# taz.de -- Paramilitärische Organisation in Estland: Jung, patriotisch und ge… | |
> In Estland werden immer mehr Jugendliche militärisch ausgebildet, um im | |
> Ernstfall ihr Land verteidigen zu können. Wie problematisch ist das? | |
Bild: Für viele Jugendliche ist der Freiwilligenverband vor allem Zeitvertreib… | |
NARVA UND TALLINN taz | Ein Wald in Läänemaa, 90 Kilometer westlich von | |
Tallinn. Die Frühlingssonne scheint, die Vögel feiern Hochzeit. Und dann, | |
irgendwo aus dem Gestrüpp, kommt Geschrei. Vier Teenager rennen los, ihre | |
Ausrüstung schlenkert dabei durch die Luft. Da, hinter einem Busch liegt | |
ein Soldat, dem eine Mine das rechte Bein abgerissen hat. Erfreulicherweise | |
hört sein Geschrei sofort auf, als sie ihn erreichen. Er stützt sich auf | |
seine linke Hand, drückt mit der rechten rhythmisch eine kleine Pumpe, | |
sodass munter Blut aus dem Beinstumpf spritzt, und schaut beinahe etwas | |
gelangweilt zu, wie die vier hektisch beraten, was zu tun ist. In holprigen | |
Stimmbruch-Stimmen reden sie durcheinander, die Zeit läuft. Dann scheinen | |
sie sich nach und nach zu erinnern: Den Verletzten ansprechen, Blutung | |
stoppen, mit dem Walkie-Talkie Sanitäter rufen und … war da noch was? | |
Gut für alle Beteiligten, dass das hier eine Übung ist, eine Mischung aus | |
Manöver und Wettbewerb, organisiert vom [1][Kaitseliit], dem | |
Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte. Die Organisation ist ein | |
hervorragendes Untersuchungsobjekt, wenn man etwas über das | |
Selbstverständnis der Est:innen erfahren will, über ihre Geschichte und | |
ihre Zukunftsängste. Und über das komplizierte Zusammenleben von ethnischen | |
Est:innen und der russischstämmigen Minderheit. | |
Der große Mann, der mit Offiziersmütze auf dem Kopf neben der | |
Minenopfer-Szene steht und sich alles genau angeschaut hat, ruft, dass die | |
Zeit um ist. Gut hätten sie das gemacht. Wenn sie nicht alle schon zehn | |
Meter weiter vorne von einer anderen Mine erwischt worden wären. „Schärft | |
es euch ein: Immer! Zuerst! Die Umgebung sichern!“ Josua, 16, der Anführer | |
der Einheit, ärgert sich: „Wir wollen hier gut abschneiden, damit wir zum | |
nationalen Wettbewerb können und …“ Einer seiner Teammitglieder ruft ihm | |
etwas zu und er schaut sich nervös um: „Er hat irgendwas gehört … könnte | |
der Feind sein.“ Sie schauen kurz nach, es war nicht der Feind. Und schon | |
verschwinden sie wieder im endlosen Birken- und Sumpfgelände West-Estlands. | |
108 Menschen in Tarnanzügen rennen hier 36 Stunden lang, teilweise ohne | |
Schlaf, in Vierereinheiten durch die Wildnis. Die Erwachsenen mit echten | |
Waffen, die Minderjährigen mit Attrappen, die unter 16-Jährigen ohne. | |
Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer sind Jugendliche. Sie navigieren von | |
Checkpoint zu Checkpoint, an denen sie verschiedene Aufgaben bestehen | |
müssen: Sie quälen sich durch Parcours, paddeln durch Sümpfe, spähen | |
feindlichen Stellungen aus, machen Feuer, lösen unter simuliertem | |
Gefechtslärm Navigations-Rätsel oder wehren mit Schlagstöcken Angreifer ab. | |
Dabei müssen sie immer wieder feindlichen Patrouillen ausweichen. | |
## Junge Adler und Heimat-Töchter | |
Normalerweise gebe es auch immer noch Schießübungen, sagen alle, die man | |
nach den Gewehren fragt. Einmal noch mit der Ergänzung: „Vielleicht wurde | |
das gestrichen, weil dieses Mal ein Journalist dabei ist.“ Man hätte | |
nämlich schon einmal schlechte Erfahrungen mit einem anderen Journalisten | |
gemacht. 2017 gab es großen Unmut in Estland und Litauen, als ein | |
italienischer Reporter gezielt jugendliche Mitglieder der jeweiligen | |
Freiwilligenverbände mit Waffen in den Händen fotografierte. Man | |
verdächtigte ihn damals, Finanzierung aus Russland für anti-baltische | |
Propaganda erhalten zu haben, die die Länder als nationalistisch und | |
kriegstreiberisch darstellen sollte. | |
Seit aber aller Welt klar ist, dass diese Attribute auf Russland selbst | |
zutreffen, scheint man deutlich weniger Hemmungen zu haben, vor dem Ausland | |
zu seinen Waffen tragenden Bürger:innen zu stehen. Der Kaitseliit sind | |
Est:innen, die sich militärisch ausbilden lassen, um die reguläre Armee im | |
Ernstfall zu unterstützen. Im Wortlaut heißt es aus der Pressestelle, die | |
Aufgaben seien „militärische Verteidigung und Widerstand, Schutz der | |
Bevölkerung, innerer Sicherheit und gewaltloser Widerstand“. Der Verband | |
untersteht ganz regulär dem Verteidigungsministerium und wird von diesem | |
finanziert. 28.000 Mitglieder zählt er zurzeit insgesamt, schon mit sieben | |
Jahren kann man einer der Jugendorganisationen beitreten. | |
Die Jungen heißen Noored Kotkad – Junge Adler – und die Mädchen Kodutütr… | |
– Heimat-Töchter. Sie lernen nicht nur militärische Grundlagen, sondern | |
auch estnische Geschichte. Und „was es bedeutet, Este zu sein“, sagt | |
Helmuth Martin Reisner, der vor der Fahrt in die Wildnis nach einem | |
aufwändigen Sicherheitscheck im Verteidigungsministerium in Tallinn den | |
Freiwilligenverband ganz offiziell erklären soll: „Der Kaitseliit ist ein | |
lebenswichtiger Teil unserer Verteidigungspolitik und wird von der gesamten | |
Bevölkerung befürwortet.“ Das einzige Problem sei, dass die Nachfrage so | |
groß sei, vor allem seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Man | |
arbeite daran, mehr Ortsgruppen zu gründen und mehr Ausbildungspersonal | |
stellen zu können. | |
Eine paramilitärische Organisation also, in der engagierte Bürger:innen | |
einen gewissen Patriotismus pflegen können und sich fit halten für den | |
Fall, dass ihr Land und dessen demokratische Werte gegen Aggressoren | |
verteidigt werden muss. Und tatsächlich findet in Estland daran kaum jemand | |
etwas bedenklich. Wenn man sich umhört, dann werden die | |
Kaitseliit-Mitglieder hier und da als Pfadfinder:innen mit | |
Waffen-Fimmel auch mal etwas belächelt, aber tendenziell ist man dankbar, | |
fast jede:r hat Verwandte oder Bekannte, die mitmachen. Und: Kaum jemand | |
versteht die Irritation des Deutschen bei Namen wie Heimat-Töchter und | |
Junge Adler und der Vorstellung, dass da schon Kinder und Jugendliche | |
spielerisch ans Militär herangeführt werden. | |
„Da ganz links ist ein T-14!“, ruft Marili, 16, ohne ihren Feldstecher von | |
den Augen zu nehmen. Sie liegt an einem anderen Checkpoint neben ihren drei | |
Kamerad:innen auf dem Waldboden, unter einer Tarnplane und starrt | |
weiter ins Dickicht, wo die Prüfer Miniatur-Panzer, Miniatur-Lastfahrzeuge | |
und Miniatur-Kampfhubschrauber versteckt haben, die die Gruppe | |
identifizieren soll. Als Letzte von den vier ist sie eben am Checkpoint | |
angekommen, die rot gefärbten Haarsträhnchen verschwitzt. Ihre | |
Maschinengewehr-Attrappe ist so schwer wie eine echte und sie schleift es | |
beinahe hinter sich her, unter den „Auf! Auf!“-Rufen der Prüfer. Als das | |
Panzer-Erspähen dann vorbei ist, legen sich die Jugendlichen für ein paar | |
Minuten ins Gras, trinken aus Feldflaschen, kauen Nussriegel. | |
Für sie und ihre Freunde ist der Kaitseliit in erster Linie ein | |
Zeitvertreib. Man erlebt und lernt was, lernt neue Freunde kennen. Aber ja, | |
natürlich gehe es auch darum, ihr Land zu verteidigen. „Aber das mit den | |
Waffen ist ehrlich gesagt nicht so mein Ding“, ergänzt sie. Auf die Info, | |
dass laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov nur elf | |
Prozent der Deutschen ihr Land im Ernstfall mit der Waffe verteidigen | |
würden, während es in Estland laut einer Umfrage des estnischen | |
Verteidigungsministeriums 66 Prozent sind, lächelt das Team nur verwirrt: | |
„Warum das denn …?“ | |
Die Antwort dürfte in den unterschiedlichen Historien der beiden Länder | |
liegen. Während Dingen wie Patriotismus, nationaler Identität und Militär | |
in Deutschland aus naheliegenden geschichtlichen Gründen eher misstraut | |
wird, werden sie in Estland als lebensnotwendig wahrgenommen. Das kleine | |
Land war den allergrößten Teil seiner Geschichte über von fremden Mächten | |
besetzt. Besonders prägend und im Gedächtnis vieler Est:innen noch | |
relativ frisch ist die Sowjet-Besatzung. Viele ethnische Est:innen können | |
von Eltern oder Großeltern erzählen, die während der ersten Besatzung 1940 | |
verhaftet, umgebracht oder nach dem Krieg nach Sibirien deportiert wurden, | |
gut 20.000 insgesamt, vor allem Frauen und Kinder. | |
Gleichzeitig haben auch nicht wenige Esten im Zweiten Weltkrieg auf Seiten | |
der Deutschen gekämpft. Für Alfons Rebane zum Beispiel, Offizier der | |
Waffen-SS, existiert sogar eine Gedenktafel, vor der regelmäßig frische | |
Blumen niedergelegt werden. Auch er war als junger Mann im Kaitseliit, der | |
seinen Ursprung im estnischen Unabhängigkeitskrieg (1918–1920) hat – und | |
hier ist man als Deutscher dann doch wieder irritiert. Allerdings gelten | |
Figuren wie Rebane in Estland nicht als Nazis, sondern als | |
Freiheitskämpfer. Denn die erste estnische Unabhängigkeit von 1920 bis 1940 | |
wurde von den Sowjets beendet, die gleich nach der Besetzung begannen, | |
Tausende Est:innen zu verhaften und hinzurichten. | |
Als ein Jahr später die Deutschen die Russen vertrieben, nahm man sie erst | |
als Befreier wahr. Allerdings kämpften auch viele Est:innen auf der Seite | |
der Sowjets. Die estnische Geschichte bestand meistens aus der Wahl | |
zwischen zwei Übeln. Nur waren es zuletzt eben die Russen, die den | |
Est:innen ihren Willen aufzwangen. Und dementsprechend schlecht ist man | |
auf sie zu sprechen. | |
Die feindlichen Einheiten, die während der Übung die Straßen mit ihren | |
Einsatzfahrzeugen patrouillieren, werden augenzwinkernd die | |
„Zwiebel-Republik“ genannt, ein anderes Wort für Russland. Und auch, wenn | |
in diesem Kontext eindeutig der Staat Russland gemeint ist: Sibul – Zwiebel | |
– ist auch eine abfällige estnische Bezeichnung für diejenigen Est:innen, | |
deren Muttersprache Russisch ist. Manche sagen, wegen der Zwiebeltürme | |
orthodoxer Kirchen, manche, weil Russen früher oft Zwiebeln verkauft | |
hätten. 25 Prozent der Bevölkerung gehören jedenfalls zu dieser in sich | |
wieder relativ heterogenen Gruppe. | |
Die Familien der meisten wurden während der Sowjet-Besatzung aus | |
verschiedenen Teilen der UdSSR in Estland angesiedelt, die meisten von | |
ihnen sind heute estnische Staatsbürger:innen. Und verschwindend wenige von | |
ihnen sind im Kaitseliit. Obwohl es für estnische Staatsbürger keine | |
Aufnahmebeschränkungen gibt. „Unsere russischen Mitschüler:innen würden | |
hier nie mitmachen“, sagt Marili. Sie habe überhaupt nichts gegen sie, aber | |
sie seien eben anders – undiszipliniert, hibbelig, laut – gängige | |
stereotype Attribute, die jungen Russischsprachigen zugeordnet werden. | |
Ist das vielleicht der Haken an der ganzen Sache? Sind diese Paramilitärs | |
ein exklusiver Verein, in dem ein ethnisch-estnischer Nationalismus | |
herangezüchtet wird? Erstmal nur so viel: Man sollte Aussagen wie der von | |
Marili nicht gleich Chauvinismus unterstellen. Das Verhältnis von | |
estnischen Esten und russischsprachigen Esten ist nämlich komplex und stark | |
davon abhängig, wen man fragt. Von älteren Est:innen, die teilweise in der | |
Roten Armee gedient haben, kann man wüste Dinge über Russen hören. Vor | |
allem, wie besessen sie von Gewalt seien. Wobei dann nie ganz klar ist, wer | |
gemeint ist – die Russen, die die Ukraine angegriffen haben? Die Sowjets? | |
Die Männer, die früher ihre Kameraden waren und die auch heute noch ihre | |
Nachbarn sind? Oder allgemein von der russischen Kultur geprägte Menschen? | |
Bei Nachfragen wird dann oft ausgewichen: „Jeder ist Este, der unsere Werte | |
akzeptiert und Estnisch sprechen kann“, sagt ein älterer Ausbilder. Sprache | |
ist ein großes Thema, sie ist zentral für die estnische Identität und ihre | |
Beherrschung Bedingung für die Staatsbürgerschaft. Trotzdem sprechen sie | |
viele, vor allem ältere Russischstämmige, vor allem im Osten des Landes, | |
nicht. Sie stehen dann auch schnell unter dem Verdacht, weiterhin | |
ausschließlich russisches Fernsehen zu konsumieren, das seit dem Angriff | |
auf die Ukraine in Estland eigentlich verboten ist, und in der Gedankenwelt | |
von Putins Russland zu leben. | |
Spricht man mit jungen Est:innen, egal ob aus russisch- oder | |
estnischsprachigen Familien, dann scheint das Verhältnis zwischen den | |
Gruppen in der Regel deutlich entspannter zu sein. Man bestreitet gewisse | |
Unterschiede zwar nicht, sieht aber in der Regel keinen Grund, einander zu | |
misstrauen. Estnischsprachige sagen, anders als ihre Eltern, auch eher | |
„russischsprachige Esten“ als einfach „Russen“, wenn diese Spezifizieru… | |
überhaupt notwendig ist. Viele haben einen estnisch- und einen | |
russischsprachigen Elternteil. Auch Freundeskreise mischen sich immer | |
öfter, auch, weil eben viele junge Russischstämmige fließend Estnisch | |
sprechen. Man geht gemeinsam jede Woche vor der russischen Botschaft in | |
Tallinn gegen den [2][Krieg in der Ukraine] demonstrieren – und das schon | |
seit 2014. | |
Aber auch das ist wieder nur ein Teil der Wahrheit. Man hört oft, dass es | |
einen gewissen Unterschied zwischen den in Tallinn und den im Osten | |
lebenden Russischsprachigen gebe. Erstere seien besser integriert und | |
hätten ein höheres Bildungsniveau. Letztere kämen wenig in Kontakt mit der | |
estnischsprachigen Mehrheit und würden sich weniger mit dem Land | |
identifizieren. Und es mag vielleicht kein ganz verlässlicher Indikator | |
sein – aber wenn der Kaitseliit ein Angebot für alle Est:innen ist, sich | |
für ihr Land zu engagieren, warum tritt dann auch vom russischsprachigen | |
Nachwuchs kaum jemand den Jungen Adlern oder den Heimat-Töchtern bei? | |
Helmuth Martin Reisner vom Verteidigungsministerium sagt, das liege vor | |
allem daran, dass die meisten Russischsprachigen in urbanen Gegenden leben, | |
wo Outdoor-Aktivitäten, die einen Großteil des Kaitseliit-Programms | |
ausmachen, einfach nicht so beliebt seien. Man sehe aber vor allem die | |
Jugendorganisationen eigentlich als ein gutes Instrument zur Integration | |
und die Statistiken zeigen, dass die wenigen Russischsprachigen, die | |
Mitglieder sind, später einmal ein höheres Einkommen und bessere | |
Aufstiegschancen hätten. Das Durchschnittseinkommen von Russischsprachigen | |
liegt im Baltikum etwa zehn bis zwölf Prozent unter dem der jeweiligen | |
ethnischen Mehrheit. | |
Es gibt sie aber, diejenigen, die russischer Herkunft sind und Estland im | |
Ernstfall verteidigen wollen. In Narva, besagter Grenzstadt mit 95 Prozent | |
russischsprachigen Einwohnern und 30 Prozent mit russischer | |
Staatsbürgerschaft, hat die einzige russischsprachige Kaitseliit-Gruppe | |
ihren Sitz, mit 120 Mitgliedern. Die drittgrößte estnische Stadt bietet ein | |
anderes Bild als Tallinn: alles ein bisschen heruntergekommener, viele | |
hässliche Mehrfamilienhäuser aus der Sowjetzeit. Direkt am Fluss Narva ragt | |
eine große mittelalterliche Grenzfestung empor, wie auch am | |
gegenüberliegenden russischen Ufer, der Stadt Iwangorod. | |
Der Kaitseliit hat in Narva sein eigenes Haus und Vladislav Eglet, Chef der | |
Jugendgruppen, bittet in einem Raum Platz zu nehmen, dessen Wände behangen | |
sind mit allen möglichen Wimpeln und Urkunden. Er bleibt lange vor einem | |
eingerahmten Bild stehen, auf dem ein estnisches Gedicht steht, eingerahmt | |
von einer großen Biene und einem Bienenstock, das in den estnischen Farben | |
– Blau, Schwarz, Weiß – angemalt ist. In dem Gedicht gehe es darum, dass | |
alle Est:innen verschiedene Lebenswege einschlagen und dann trotzdem alle | |
in den gemeinsamen Bienenstock heimkehren. | |
Mit ihm ist eine Teenagerin gekommen, Maria. Auf die Frage, ob es in Narva | |
Leute gibt, die es ihr übelnehmen, dass sie bei den Heimat-Töchtern | |
mitmacht, muss sie lachen. „Ach was. Viel komischer, dass ich als | |
Russischsprachige beim Kaitseliit bin, finden die, dass ich ein Mädchen bin | |
und mich für Militärsachen interessiere“, sagt die 16-Jährige, deren Look … | |
Septum-Piercing, gefärbte Haare, Schlabberpulli – eher an Billie Eilish als | |
an eine Heimat-Tochter denken lässt. Vladislav ergänzt: „Hier in Narva | |
wären wir die Ersten, die von einem russischen Angriff betroffen wären. Und | |
wir wollen um jeden Preis unsere Heimat, Estland, verteidigen.“ Die | |
Einstellung der meisten hier in Narva zum Kaitseliit sei neutral bis | |
positiv. Es gebe in Narva höchstens hundert bis zweihundert | |
unverbesserliche Putin-Fans. | |
Während er das sagt, haben sich ein paar hundert Meter weiter an der | |
Uferpromenade sicher mehr als tausend Menschen versammelt. Es ist der 9. | |
Mai, Tag des Sieges, und man hat direkt am russischen Ufer eine riesige | |
Bühne und Bildschirme aufgebaut, über den Fluss nach Narva gerichtet. | |
Stundenlang dröhnen Sowjet-Schlager und Sprüche wie „Putin ist mein | |
Präsident“ und „Russland ist das beste Land der Welt“ herüber.. Eine | |
Handvoll mutiger Jugendlicher mit Ukraine-Fahnen werden angeschrien, | |
bedroht. „Diese Leute spielen sich heute groß auf, aber keiner von denen | |
würde in Russland leben wollen“, sagt Vladislav. „Die wissen, wie gut es | |
ihnen hier in Estland geht.“ | |
Maxim, 35, Unternehmer, sieht das anders: „Ich fühle mich hier manchmal wie | |
ein Bürger zweiter Klasse“, erzählt er bei einem Treffen in Tallinn. Seine | |
Muttersprache ist Russisch, aber er hat auch eine estnische Großmutter. Er | |
bezeichnet sich selbst als „Rustonian“. Offene Anfeindungen oder Ähnliches | |
habe er zwar nie erlebt, aber sein Leben lang das Gefühl gehabt, wegen | |
seines Namens und seiner Sprache irgendwie unten gehalten zu werden, ohne | |
dass er genau benennen könne, wie. „Dieses Gefühl hat sich seit dem | |
russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt“, sagt er. | |
Abgesehen von einigen wenigen Berichten von Bekannten, die beschimpft | |
wurden, als sie in der Öffentlichkeit russisch gesprochen haben, sind es | |
vor allem zwei Neuerungen, die innerhalb des letzten Jahres beschlossen | |
wurden und die ihn ärgern: Der [3][Unterricht in öffentlichen Schulen] soll | |
nur noch auf Estnisch stattfinden und sämtliche sowjetische Denkmäler im | |
öffentlichen Raum sollen abgerissen werden. | |
Maxim, der nicht mit seinem echten Namen genannt werden will, habe nichts | |
für das heutige politische Russland übrig, darum ginge es nicht. „Aber der | |
Kommunismus war ein großes – wenn auch schiefgegangenes – Experiment, an | |
dem sowohl Russen als auch Esten beteiligt waren, er ist Teil dieses | |
Landes. Aber heute wird so getan, als ob es eine simple Geschichte von Gut | |
und Böse, von Besatzern und Unterdrückten gewesen sei.“ Und wenn man wolle, | |
dass alle Estnisch lernen, dann müsse man auch Geld dafür ausgeben. Im | |
Moment gebe es bei Weitem nicht genug Lehrangebote, es würde erwartet, dass | |
sich die Schüler und Studenten die Sprache selbst beibringen. „Wenn der | |
estnische Staat Angst hat, dass sich irgendwelche Russischsprachigen im | |
Land radikalisieren, dann sollte er ihnen eher signalisieren: wir vertrauen | |
euch und wir wissen zu schätzen, was ihr kulturell zu diesem Land | |
beitragt.“ | |
Was den Kaitseliit angeht, hat er das Gefühl, man wolle gar nicht wirklich, | |
dass allzu viele „Russen“ beitreten. Andererseits glaubt er auch nicht, | |
dass dort eine ideologische Indoktrination stattfinde. „Zumindest ist das | |
sicher nicht vergleichbar mit der gezielten Gehirnwäsche von jungen | |
Menschen, die seit Jahren in Russland betrieben wird.“ | |
Aber wenn man genau hinschauen will, findet man, wie wohl in den meisten | |
Organisationen mit Militärbezug, auch im estnischen Freiwilligenverband | |
[4][Rechtsextremismus]. Tiina, Gründerin eines der vielen IT-Start-ups, auf | |
die Estland so stolz ist, zögert erst, über ihre Erfahrungen mit dem | |
Kaitseliit zu sprechen – ein Zögern, auf das man häufig stößt, wenn man | |
die Themen Verteidigung und Militär in Estland anspricht. Niemand will | |
einer unpatriotischen Haltung verdächtigt werden. Unter der Bedingung, dass | |
auch sie anonym bleibt, erzählt sie dann doch: 2018 wollte sie nach einem | |
Grundtraining einer Anti-Panzer-Spezialeinheit des Kaitseliit beitreten. | |
In deren Chat-Gruppe sah sie dann im Laufe der Zeit mehrere Nachrichten mit | |
rechtsextremem Inhalt, geschrieben vom Leiter der Einheit. Unter anderem | |
bot er Mitgliedern an, estnische Übersetzungen von „Mein Kampf“ bei ihm zu | |
kaufen. Tiina machte Screenshots und schickte sie einem Journalisten. Eine | |
Woche später wurde sie unter einem Vorwand aus der Einheit ausgeschlossen. | |
Auf Anfrage heißt es vom Pressesprecher des Kaitseliit, dass man zu diesem | |
Fall keine Aussage machen könne, aber dass „Mein Kampf“ in Estland nicht | |
verboten sei. | |
Verglichen mit den rechtsextremen Netzwerken in der Bundeswehr, die | |
teilweise gewaltsame Umstürze planen, scheint das zwar noch halbwegs | |
harmlos, zeigt aber, wie fließend der Übergang von Patriotismus zu | |
Nationalismus in solchen Organisationen ist. Was Estland angeht, lässt sich | |
aber nicht von der Hand weisen, dass es eine sehr reale Bedrohung durch ein | |
Nachbarland gibt. Den Kaitseliit deshalb als einen Haufen Waffen-Nerds mit | |
rechtsextremen Fantasien abzutun wäre falsch. Viele hier rechnen fest mit | |
einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten, vielleicht in einem, | |
vielleicht in zehn Jahren. Und viele glauben, dass es trotz | |
Nato-Verbündeter und Wehrpflicht in Estland wichtig ist, sich zusätzlich | |
als Einzelperson ein Minimum an Wehrhaftigkeit zuzulegen. | |
Die Reportage wurde unterstützt durch den von Renovabis und Hoffnung für | |
Osteuropa ausgeschriebenen Recherchepreis Osteuropa 2023 | |
30 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kaitseliit.ee/ | |
[2] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5943919 | |
[3] /Bildung-in-Estland/!5907729 | |
[4] /Russische-Minderheit-im-Baltikum/!5889720 | |
## AUTOREN | |
Kolja Haaf | |
## TAGS | |
Estland | |
Verteidigung | |
Militär | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Frank-Walter Steinmeier | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
EU-Gipfel zur Ukrainekrise: Den Krieg im Nacken | |
Die Staats- und Regierungschefs der EU tagen in Brüssel. Die Ukraine und | |
Russland stehen dabei im Mittelpunkt – sind aber nicht das einzige Thema. | |
Grenzfluss zwischen Estland und Russland: Der Wind bringt Sowjetschlager | |
Der Fluss Narwa trennt Estland und Russland voneinander. Entsprechend | |
unterschiedlich wird an beiden Ufern der „Tag des Sieges“ begangen. Ein | |
Besuch. | |
Bundespräsident Steinmeier in Estland: Schutz, Solidarität und Eurofighter | |
Der Bundespräsident besucht Estland. Begrüßt wird er von Eurofightern, | |
trifft ihre Besatzung und sichert den Esten deutsche Unterstützung zu. | |
Flüchtlinge aus der Ostukraine: Transit Russland | |
Viele flüchten über Russland vor dem Krieg. Wie Viktor Borsch, der es nach | |
Estland geschafft hat. Doch in der EU sind sie nur bedingt willkommen. |