodukaitse verändert habe:
„Vor 2022 hatten wir ungefähr 150 neue Mitglieder pro Jahr. Plötzlich
hatten wir in nur anderthalb Jahren 1.300 neue Mitglieder.“ Anfang 2025
sind es 4.000. Elisa gibt das Zuversicht.
Vorbereitung sei das, was sie jetzt während der Friedenszeit tun könnten.
„Vor den Bomben haben die meisten keine Angst. Eine neue Okkupation wäre
viel schlimmer.“ Die Russ:innen, die seien in der Ukraine wie Tiere, höre
Elisa die Menschen in Estland immer wieder sagen. „Wir hoffen einfach, dass
Russland sieht, dass wir stark genug sind, die Nato stark genug ist und
dass sie dann nicht angreifen werden.“
Über 1,3 Milliarden Euro – 3,43 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes –
gibt Estland 2024 für die Verteidigung aus. Es liegt damit auf [4][Platz
zwei der Nato-Mitgliedsstaaten]. Nur Polen liegt mit knapp über vier
Prozent vor Estland. Hanno Pevkur, der Verteidigungsminister Estlands,
sieht in den hohen Ausgaben die einzige Möglichkeit, eine starke
Nato-Ostflanke aufzubauen. „Wir bauen Wege für Kriegsinfrastruktur aus,
errichten Panzersperren und Bunkeranlagen an der Grenze zu Russland“,
schildert er die Pläne im Herbst 2024 im [5][Interview im
Deutschlandradio].
Gemeinsam mit Lettland und Litauen realisiert Estland die Baltic Defence
Line, eine Verteidigungslinie entlang der Grenzen zu Russland und Belarus;
2022 auf dem Nato-Gipfel in Madrid beschlossen, als Reaktion auf die
russische Invasion in die Ukraine. Die Bauarbeiten haben inzwischen
begonnen. „Die Hoffnung, dass Russland ein demokratisches Land wird, haben
wir aufgegeben. Wir haben es 2008 in [6][Georgien] gesehen, 2014 auf der
Krim und 2022 nun wieder“, sagt Pevkur.
In seiner Stimme liegt Entschlossenheit, wenn er über Estlands Verhältnis
zu Russland spricht. „Der Grenzfluss Narva ist für mich immer auch eine
Grenze der Zivilisation gewesen. Auf russischer Seite gibt es eine
autoritäre Regierung. In Estland haben wir eine freie Gesellschaft. 1991
haben wir uns dazu entschlossen, Teil des Westens zu sein.“ Das Baltikum
gehört seit 2004 zur Europäischen Union. Alle drei Länder treten im
gleichen Jahr der Nato bei.
Zurück in den Distrikt Tartu. Die Militärakademie von Tartu, in der die
Frauen an diesem Februartag das Basistraining absolvieren, liegt am
östlichen Ende der Stadt; gegenüber Plattenbauten aus Sowjetzeiten, davor
eine Wiese, Birken und Nadelbäume. Ein Kind übt im kalten Wind das
Fahrradfahren mit Stützrädern, begleitet von seiner Mutter. Sein Lachen
wird vom Wind in die Umgebung getragen. Alltag, der bis an die hohen Zäune
der Akademie heranreicht. Auf dem Gelände stehen verschiedene
Militärfahrzeuge neben breiten asphaltierten Wegen für Panzerfahrten, große
Hallen reihen sich links und rechts entlang der Wege auf.
Eine der Hallen ist eine Sporthalle, sie liegt im hinteren Teil des
Geländes. Innen grenzen schwarze und weiße Linien auf dem Hallenboden das
Spielfeld ein. Eine weitere Linie trennt das Feld in zwei gleichgroße
Hälften. Hier, keine Autostunde von Russland entfernt, wo fast auf den Tag
genau vor 105 Jahren der Friedensvertrag von Tartu unterzeichnet und die
Ländergrenzen zwischen Estland und Russland festgelegt wurden, wirken sie
wie eine politische Allegorie.
Epp steht mit den anderen 23 Frauen im Kreis. Gleich trainieren sie den
Nahkampf, eine weitere Station im heutigen Basistraining. Die beiden
Kursleiterinnen machen die erste Übung vor. Dann sollen es alle versuchen.
Zweier- und Dreiergruppen verteilen sich in der Halle. Epp und ihre
Kampfpartnerin Kristiina nehmen Position ein: eine Schulterbreite Abstand
zwischen den Füßen, das Körpergewicht auf beide Beine verlagert, die Füße
bilden eine Diagonale.
Sie bewegen sich in schnellen Vor- und Rückwärtsschritten über die Linien
des Hallenbodens hinweg. Mit der geraden Führhand versuchen sie, ihr
Gegenüber auf Distanz zu halten. Mit der anderen Hand, der Schlaghand,
versuchen sie, die Faust ihres Gegenübers zu treffen. Die meisten hier
tragen Leggings und T-Shirt, sind müde von der Woche und kämpfen heute zum
ersten Mal. Epp hat triftige Gründe, weshalb sie ihr Wochenende hier
verbringt: „Der Ukrainekrieg hat alles wieder konkreter gemacht. Meine
Großeltern wurden während der Sowjetzeit nach Sibirien deportiert. Ich will
mich nicht von meiner Angst überwältigen lassen, aber dass die Bedrohung da
ist, ist klar.“
Die Atmosphäre in der Halle ist konzentriert. Epp und Kristiina sollen
jetzt Kraft aus kleinen Bewegungen entwickeln, dabei nah genug an ihr
Gegenüber gelangen und gleichzeitig wenig Angriffsfläche bieten, eine
Technik für Stresssituationen. „2022 war ich in Deutschland, kurz nach
Kriegsbeginn“, sagt Epp. „Da ist mir klar geworden, dass nicht alle dieses
Bewusstsein haben. Für viele Deutsche war das viel weiter weg, dass
wirklich was passieren kann.“ Sie zielt mit der Schlaghand in Kristiinas
Richtung.
## Wann fängt ein Krieg an?
Wann fängt ein Krieg an? In gewisser Weise ist er in Estland schon da.
Leise, subtil, beinahe unbemerkt ist er zurückgekommen. Nicht im
völkerrechtlichen Sinne, es gibt keinen bewaffneten Konflikt. Aber wenn
Grenzbojen im Grenzfluss Narva von russischen Grenzschutzbeamten entfernt,
immer wieder GPS-Signale im estnischen Luftraum von Russland gestört,
Unterseekabel beschädigt und russische Cyberangriffe auf Ministerien in
Estland verübt werden – dann sind das Akte einer hybriden Kriegsführung.
Dann verwischen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.
Der hybride Krieg ist nicht im internationalen Recht definiert. Die
Zustände von Krieg und Frieden aber in ihrer Divergenz aufzulösen, ist ein
politisches Machtinstrument, das eine staatliche Ordnung in einen Zustand
der Undefiniertheit überführt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt
unterwandert. Fängt man so Krieg an?
Auf einem Schotterplatz neben der Sporthalle findet nun das
Brandschutztraining statt. Für Kristiina ist es das erste innerhalb des
Basistrainings. Sie spricht Deutsch mit bayerischem Dialekt, war lange in
München für das Studium und die Arbeit. Erst vor Kurzem kam sie zurück:
„Heimat ist Heimat“, sagt sie. Und weil Heimat Heimat ist, ist sie jetzt in
der Naiskodukaitse. „Als ich hier ankam, dachte ich, es sind unruhige
Zeiten, also wird es Zeit. Wir kennen die Russen.“ Viele kämen zum
Freiwilligenverband, um sich die Angst zu nehmen, sagt Kristiina – sie
selbst auch: „Dann weiß ich, was zu tun ist, wenn es so weit ist.“
Ein Brandmeister der örtlichen Feuerwehr zeigt, wie der Feuerlöscher
bedient werden muss, auf was es beim Löschen ankommt. Danach sollen es die
Frauen selbst versuchen. Kristiina ist die Erste. Mit dem Zeigefinger der
rechten Hand entfernt sie den Sicherheitsstift des Feuerlöschers, platziert
sich in Windrichtung, sodass die Flammen nicht in ihre Richtung schlagen.
Sie löst die Löschpistole aus der Halterung, zielt in die Glut und verteilt
den Löschschaum von unten nach oben stoßweise über das Feuer. Unter
zischenden Geräuschen legt sich der Schaum über die Flammen. Innerhalb
weniger Sekunden ist nur noch Rauch zu sehen, der mit dem Wind über das
Gelände zieht. Kristiina hat das Feuer gelöscht. Die Nächste macht sich
bereit.
Es sind unspektakuläre Szenen. Vielleicht, weil das Feuer so klein ist.
Vielleicht, weil die Frauen es selbst anzünden. Vielleicht, weil es in
Friedenszeiten brennt. Und vielleicht ist die Übung damit Sinnbild für
politische Beziehungen zwischen Ländern. Dafür, dass man einen Brand
löschen muss, solange er noch kontrollierbar ist.
Ortswechsel, Distrikt Tallinn. „Auch das wird vorübergehen“, steht da, auf
Hebräisch unter den Kirschblüten auf Irinas Unterarm. Sie sagt, das Leben
sei sinusförmig. Weil sich alles im Leben schnell ändere, soll man die
guten Dinge genießen. Manchmal vergesse sie das, deshalb die Tattoos. Irina
ist in Moskau aufgewachsen, hat dort gelebt und als Intensivpflegekraft
gearbeitet, bis sie vor 13 Jahren nach Estland kam.
Nachdem sie einen Master in Psychologie abgeschlossen hat und Putin 2012
wieder Präsident wird, fasst Irina einen Entschluss: „Ich wollte gehen, um
in Estland noch mal Design zu studieren. Aber ich wollte auch weg aus
Russland, das war eine Entscheidung für mich. Als ich an der Kunstakademie
angenommen wurde, war klar, ich konnte hier leben und arbeiten.“
Seitdem wohnt die 43-Jährige in Tallinn. Sie trägt ihre dunkelblonden Haare
kurz, hat einen Sohn und eine jüngere Tochter, die sie allein großzieht.
Die Tochter ist in Estland geboren – in eine Realität, die Irina sich erst
erschließen musste: „Erst als ich hier ankam, verstand ich so richtig, dass
die Sowjetzeit für Estland eine Geschichte der Okkupation war. Ich hatte
einen estnischen Freund zu der Zeit, mit dem ich viel geredet habe, und ich
habe angefangen, mich genauer mit der estnischen Geschichte zu
beschäftigen.“
Für Irina hat das den Blick auf ihre Heimat verändert. Es sei schwer für
sie, Kontakt zu ihrer Familie und zu den Verwandten zu halten, weil Putins
Propaganda sie abschotte. Mit der russischen Invasion in die Ukraine sei es
noch schwieriger geworden. Irina vertritt eine klare Position: „Ich hoffe
immer noch, dass der Krieg in der Ukraine bald endet, auch wenn ich nicht
weiß wie. Ich hoffe, dass Amerika die Ukraine nicht in eine
Verliererposition drängen wird.“
2024 entscheidet sie sich, zur Naiskodukaitse zu gehen. Die Grundausbildung
hat sie schon abgeschlossen. „Die meisten brauchen zwei Jahre“, berichtet
sie. Irina hat es in weniger als der Hälfte der Zeit geschafft. Die
russische Invasion in die Ukraine habe ihr Angst gemacht: „Ich habe eine
elfjährige Tochter. Für sie wollte ich die Grundausbildung schnell zu Ende
bringen. Ich will vorbereitet sein.“ Irinas Blick ist ernst und
konzentriert. Sie spricht bedacht, wählt ihre Worte behutsam.
Wenn sie kommen, sagt sie, dann gebe es ohnehin keinen Ort, an den du gehen
kannst, dann musst du bleiben und wissen, was zu tun ist. „Ich habe zuerst
das Soldatinnen-Modul absolviert. Das war eine Herausforderung für mich“,
sagt sie. „Einmal haben wir drei Tage im Wald verbracht. Das waren
körperlich anstrengende Tage und ich musste mich zusammenreißen, alle
Aufgaben in der vorgegebenen Zeit richtig auszuführen. Ich habe in diesen
Tagen verstanden, wie hart das Soldatinnendasein ist.“
Eines von Irinas Vorbildern sei immer Sarah Connor gewesen, die
Protagonistin aus den Terminator-Filmen. In ihnen kämpft Sarah Connor
gegen das Superintelligenzsystem „Skynet“, das 2029 die Welt durch einen
Atomkrieg zerstört, indem es das Verteidigungssystem der USA kontrolliert
und einen militärischen Angriff auf Russland initiiert.
Vor einiger Zeit hat Irina die estnische Staatsbürgerschaft angenommen und
noch einen Master in Gesundheitswissenschaften draufgesattelt. Ihr Vater
hat den Kontakt zu ihr abgebrochen. Irina will weitermachen, arbeitet
freiberuflich als Designerin und leitet eine Intensivstation in einem
Tallinner Krankenhaus. Bald wird sie auch die Kurse für die medizinische
Ausbildung in der Naiskodukaitse leiten.
Distrikt Pärnu, 230 Mitglieder. Ein Februartag im Seebad Pärnu, der
Sommerhauptstadt Estlands. Es sind fünf Grad, ein paar Menschen baden
trotzdem im Meer. Über dem Strand kreisen die Möwen, ihre Rufe hallen bis
in die Stadtmitte. Hinter Hotelanlagen und dem Rannapark bricht der Strand
ab. Der Himmel ist grau und Pärnu bunt. Zwischen den roten, grünen und
gelben Holzhäusern stadteinwärts kann man immer noch den Ostseewind spüren.
Schräg gegenüber vom Busbahnhof wird Estland am 23. Februar 1918 um acht
Uhr abends unabhängig. Dort, vom Balkon des Theaters Endla wird das
„Manifest kõigile Eestimaa rahvastele“, das „Manifest an alle Völker
Estlands“, verlesen; die Unabhängigkeitserklärung vom Russischen Reich, die
Gründungsurkunde der Republik Estland. Erst einen Tag später findet die
Verkündung in Tallinn statt.
Das Holzhaus der Kaitseliit steht keine 300 Meter von hier. Es ist beige
wie der Strand, bis auf die dunkelbraunen Verzierungen an Fassade und
Fenstern. Innen knarzt der Holzboden. Ave und Pille haben gerade einen Kurs
über Funkkommunikation für die Naiskodukaitse vorbereitet.
Ave ist schon länger dabei, die Vierzigjährige hat als Studentin der
Aquakultur in Tartu angefangen. Sie sagt, es sei ein paradoxer Zustand,
sich auf eine mögliche Realität vorzubereiten, die vielleicht nie eintrete:
„Neulich haben wir trainiert, starke Blutungen zu stillen. Blutungen, für
die ein Pflaster nicht reicht. Da waren auch zwei Frauen aus der Ukraine
dabei. Für die war das viel realer. Und hier wirst du erschossen, fällst zu
Boden und stehst wieder auf. Aber so funktioniert das im echten Leben
nicht.“ Inzwischen ist Ave bei der Kaitseliit angestellt und dafür
zuständig, die militärische Ausrüstung zu organisieren und zu verwalten. In
der Naiskodukaitse ist sie im Evakuierungsteam. Ave hat zwei Söhne,
dreizehn und sechzehn Jahre alt.
2022 war die Realität fast in Pärnu und ist dann doch weiter nach Tallinn
gefahren. Damals sollten die ersten ukrainischen Geflüchteten nach Pärnu
kommen. Vor Ort haben alle mit angepackt: Zelte und Betten aufgestellt,
psychologische Unterstützung organisiert, Medikamente besorgt und Essen für
Hunderte gekocht. Innerhalb weniger Stunden haben sie ein ganzes
Evakuierungslager aufgebaut. „Alles stand bereit, und dann gab es die
Anweisung, dass die Busse direkt nach Tallinn weiterfahren sollten“,
erzählt Pille.
Die zweifache Mutter ist Kindergärtnerin, hat einen Abschluss in Pädagogik.
Ihre jüngere Tochter ist gerade drei geworden. Bei der Naiskodukaitse ist
Pille jetzt seit gut zwei Jahren. „Wenn du hier viel machen willst,
brauchst du jemanden, der sich zu Hause um alles kümmert“, sagt sie.
„Manche von uns würden gerne öfter kommen, aber schaffen es nicht.“ Pille
glaubt man sofort, dass sie die Kinder und die Naiskodukaitse unter einen
Hut bekommt.
Nur, wenn der Ernstfall mit Russland einträte, wüsste sie auch nicht genau,
wie sie handeln würde: „Wir haben hier eine Mission, aber ich fühle mich
meiner Familie verpflichtet. Ich will gehen, aber gleichzeitig bleiben.
Vielleicht ist das etwas Weibliches, ich weiß es nicht. Manchmal denke ich,
es wäre für die Männer leichter, an die Front zu gehen.“
Die Unabhängigkeit hielt in Estland immer nur übergangsweise. Nach dem
Krieg war vor dem Krieg. Das Theater Endla, in dem Estland 1918 seine
Unabhängigkeit verkündet, brennt 1944 im Zweiten Weltkrieg ab; vier Jahre,
nachdem Estland erneut seine Unabhängigkeit an Russland verlor. Jetzt steht
hier ein Hotel.
„Ich bin nicht so weit, an die Front zu gehen“, sagt Ave, „aber es wird
konkreter. Du musst es nehmen, wie es kommt.“
Den Krieg nehmen, wie er kommt – vielleicht ist das etwas Estnisches.
16 Mar 2025
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