# taz.de -- Pressefreiheit bedroht: Für oder gegen die Macht? | |
> Wikileaks, FragDenStaat, Correctiv: Der Staat rückt der Freiheit auf die | |
> Pelle. Doch die, die sie verteidigen sollen, fördern oft den autoritären | |
> Turn. | |
Bild: Der Journalist Arne Semsrott bei der Arbeit im Jahr 2018 | |
Diese Woche häufen sich – mal wieder – die schlechten Nachrichten zu | |
Grundrechten in der liberalen Demokratie, zur Presse- und Meinungsfreiheit. | |
Da haben wir den Gerichtsfall von Julian Assange. [1][Der | |
Wikileaks-Gründer war diese Woche in London Gegenstand einer | |
Gerichtsverhandlung darüber], ob er in die USA ausgeliefert werden soll, wo | |
ihm eine langjährige Haftstrafe und, wie manche befürchten, sogar die | |
Todesstrafe droht. All das, weil Assange geheime Dokumente veröffentlichte | |
– und Beweise für Kriegsverbrechen der USA. | |
Zweitens haben wir den Fall des Journalisten Arne Semsrott, Leiter der | |
[2][Enthüllungsplattform FragDenStaat]. Die Berliner Staatsanwaltschaft | |
hat gegen Semsrott Anklage erhoben. Sie wirft ihm vor, drei Dokumente aus | |
einem laufenden Ermittlungsverfahren veröffentlicht zu haben. Dieses | |
Verfahren berührt auch die Presse- und Meinungsfreiheit. Es ging um [3][die | |
Überwachung der Aktivist:innen der Letzten Generation und ihrer | |
Telefongespräche mit Journalist:innen]. | |
Auch Correctiv steht vor Gericht. Das Recherchenetzwerk, das die Potsdamer | |
Konferenz aufdeckte, auf der Rechte verschiedenster Schattierungen über die | |
Ausweisung von Migrant:innen und Linken diskutierten, wird von mehreren | |
Teilnehmern mit sieben eidesstattlichen Erklärungen angegriffen: Die | |
Recherche sei völlig aus der Luft gegriffen. Correctiv wehrt sich mit acht | |
eidesstattlichen Versicherungen. | |
## Investigativjournalismus rechtlich schlecht geschützt | |
Über diesen Zirkus wird ein Gericht entscheiden. Es wird ein bahnbrechendes | |
Urteil werden, denn schon heute steht es um [4][den rechtlichen Schutz des | |
Investigativjournalismus vor Klagen] nicht zum Besten. | |
Überall steht die Frage im Zentrum: Können Journalist:innen ihrer | |
Aufgabe als vierte Gewalt, dem Staat auf die Finger zu schauen und freie | |
Meinungsbildung zu garantieren, noch nachkommen? | |
Manche monieren[5][, Semsrott und FragDenStaat hätten es darauf angelegt, | |
angeklagt zu werden], um so mehr Aufmerksamkeit auf das Thema | |
Informationsfreiheit zu lenken. Gut so! Der Zugriff des Staats [6][auf | |
politische Gruppen] und auf die Presse hat in den letzten Jahren | |
zugenommen. Er muss zurückgedrängt werden, gerade weil wir der | |
gravierenderen Gefahr ins Auge sehen, bei den vielen Wahlen in diesem Jahr | |
rechte Mehrheiten zu bekommen. | |
Regierungen mit AfD-Beteiligung oder solche unter der sich nicht klar | |
demokratisch positionierenden Merz-Söder-Union verheißen nichts Gutes für | |
die Freiheit. | |
## Autoritäre Forderungen | |
Deswegen ist die Kurzsichtigkeit vieler Journalist:innen bemerkenswert. | |
Statt für die Freiheiten, die wir in den kommenden düsteren Jahren dringend | |
brauchen werden, zu kämpfen, fordern viele, fundamentale Rechte | |
einzuschränken. | |
Selbst in der taz, einer Zeitung, die aus einem autoritätskritischen | |
Impetus gegründet wurde und die sich für Freiheiten und gegen staatliche | |
Repression eingesetzt hat, finden sich plötzlich autoritäre Forderungen: | |
[7][Man müsse „alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten ausschöpfen“, um | |
politisch Unliebsamen „Angst“ zu machen]. | |
Ein Akt beeindruckender Orwell’scher Gedankenakrobatik erschien letzte | |
Woche auf der Meinungsseite: [8][Meinungsfreiheit sei wichtig, | |
Antisemitismus jedoch sei keine Meinung]. Antisemitismus ist degoutant und | |
gefährlich, doch die Forderung, durch Sprachspielchen gewisse Ansichten aus | |
dem Grundrechteschutz herauszudefinieren, ist es ebenfalls. Wer legt fest, | |
was eine Meinung ist? Schon morgen könnte es ein AfD-Innenministerium sein. | |
Anderes Beispiel: Heute sind sich viele sicher, dass „From the river to the | |
sea“ nur die schlimmstmögliche Bedeutung hat – die Vernichtung Israels. | |
Darum dürfe die Parole nicht öffentlich geäußert werden; wer es doch tue, | |
verdiene es, verhaftet und sogar abgeschoben zu werden. Dass die, die diese | |
Parole nutzen, sagen, dass sie damit keinen Völkermord befürworten, sondern | |
den Wunsch ausdrücken, alle Menschen in Israel und Palästina mögen | |
friedlich und ohne Unterdrückung zusammenleben können, ist egal. Der | |
Interpretationsspielraum ist offenbar weit. | |
In einer Demokratie müsste man diese Uneindeutigkeit aushalten, man würde | |
debattieren und diskutieren. Nicht: verbieten. Wer Zeitungen voll | |
geschrieben hat mit Forderungen nach „strafrechtlichen Konsequenzen, die | |
abschrecken“, darf sich nicht wundern, wenn eine AfD- oder eine | |
CDU-Regierung die Argumente eins zu eins darauf anwendet, etwa den | |
beliebten Demospruch „Deutschland verrecke“ strafrechtlich zu verfolgen. | |
Wie also weiter mit der vierten Gewalt? Im Sinne von Julian Assange, Arne | |
Semsrott und Correctiv der Macht auf die Finger schauen, gerade dann, wenn | |
sie es nicht will? Oder sollen Journalist:innen nur noch das schreiben, | |
was den Mächtigen und dem Staat ohnehin gerade in den Kram passt, und die | |
Autorität anbetteln, doch bitte, bitte deren Gegner noch härter zu strafen? | |
Das ist arg. Wenn Journalist:innen selbst zu Claqueuren des autoritären | |
Turns werden, kann man sich in der Verteidigung der Demokratie nicht mehr | |
auf sie verlassen. | |
24 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Wikileaks-Gruender-Julian-Assange/!5993954 | |
[2] https://fragdenstaat.de/ | |
[3] /Abhoeraktion-bei-der-Letzten-Generation/!5940026 | |
[4] /Pressefonds-gegen-Klage-von-Rechts/!5939864 | |
[5] /Ermittlungen-gegen-FragDenStaat/!5974078 | |
[6] /Bericht-von-Amnesty-International/!5961355 | |
[7] /Antisemitismus-nach-dem-Hamas-Terror/!5966829 | |
[8] /Proteste-bei-Lesung-im-Hamburger-Bahnhof/!5988864 | |
## AUTOREN | |
Caspar Shaller | |
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