# taz.de -- Tallinn Music Week: Mehr als nur Arvo Pärt | |
> Osteuropa war einmal. Heute ist Estland ganz leger. Während der „Tallinn | |
> Music Week“ probt die Hauptstadt ihre Weltoffenheit. | |
Bild: Spielte in Tallin auf dem Festival: die Band Curly Strings. | |
Ein Hauch von Europa ist an diesem Nachmittag im Plattenladen Biit Me in | |
Tallinn zu spüren. Während zwei Franzosen Vinylstapel durchsuchen, sitzen | |
rund 30 Zuschauer zusammen und lauschen gedankenverloren dem Set des | |
isländischen Elektronikproduzenten Futuregrapher, der Berliner | |
U-Bahn-Ansagen in seine Songs mixt. Eine estnische Mutter lächelt ihrer | |
Tochter zu, die in Schuluniform gekleidet eine Matrjoschka umarmt. Und ein | |
ergrauter Brite checkt auf seiner Smartphone-App, was er sich als Nächstes | |
ansehen will. | |
206 Bands aus 20 Ländern spielten am vergangenen Wochenende auf der Tallinn | |
Music Week. Die Hälfte davon Einheimische. Estland, das baltische Land mit | |
seinen rund 1,3 Millionen Einwohnern, ist musikalisch betrachtet für die | |
meisten, vom E-Musik-Komponisten Arvo Pärt mal abgesehen, Terra incognita. | |
Ein Missstand, den das Festival, zu dem es eine zweitägige Konferenz für | |
die internationale Musikindustrie gibt, ändern will. Und so spielen | |
estnische Bands wie Elephants from Neptune, Odd Hugo, Würffel und Ingrid | |
Lukas in Clubs, Wohnzimmern, Design-Studios oder eben in Plattenläden. | |
Eröffnet wurde die 7. Tallinn Music Week vom „Rock-’n’-Roll-Präsidenten… | |
wie die Festivalleiterin ihn ankündigte. Der estnische Staatspräsident | |
Toomas Hendrik Ilves schlenderte im Konferenzraum Kaugummi kauend und begab | |
sich leger in blauem Wollpulli gekleidet auf die Bühne und hielt eine | |
launige Rede. Ilves nennt das fünftägige Happening „eines der coolsten | |
Dinge in der Region“. Nachdem in den vergangenen Jahren die skandinavische | |
Musikszene gehypt wurde und Bands wie die Isländer Of Monsters und Men | |
bekannt machte, blickt die Branche jetzt gen Osten. | |
## Endlich aus dem Schatten der Sowjetzeit | |
Umschreibungen wie „Osten“ mag Ilves jedoch gar nicht. 24 Jahre nach der | |
Unabhängigkeit und 11 Jahre nach dem EU-Beitritt Estlands müsse man Zusätze | |
wie diesen endlich streichen. „Das klingt so, als seien wir besonders oder | |
Menschen zweiter Klasse“, sagt der 61-Jährige. Für ihn gibt es nur ein | |
Europa. Estland möchte endlich aus dem Schatten der Sowjetzeit, selbst wenn | |
der russische Präsident Wladimir Putin dem Nachbarn immer wieder droht. | |
2014 waren Pussy Riot zu Gast, dieses Mal ging es auf der Konferenz, mal | |
abgesehen von Panels mit dem Titel „Hoffnung für Russland“, unpolitischer | |
zu. | |
Stattdessen begab sich etwa der Produzent Thomas Golubic, der unter anderem | |
Filmmusik für die TV-Serie „Breaking Bad“ zusammenstellte, mit | |
Festivalleitern aus Kroatien und Großbritannien auf die Suche nach neuen | |
Sounds – und das in teils außergewöhnlicher Kulisse. Unweit der | |
kopfsteingepflasterten Altstadt Tallinns liegt zum Beispiel der Komplex | |
Kultuurikatel (Kulturkessel). Das historische Kohlekraftwerk wurde am | |
Freitagabend beim „Classical Music Rave“ in Neonfarben getaucht. Wo früher | |
die Kohle in 15 Meter hohen Maschinen verarbeitet wurde, sägten nun | |
Cellisten zusammen mit DJs. | |
Für die visuelle Gestaltung, zu der auch ein flatternder Vorhang zählte, | |
war die Modedesignerin und Musikerin Marit Ilison zuständig. Am nächsten | |
Tag findet sie endlich Zeit, sich in Ruhe einige Bands anzusehen. | |
Treffpunkt ist Telliskivi, in dem ehemaligen Industriegelände sind viele | |
Kreative eingezogen: diverse Modedesigner, das Festivalbüro der Tallinn | |
Music Week und das Restaurant F-Hoone. „Früher war hier unser Probenraum“, | |
sagt Ilison, die auch als Schlagzeugerin bei der psychedelischen Band | |
Väljasõit rohelisse spielt. | |
## Hier wurde Skype erfunden | |
2011 und 2012 traten sie bei der Tallinn Music Week auf. „2011 war es | |
gerade mal unser zweites Konzert.“ Der Auftritt hat sich ausgezahlt, die | |
Band wurde danach für Konzerte in Sankt Petersburg gebucht. Die heute | |
30-Jährige hat die Sowjetzeiten noch erlebt. Wie der Staatspräsident | |
empfindet auch sie den Zusatz „Osteuropa“ überflüssig. Vorurteile gibt es | |
weiterhin: Im Ausland werde sie manchmal gefragt, ob es in Estland | |
überhaupt Telefone gebe. Und das, wo in Estland Skype erfunden wurde. | |
Das Gelände von Telliskivi wird ständig erweitert, kürzlich kam die | |
Konzerthalle Vaba Lava hinzu. Dort spielt am Samstagabend die estnische | |
Folkband Curly Strings. Das Quartett gewann bei den Estonian Music Awards | |
mehrere Preise. Auch Marit Ilison mag ihre Songs und singt sie mit. „Bisher | |
managen wir uns selbst“, sagt Sängerin und Violinistin Eeva Talsi nach dem | |
Konzert. „Estland ist klein. Da ist es einfach, alle Einflussreichen | |
kennenzulernen, um eine Tour zu organisieren. Fürs Ausland sollten wir aber | |
einen Manager haben.“ | |
Talsi gibt Autogramme, dann geht es zum nächsten Auftritt. Curly Strings | |
singen auf Estnisch, sie lieben ihre poetische Muttersprache. Für die | |
Folk-Rockband Ewert and the Two Dragons hat sich die Tallinn Music Week | |
gelohnt. 2011 Gewinner des „Go Change The World“-Festivalpreises, wurden | |
die Esten von Warner unter Vertrag genommen und sind gerade auf Europatour. | |
1 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Alva Gehrmann | |
## TAGS | |
Estland | |
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