# taz.de -- Krieg gegen die Ukraine: Rückzug aus der Ruinenstadt | |
> Nach heftigen Kämpfen hat Russland die Stadt Awdijiwka eingenommen. Biden | |
> gibt dem US-Kongress eine Mitschuld, weil der Militärhilfen blockiert. | |
Bild: Eine seit Jahren umkämpfte Stadt, in der fast niemand mehr lebt: Awdijiw… | |
BERLIN taz | Nach neuneinhalb Jahren der Verteidigung und vier Monaten | |
aktiver russischer Angriffe hat die ukrainische Armee am Wochenende die | |
Stadt Awdijiwka in der Oblast Donezk aufgegeben. Diese Entscheidung wurde | |
vom [1][Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Olexandr Syrskyj], | |
in der Nacht zum Samstag bekanntgegeben: „Aufgrund der operativen Situation | |
um Awdijiwka habe ich entschieden, unsere Einheiten aus der Stadt | |
abzuziehen und die Verteidigung auf günstigere Linien zu verlegen, um eine | |
Einkesselung zu vermeiden und das Leben und die Gesundheit der Soldaten zu | |
schützen“. | |
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nannte den Rückzug am Samstag | |
auf [2][der Münchner Sicherheitskonferenz] eine logische und professionelle | |
Entscheidung, „um so viele Leben wie möglich zu retten“. Russlands | |
Präsident Wladimir Putin gratulierte seiner Armee zu der Eroberung. Am | |
Sonntag wurde die Ukraine erneut mit russischen Luftangriffen überzogen, | |
Behörden meldeten mehrere Tote und Verletzte. | |
Seit vergangenem Oktober 2023 nahmen die Kämpfe um Awdijiwka deutlich zu. | |
Russische Truppen führten 20 bis 60 Infanterieangriffe pro Tag durch, | |
deutlich mehr als in anderen Gebieten. Russische Einheiten marschierten in | |
Panzerkolonnen mit Fallschirmjägern nach Awdijiwka, verloren Ausrüstung in | |
ukrainischen Minenfeldern und die überlebende Infanterie rückte weiter vor. | |
Videoaufnahmen ukrainischer Drohnen zeigten, wie russische Soldaten über | |
die Leichen ihrer Kameraden stiegen, aber weiter angriffen. Nach Angaben | |
der ukrainischen Militärführung hat Russland bei den Kämpfen um Awdijiwka | |
seit Oktober rund 50.000 Soldaten und 1.300 Stück militärisches Gerät | |
verloren. | |
Militäranalysten weisen darauf hin, dass die russische Führung ohne | |
Rücksicht auf Verluste immer mehr Infanterieeinheiten entsandte, was die | |
ukrainischen Truppen schließlich daran hinderte, den Ansturm der | |
überlegenen Kräfte aufzuhalten. | |
## Kampf im 360-Grad-Radius | |
Den vorrückenden Truppen gelang es, die starke Verteidigungslinie, die die | |
Ukrainer in acht Jahren vom Süden und Norden der Stadt aufgebaut hatten, zu | |
durchbrechen und die Siedlung operativ einzukesseln. Bald gelang es den | |
russischen Truppen, die einzige Straße in die Stadt abzuschneiden und die | |
Feldwege unter ihre Feuerkontrolle zu bringen. Dies erschwerte nicht nur | |
die Logistik der ukrainischen Einheiten, sondern auch die Evakuierung von | |
Zivilisten und Verwundeten erheblich und machte die Straße zu einer | |
„Todesstraße“. | |
Zuletzt warf die russische Luftwaffe täglich zwischen 50 und 120 Lenkbomben | |
auf die Stadt und die ukrainische Garnison ab. Begleitet wurden diese | |
Angriffe nicht nur von massivem Raketen-, Artillerie- und Drohnenbeschuss, | |
sondern auch von Infanterieangriffen. Trotz der von der ukrainischen | |
Armeeführung in der vergangenen Woche eingeführten Reserven überstieg die | |
Zahl der russischen Truppen, die an der Offensive auf Awdijiwka beteiligt | |
waren, die der ukrainischen Truppen um das Siebenfache. | |
In den letzten Tagen der Verteidigung der Stadt wurden die ukrainischen | |
Einheiten schließlich eingekesselt. Laut einem der Kommandeure der dritten | |
Sturmbrigade, die zur Verstärkung von Awdijiwka kam, mussten die Einheiten | |
manchmal im Radius von 360 Grad kämpfen, um den Kessel zu durchbrechen. | |
Nicht allen gelang es, aus der Stadt zu entkommen. Videos von gefangenen | |
ukrainischen Soldaten kursieren bereits in russischen Propaganda-Blogs. | |
Militärexperten nennen zwei Hauptgründe für die Niederlage der ukrainischen | |
Truppen bei der Verteidigung von Awdijiwka. Der Hauptgrund ist der | |
kritische Mangel an Artilleriemunition angesichts der totalen Überlegenheit | |
der Russen in Bezug auf Personal, Ausrüstung und Granaten. | |
## Putin braucht Erfolge an der Front | |
US-Präsident Joe Biden machte denn auch die Blockadehaltung des Kongresses | |
in Sachen Ukrainehilfen für den Fall von Awdijiwka mitverantwortlich: | |
„Heute Morgen war das ukrainische Militär gezwungen, sich aus Awdijiwka | |
zurückzuziehen, nachdem die ukrainischen Soldaten aufgrund der | |
[3][Untätigkeit des Kongresses] ihre Munition rationieren mussten, was zu | |
den ersten nennenswerten Gewinnen Russlands seit Monaten führte“, teilte | |
das Weiße Haus am Samstag nach einem Telefonat zwischen Biden und Selenski | |
mit. | |
Der zweite Grund sind die massiven russischen Luftangriffe mit gelenkten | |
Bomben, die Gebäude bis auf den Boden zerstören und keinen Platz für | |
Schutzräume lassen. Die ukrainische Armee verfügt nicht über ausreichende | |
Luftabwehrsysteme, die entlang der Frontlinie eingesetzt werden könnten. | |
Die wenigen Luftabwehrsysteme, über die die Ukraine verfügt, werden vor | |
allem zur Verteidigung der großen Städte eingesetzt. | |
Der Wille der russischen Streitkräfte, Awdijiwka zu einem so hohen Preis | |
einzunehmen, ist mit zwei Zielen verbunden. Zum einen soll mit Awdijiwka | |
die Frontlinie von der seit 2014 besetzten und nur fünf Kilometer | |
entfernten Stadt Donezk weg verlagert werden. Der zweite Grund ist | |
politischer Natur: Der russische Präsident braucht kurz vor den Wahlen | |
Siege an der Front. Awdijiwka, seit 2014 ein Symbol der Uneinnehmbarkeit, | |
erfüllt diese Aufgabe perfekt. | |
Als das russische Militär die Ruinen der Stadt nun einnahm, die bis Februar | |
2022 rund | |
17.000 Einwohner zählte, lebten dort noch etwa 900 Menschen. Sie | |
versteckten sich in den Kellern der zerstörten Häuser und weigerten sich, | |
evakuiert zu werden. Nach der Eroberung der Stadt ist ihr weiteres | |
Schicksal unbekannt. | |
Die russische Truppe, die Awdijiwka eingenommen hat, könnte nun in die | |
Oblast Charkiw verlegt werden, um die Stadt Kupjansk zurückzuerobern, um | |
die sich die Kämpfe bereits intensivieren. Wenn die Lieferungen westlicher | |
Militärhilfe und Artilleriegranaten nicht so schnell wie möglich wieder | |
aufgenommen werden, dürfte sich der Erfolg der russischen Armee bei der | |
Eroberung ukrainischer Gebiete fortsetzen. Städte mit Hunderttausenden | |
Einwohnern – Slowjansk und Kramatorsk – könnten die nächsten sein. Der | |
Beschuss dieser Städte hat bereits zugenommen, nachdem die Frontlinie | |
tiefer in die Oblast Donezk vorgerückt ist. | |
18 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Portraet-General-Syrskyj/!5991473 | |
[2] /Zukunft-des-Nordatlantikpakts/!5990105 | |
[3] /US-Militaerhilfe-fuer-Israel-und-Ukraine/!5988968 | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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