| # taz.de -- Ostdeutsche Friedensbewegung: Ein Pazifist war ich nie | |
| > Unser Autor wuchs in der DDR auf und wollte als Kind Offizier werden. Die | |
| > Nato war der Feind. Hier erzählt er, wie sich das änderte. | |
| Bild: Militärschau der NVA in Berlin 1987 | |
| Es kam selten vor, aber solche Momente gab es: Im November 1986 stimmten | |
| wohl fast alle DDR-Menschen einer Äußerung von Parteichef Erich Honecker | |
| zu. Er meinte, es müssten Wege gefunden werden, um [1][taktische Raketen | |
| mit einer Reichweite unter 1.000 Kilometern von DDR-Territorium zu | |
| verbannen]. Honecker tat nichts weniger, als Atomwaffen unterschiedslos als | |
| „Teufelszeug“ zu brandmarken. | |
| Das war ein neuer Ton. Bislang hatte die SED-Propaganda strikt darauf | |
| geachtet, westliche Waffen als Angriffswaffen und östliche Waffen als | |
| Verteidigungswaffen zu kennzeichnen. Das lernte jedes Schulkind so: „Der | |
| Friede muss bewaffnet sein“, tönte es tagein, tagaus. Wer sich dagegen | |
| stellte oder auch nur den Unterschied zwischen sowjetischen und | |
| amerikanischen Waffen nivellierte, wurde schnell in die Ecke eines | |
| Staatsfeindes gerückt. | |
| Ich muss immer wieder an dieses „Der Frieden muss bewaffnet sein“ denken, | |
| denn schon länger erscheint es mir unsinnig, dass der reichste Kontinent – | |
| Europa – und die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt – Deutschland – i… | |
| Verteidigung fast vollständig in die Hände der USA gelegt haben. Ja, ich | |
| verstehe alle die US-Präsidenten, wenn sie ein größeres, auch finanzielles | |
| Engagement von Deutschland und Europa fordern. | |
| Und mir wird schummrig vor Augen, wenn ich Demos in Deutschland sehe, auf | |
| denen die Nato als „Kriegstreiber“ verunglimpft wird. Für mich gehören | |
| solche Parolen zum Kampfarsenal des Kreml, nicht erst seit dem Februar | |
| 2022. Aber das war auch bei mir nicht immer so. | |
| ## Schrittweise Entfremdung vom System | |
| Als Kind meldete ich mich, um Berufsoffizier in der DDR zu werden. Mit 14, | |
| 15 Jahren widerrief ich. Ich war damals kein Gegner des SED-Sozialismus. | |
| Nur mit der Armee hatte ich es nicht so. Jeder, der mich auch nur | |
| einigermaßen kannte, glaubte mir, dass es mit dem Gehorchen und Befehlen | |
| bei mir nicht so richtig klappen würde. Also nahm ich meinen Berufswunsch | |
| zurück. | |
| Der Staat, die Schule, die Armee, die Stasi, die Partei, mein Vater | |
| entließen mich aber nicht so einfach, wie sie mich bereitwillig in den | |
| Kreis der Auserwählten für die Staatsverteidigung aufgenommen hatten. | |
| Es dauerte etwa 18 Monate, bis man mir bescheinigte zu sein, was ich gar | |
| nicht sein wollte: Staatsfeind, weil ich mich mit der Sicherheits-, | |
| Militär- und Friedenspolitik der SED nicht mehr identifizierte. Nicht | |
| einmal das stimmte. Aber wo sollte ich mich in der Diktatur beschweren, als | |
| die ich die DDR nun mit 14, 15, 16 kennenlernte? | |
| Im Beisein meiner Mutter erklärten mir Vertreter von Staat und Partei im | |
| Wehrkreiskommando Berlin-Köpenick Anfang 1983, dass meine Zukunft vorbei | |
| sei und ich über kurz oder lang wohl in Verwahranstalten des | |
| sozialistischen Vaterlandes landen würde. Meine Mutter war monatelang | |
| sprachlos. Mein Vater erstaunt über sein System. Und ich war wütend – viele | |
| Jahre lang. | |
| ## Ich wollte die DDR Wolf Biermanns | |
| Neue Freunde fingen mich auf und gaben mir Halt. Das waren fast alles junge | |
| Christinnen und Christen, die die DDR ohnehin längst anders erlebt hatten | |
| als ich bislang. Und es waren alles Pazifistinnen und Pazifisten. Ein | |
| solcher war ich nie, wurde ich nie. Meinem Vater sagte ich ins Gesicht, | |
| Revolutionen scheitern meist daran, dass Söhne nicht bereit sind, ihre | |
| Väter zu erschießen. | |
| Ich aber wollte eine siegreiche Revolution gegen diesen Staat. Ich muss | |
| verrückt gewesen sein. Zu gern würde ich diesen Satz zurücknehmen. Allein: | |
| Er war in der Welt und bestimmte fortan mein Denken. | |
| Aber ich war nicht gegen die DDR, ich wollte eine bessere DDR, eine, die | |
| die Menschenrechte achtet. Ich wollte eine DDR, von der Wolf Biermann | |
| träumte: „Die DDR auf Dauer, braucht weder Knast noch Mauer.“ | |
| Was für ein grandioser Irrtum, ein faszinierender, denn er ließ Leute wie | |
| mich weiterträumen. Ich hasste die Mauer, ich hasste die SED-Führung, ich | |
| hasste die SED-Geschichtspropaganda, ich hasste die Lügen, ich hasste fast | |
| alles. Aber ich hasste nicht genug, um die DDR komplett abzulehnen. | |
| ## Ich war kein Held | |
| Daher wollte ich auch nicht weg, daher ging ich Kompromisse ein, war kein | |
| Held. Ich war ein Feigling, der nicht radikal brach. In meiner Nische lebte | |
| ich und träumte davon, die Biermann-DDR zu erleben. Dafür ging ich | |
| Kompromisse ein, die ich mir heute nicht einmal selbst erklären kann. | |
| Die existierende DDR bot mir etwas, das ich trotz meines Hasses auf den | |
| hochmilitarisierten Staat, die hochmilitarisierte Gesellschaft, den | |
| durchmilitarisierten Alltag, trotz meines Hasses auf den Krieg der SED | |
| gegen die eigene Gesellschaft nie infrage stellte: Die SED-Führung war ein | |
| Friedensgarant, ihre Außenpolitik Friedenspolitik. Daran zweifelte ich | |
| trotz aller Zweifel keinen Augenblick. | |
| Als 1977 durchsickerte, dass die Sowjetunion Atomraketen in Reichweite der | |
| Nato-Staaten stationierte, kam es zum Nato-Doppelraketenbeschluss, den | |
| Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst gegen die eigene Partei durchsetzte. | |
| Auch auf DDR-Gebiet stationierte Moskau SS-20-Raketen. | |
| Ohne Kenntnis der Öffentlichkeit befanden sich dabei bereits seit 1959 | |
| Atomwaffen in der DDR. Das kleine Land war der wichtigste geopolitische | |
| Vorposten des Kreml. Es bildete eine militärstrategische Pufferzone und | |
| sollte bei einem möglichen Nato-Angriff als kurzzeitiger Rammbock dienen, | |
| bis sich das gewaltige Heer im Osten formiert hätte. | |
| ## Unterwandert von Moskau | |
| Viele junge Rekruten waren in der NVA erstaunt, als sie Angriffe auf | |
| West-Berlin, Bonn, München, Rotterdam oder andere westliche Städte üben | |
| mussten. War das die berühmte Nach-Vorne-Verteidigung? Warum übten die | |
| Warschauer-Pakt-Staaten Angriffe? | |
| Es war kein Zufall. Seit 1972 arbeitete ein ranghoher polnischer Offizier, | |
| Oberst Ryszard Kukliński, für die CIA. Er übermittelte über 40.000 geheime | |
| Dokumente aus dem Führungsgremium des Warschauer Pakts. Die westlichen | |
| Analysten trauten ihren Augen nicht: Es waren Angriffspläne. All das blieb | |
| geheim bis 1989/90. So konnte auch im Westen, nicht zuletzt durch die | |
| unabhängige Friedensbewegung, weiter an der Mär gebastelt werden, die Nato | |
| sei ein Angriffsbündnis, der Warschauer Pakt hingegen lediglich ein | |
| Verteidigungsbündnis. | |
| Wie schwer es Aktivisten aus der DDR hatten, die in der dortigen | |
| oppositionellen Friedens- und Menschenrechtsbewegung bis zu ihrer | |
| Ausbürgerung oder Ausreise engagiert waren, auf bundesdeutschen | |
| „Friedensdemos“ überhaupt gehört zu werden, um auch auf das Problem der | |
| sowjetischen Raketen hinzuweisen, ist hinlänglich bekannt – noch heute muss | |
| man das peinlich berührt zur Kenntnis nehmen. Ein Teil der Friedensbewegung | |
| im Westen war von Moskau und Ost-Berlin unterwandert – erfolgreich, sehr | |
| erfolgreich. | |
| Denn die SED-Friedenspropaganda konnte in der DDR nur so erfolgreich sein, | |
| weil ein Großteil im Westen sie mittrug und so die Anerkennung der | |
| SED-Friedenspolitik über den Umweg bundesdeutsche Friedensbewegung und | |
| Medien in den Osten zurückkam. Wenn die Alternativen im Westen das so | |
| sehen, warum sollte ich das dann eigentlich anders sehen? | |
| ## Alle waren sich einig: Abrüstung | |
| Es ging nicht nur mir so. Fast allen steckte die Angst vor einem Atomkrieg | |
| Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre noch in den Knochen. | |
| Am 19. Februar 1990 kam es am Zentralen Runden Tisch, wo DDR-Regierung, | |
| Altparteien und Opposition über die Auflösung des Ministeriums für | |
| Staatssicherheit stritten und den Weg zu den ersten demokratischen Wahlen | |
| bahnten, zu einem ganz unspektakulären Mehrheitsbeschluss. Das vereinte | |
| Deutschland solle keinesfalls Mitglied der Nato werden. | |
| Alle politischen Kräfte von Ost-CDU über Ost-SPD bis hin zum Neuen Forum | |
| waren sich im Frühjahr 1990 einig: Frieden könne nur durch Abrüstung, | |
| Entmilitarisierung, Auflösung der Militärblöcke einschließlich Auflösung | |
| der Nato garantiert werden. Auch der Koalitionsvertrag der ersten freien | |
| Regierung im April 1990 bekannte sich zur Auflösung der Militärblöcke. | |
| Es kam anders. Das Weiße Haus dachte gar nicht daran, die Bundesrepublik | |
| aus der Nato zu entlassen – in der Kohl-Regierung dachte daran auch niemand | |
| ernsthaft. Noch lange jedoch lebte im Osten die Annahme fort, die Nato sei | |
| ein Angriffs-, kein Verteidigungsbündnis. Diejenigen im Osten, die sich wie | |
| ich im Laufe der frühen 1990er Jahre von dieser Annahme lösten, waren im | |
| Osten nicht gerade mit vielen Freunden in dieser Frage umgeben. | |
| ## Ich wechselte die Fronten | |
| Was dazu beitrug? Noch Anfang Januar 1991 gehörte ich zu den Demonstranten, | |
| die gegen den UNO-Einsatz im zweiten Irak-Krieg waren. Ich hatte keine | |
| Angst. Aber ich sah in den USA nun genau jenen Welt-Gendarm, vor dem immer | |
| alle gewarnt hatten. Doch dann wurde mir gewahr, nicht zuletzt [2][durch | |
| den berühmten Essay von Wolf Biermann], dass der Irak die Existenz des | |
| Staates Israel direkt bedrohte. Also wechselte ich „die Fronten“. | |
| Vor allem die Kriege um das zerfallene Jugoslawien ließen mich zum | |
| Befürworter aktiver Kampfmaßnahmen der Nato und Deutschlands werden. Diese | |
| Forderung unterstützte ich ab 1994 und war damit 1999, als es zu diesen | |
| Einsätzen kam, auch in meiner engsten Freundesblase nicht gerade in der | |
| Mehrheit. | |
| Als Mensch mit ukrainischen Wurzeln zählte ich nicht nur ab 2008 zu den | |
| Unterstützern der Forderung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Ich war | |
| ab dieser Zeit auch dafür, sie massiv mit militärischen Mitteln gegen den | |
| Aggressor Russland auszustatten, dessen mörderisches Tun an gleich mehreren | |
| Stellen mit Schrecken zu beobachten war. | |
| Bis heute hält sich selbst in unverdächtigen Kreisen die Annahme, die DDR | |
| wäre ein Friedensstaat gewesen und die Nato sei ein Angriffsbündnis | |
| gewesen. Im Osten dürfte diese Annahme weiterhin mehrheitsfähig sein. Das | |
| hat nichts mit Fakten zu tun. Das sind Gefühlslagen. Und die sind | |
| irrational, also nicht wirklich erklärbar. | |
| Ich jedenfalls bin froh, dass der Osten 1990 in der Frage der Nato einfach | |
| zur Seite gedrückt wurde mit seinen „Gefühlen“. Die Nato-Osterweiterung w… | |
| die wichtigste Maßnahme, um Polen oder dem Baltikum Sicherheit zu | |
| garantieren. Die Forderung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, scheiterte | |
| 2008 unter anderem an einer Ostdeutschen. | |
| 18 Feb 2024 | |
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