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# taz.de -- Verteidigung gegen Russlands Angriffe: Wie es um die Ukraine steht
> Die Ukrainer:innen wehren sich beharrlich gegen die russische
> Invasion, trotz nachlassender Kräfte. Wie geht es weiter?
Bild: Training für den Nahkampf: ukrainische Soldaten bei der Ausbildung in de…
## Wie ist die Lage an der Front?
Der [1][Fall der Kleinstadt Awdijiwka] Mitte Februar war eine schwere
Niederlage für die Ukraine, seitdem rückt Russland langsam, aber stetig
vor. Die Situation an der 1.500 Kilometer langen Front, da sind sich alle
Militärexperten einig, ist für die [2][Ukraine] zurzeit extrem schwierig.
Russland will den Gegner mit einer „1.000-Schnitte-Taktik“ mürbe machen.
Statt einem Großangriff an einer Stelle sollen die ukrainischen Kräfte
durch eine Vielzahl kleiner Operationen aufgerieben werden.
Franz-Stefan Gady ist ein unabhängiger Militärexperte, der seine Analysen
des Kriegsgeschehens immer auch auf eigene Recherchen an der Front stützt.
Anfang März war er zuletzt in der Ukraine. Er hat Artilleriesoldaten
besucht, Verteidigungsstellungen besichtigt, viel Zeit mit Drohneneinheiten
verbracht. [3][Gady warnt davor, dass es zu einem umgedrehten
Charkiw-2022-Szenario kommen könnte.] Im Herbst 2022 war die russische
Frontlinie im Raum Charkiw kollabiert. Die Ukraine konnte damals innerhalb
weniger Tage über 12.000 Quadratkilometer ihres Territoriums befreien.
Jetzt könnte es in die andere Richtung gehen.
Das Zusammenkommen von drei Defiziten der Ukraine bereite ihm Sorge, sagt
Gady. „Der Ukraine mangelt es an Munition, Soldaten und durchgängig gut
ausgebauten Verteidigungsanlagen.“ Zurzeit habe Russland bei der täglich
verschossenen Artilleriemunition einen Überhang von fünf zu eins, an
manchen Frontabschnitten sechs zu eins. Dies sei aber noch nicht
kriegsentscheidend, sagt Gady. In der Frühphase des Kriegs lag das
Verhältnis auch schon mal bei zehn zu eins zugunsten Russlands.
Es kommen weiterhin Munitionslieferungen an, teils auch erste Lieferungen
aus einer tschechischen Munitionsinitiative. Das Ausbleiben der US-Hilfe,
die die Republikaner im Kongress blockieren, macht sich aber immer
schmerzhafter bemerkbar.
Die Ukraine setzt deshalb stark auf Angriffe mit kleinen, einfachen
Drohnen, die per Kamera und Fernsteuerung von einem Piloten ins Ziel
gelenkt werden. Durch russische Störsender werden viele Drohnen aber schon
vorher zum Absturz gebracht. „Es gibt ein falsches Bild, das durch
Drohnenvideos entsteht, die über ukrainische und russische Kanäle
ausgespielt werden“, sagt Gady. „Die Trefferquote dieser Drohnen ist
niedriger, als man durch die sozialen Medien glauben würde – und wenn, ist
die Wirkung oft nicht so groß. Auf absehbare Zeit werden sie nicht die
Artillerie als dominante Waffe auf dem Schlachtfeld ersetzen können.“
Schwerwiegender noch als der Munitionsmangel sei der Mangel an Soldaten.
Bisher zögern Präsident Wolodymyr Selenskij und das Parlament, ein neues
Gesetz zur Mobilisierung zu verabschieden. Gady sieht da einen Wettlauf
gegen die Zeit: „Würde das jetzt beschlossen und abgesegnet werden, würden
drei bis fünf Monate oder vielleicht sogar mehr Zeit vergehen, bis dann
wirklich neue Soldaten an der Front wären. Wir reden hier von Spätsommer,
Frühherbst, bis dann zusätzliche Verbände zur Verfügung stehen.“ Die Gefa…
sei groß, dass in der Zwischenzeit auf ukrainischer Seite durch weitere
Tote und Verwundete größere Lücken in der Frontlinie entstehen.
Auch bei den ukrainischen Verteidigungsstellungen sieht Gady Probleme. Es
gebe Stellen an der Front, wo diese massiv ausgebaut seien. Aber auch
Stellen, an denen erst jetzt damit begonnen werde, eine zweite und dritte
Verteidigungslinie zu errichten.
Der Zusammenbruch der Front stehe nicht direkt bevor, sagt Franz-Stefan
Gady. Wenn die Defizite aber nicht angegangen würden, könnte es im Sommer
oder Frühherbst zu einer Situation kommen, bei der Russland ein größerer
Durchbruch gelingen könnte. Jan Pfaff
## Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
Typische Morgennachrichten in der Ukraine. Irgendwo wurde Luftalarm
gemeldet. Schreckliche Explosionen in Charkiw, Krywyj Rih oder
Saporischschja. Jede Nacht feuern die Russen Raketen und Shahed-Drohnen auf
ukrainische Städte ab. Täglich werden Zivilisten durch Angriffe getötet.
Da ist der Terror, da sind all die Nachrichten von Leid. Wenn ihre Armee
ein russisches Kriegsschiff versenkt, ein Flugzeug abschießt oder eine
russische Ölraffinerie angreift, hellt sich die Stimmung der Mehrheit der
Ukrainer*innen aber auf. Dieses Wechselbad der Gefühle geht nun schon in
das dritte Jahr. Besonders augenfällig ist das in sozialen Medien.
Optimist*innen erinnern sich daran, dass am Vorabend der groß
angelegten Invasion – im Dezember 2021 – nur 39 Prozent der
Ukrainer*innen zuversichtlich im Hinblick auf die Zukunft des Landes
waren. Im Mai 2022 gab es trotz der völkermörderischen Aktionen der Russen
88 Prozent Optimist*innen. Im November 2023 sank ihre Zahl auf 77 Prozent,
was für einen Krieg immer noch ein unglaublich hoher Wert ist.
Im ersten Jahr der Invasion herrschte unter äußerst schwierigen Bedingungen
ein bedingungsloser Optimismus. Im zweiten Jahr war eine zunehmende
Bereitschaft zu Zugeständnissen aufgrund unerfüllter Erwartungen und der
schwankenden Positionen des Westens festzustellen.
Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS) zeigen:
Eine Mehrheit der Ukrainer*innen glaubt immer noch an den Sieg – im
Februar waren 60 Prozent definitiv davon überzeugt. 73 Prozent der
Ukrainer*innen sind bereit, den Krieg so lange wie nötig zu ertragen,
aber 72 Prozent (Stand: Februar 2024) akzeptieren die Suche nach einem
diplomatischen Weg zur Beendigung des Kriegs. Gefragt wurde konkret nach
Verhandlungen, nicht nach Zugeständnissen gegenüber Russland.
Vor dem Hintergrund der russischen Offensive im Osten und der
Raketenangriffe auf die Infrastruktur fällt es den Menschen aber schwer,
die andauernde Debatte im Westen über die Lieferung von Langstreckenwaffen
und andere Hilfe zu verstehen. Trotz der täglichen Angriffe auf ihre Städte
soll die Ukraine den Grad der „Konflikteskalation“ berücksichtigen. Die
Vereinigten Staaten wollen nicht, dass die Ukraine russische Ölfabriken
angreift, sie stellen keine Atacms-Raketen zur Verfügung und die
60-Milliarden-Dollar-Hilfe wurde sechs Monate lang ausgesetzt.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, Wladimir Putin dürfe nicht gewinnen. Aber
die Taurus-Raketen sind immer noch nicht in der Ukraine.
Bisher hat kein einziger Politiker oder General in der Ukraine eine Antwort
auf die Frage gefunden, wie man unter solchen Bedingungen überleben kann.
Juri Konkewitsch, Luzk
## Wie sieht es mit der Unterstützung aus?
Aggressor Wladimir Putin scheint nach seiner Machtsicherung mittels
Scheinwahlen nun mit neuer Härte gegen die Ukraine vorzugehen. Die
Hauptstadt Kyjiw blieb zuletzt rund sechs Wochen lang von heftigeren
Raketenangriffen verschont. Bis zum Ende dieser Woche. Dutzende Menschen
wurden nämlich bei massivem russischen Raketenbeschuss verletzt, etliche
Wohngebäude zerstört.
Das Beispiel zeigt eindrücklich: Die Ukraine hat keine Zeit zu verlieren.
Zeit, die sich vor allem der stärkste Verbündete – die USA – derzeit nimm…
Seit Wochen hängt ein 60 Milliarden US-Dollar schweres Hilfspaket an Waffen
für die Ukraine im Kongress fest, blockiert durch die Republikaner. Wann es
auf die Tagesordnung kommt, ist völlig offen. Vermutlich wird es zum
Dauerkampfthema im Vorfeld der US-Wahlen. Auf dem Rücken der
Ukrainer*innen.
Seit Wochen appelliert Präsident Selenskij von Washington über Brüssel bis
Berlin an die Unterstützerstaaten, bei ihren Hilfen nicht nachzulassen. „As
long as it takes“ – dieser Satz erscheint farbloser denn je. Auch größere
Teile der EU-Staaten halten sich bei der Unterstützung sehr zurück.
Ausnahmen sind die baltischen Staaten, Polen sowie die Nato-Neumitglieder
Schweden und Finnland. Fällt Kyjiw, sind auch sie selbst unmittelbar
bedroht. Allein durch ihre geografische Nähe.
Zeit ist der entscheidende Faktor bei der Unterstützung, denn jedes Zögern
nutzt Russland, auf dem Boden Fakten zu schaffen. Die entschiedenen
Unterstützer setzen auf eigene Bündnisse im Bündnis. Und auf Geldgeber wie
Deutschland und Frankreich.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kündigte gemeinsam mit
seinem polnischen Amtskollegen in Warschau in dieser Woche eine Initiative
für die Ausbildung ukrainischer Soldat:innen an, im Militärsprech
„Fähigkeitskoalition“ genannt. Allerdings soll diese erst im Sommer kommen.
Auch eine mittelfristige Raketenkoalition ist geplant – initiiert vom
wiederbelebten Weimarer Dreieck, bestehend aus Polen, Frankreich und
Deutschland. Die Planungen laufen erst an. Auch das wird also dauern,
obwohl Polen Druck macht.
Schnellere Entwicklungen gibt es bei Munitionslieferungen. In Ramstein
kündigte Pistorius am Dienstag an, 10.000 Schuss aus deutschen
Bundeswehrbeständen sollten in Kürze kommen. Die tschechische Initiative
von 800.000 Granaten kommt nach und nach. Deutschland will sie
mitfinanzieren, Dänemark plant seine gesamte Artilleriemunition an die
Ukraine zu übergeben. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas will
0,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung der
ukrainischen Armee einplanen.
Deutschland wird von vielen allerdings als unsicherer Kantonist gesehen.
Den Marschflugkörper Taurus will Kanzler Scholz weiter nicht liefern, und
jetzt sorgte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit seinem Gedankenspiel, den
Krieg doch „einzufrieren“, für erhebliche Irritationen. Nicht nur im
politischen Berlin, sondern vor allem auch außenpolitisch. Wie groß die
Verstimmung bei internationalen Partnern ist, bekam Verteidigungsminister
Pistorius bei seinem Besuch in Warschau zu spüren. „Ungünstig“ nannte
Amtskollege Władysław Kosiniak-Kamysz den Vorstoß.
Pistorius distanzierte sich vor Ort von Mützenichs Äußerungen und wollte
die Debatte mit einem „Das würde Putin nur in die Hände spielen“ beenden.
Für die „Einfrier-Variante“ gibt es derzeit weder auf ukrainischer noch auf
russischer Seite Akzeptanz, da waren sich in Warschau alle Militärvertreter
einig. Man betonte lieber die enge Kooperation zwischen Deutschland und
Polen bei Panzerlieferungen.
Innenpolitisch unterzieht sich die Ampelkoalition mit ihrer Haltung zur
Ukraine einem Stresstest, der erneut Zeit kostet. Pistorius und auch die
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) müssen nun beweisen, dass die
deutsche Unterstützung für die Ukraine doch ungebrochen ist. Tanja
Tricarico
22 Mar 2024
## LINKS
[1] /Krieg-gegen-die-Ukraine/!5992864
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[3] https://www.spiegel.de/ausland/russland-ukraine-krieg-es-droht-noch-lange-k…
## AUTOREN
Juri Konkewitsch
Jan Pfaff
Tanja Tricarico
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