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# taz.de -- Obersee-Viertel in Berlin-Lichtenberg: Die grüne Oase der Stasi-El…
> Hohe Offiziere des MfS blieben nach 1990 in „ihrem“ Viertel am Obersee in
> Lichtenberg wohnen. Ein Spaziergang mit Ex-Oberstleutnant Wolfgang
> Schmidt.
Bild: Der Obersee im Lichtenberger Ortsteil Alt-Hohenschönhausen
Berlin taz | Mielke, Lamberz, Kleine: Die Namensschilder an den Gartentoren
in der Oberseestraße im Lichtenberger Ortsteil Alt-Hohenschönhausen haben
ihre Eliten-Aura nicht verloren. Trotz der Tatsache, dass die Wende schon
35 Jahre zurückliegt, residieren in den Häusern noch immer einige der
prominentesten Dynastien des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates.
In der Nachbarschaft siedelten sich zu DDR-Zeiten in Scharen hochrangige
Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit an – Meister der Spionage,
der Täuschung, der Manipulation und der Fälschung. Kein Wunder, dass sie
sich für diesen Winkel Ostberlins entschieden. Auch aus heutiger Sicht
erscheint die Gegend reizvoll.
Die Häuser stehen dicht um den 1895 künstlich angelegten Obersee. Üppige
Hintergärten erstrecken sich bis zum Ufer. Erker und alte Pflastersteine.
Das Viertel strahlt noch immer sein ursprünglich großbürgerliches Flair aus
den Gründerjahren aus. Es war dann allerdings eine ganz andere Schicht, die
nach der Gründung der DDR 1949 die Häuser in Besitz nahm.
So dicht drängten sich die Stasi-Mitarbeiter entlang der idyllischen
Wohnstraßen, so fest verknüpft war diese obere Ebene der ostdeutschen
Gesellschaft, dass „wahrscheinlich mit den Jahren bei der Stasi ein
‚Inzuchtproblem‘ entstanden wäre, hätte sich die DDR-Geheimpolizei nicht
historisch selbst ins Abseits manövriert“, wie der Historiker Hans-Michael
Schulze in seinem Buch „In den Villen der Agenten – Die Stasi-Prominenz
privat“ schreibt. Am Obersee seien 1989 jedenfalls viele Bewohner
untereinander eng verwandt gewesen.
## Geübt im Erteilen und Empfangen von Befehlen
Nach dem Ende der DDR sahen die Stasi-Chefs und ihre Familien keinen Grund,
das attraktive Viertel zu verlassen. Wie die Nachnamen an den Haustüren und
den Gartentoren bezeugen, sind viele bis heute geblieben. Hier, in ihrer
grünen Oase mitten in der Stadt.
[1][Wolfgang Schmidt, ehemaliger Mitarbeiter des MfS], hat im Park auf der
Südseite des Obersees auf einer der Bänke mit Blick auf das Wasser Platz
genommen. Im Schatten der Bäume lässt das unbestimmbare grün-braune Leder
seiner Jacke ihn fast mit der Umgebung verschmelzen. Sein Blick ist hinter
einer Brille mit rauchfarbenen Gläsern verborgen.
Der Oberstleutnant a. D., Jahrgang 1939, wohnt seit 1988 in
Alt-Hohenschönhausen. 33 Jahre habe er für das Ministerium gearbeitet, sagt
Schmidt. „In dieser Zeit sind natürlich Freundschaften und Beziehungen
entstanden, die ja nicht durch die Auflösung des MfS beendet wurden. Auch
in dem Wohngebiet hat man natürlich weiter zusammengelebt.“
Die etwas steife Mimik, die leicht stakkatoartige Sprechweise – als wäre er
gerade dabei, über eine Gruppe potenzieller Dissidenten Bericht abzulegen –
erwecken den Eindruck von jemandem, der es gewohnt ist, sich in einer
Organisation mit einer strengen Hierarchie einzufügen. Das Erteilen und
Empfangen von Befehlen ist ihm tatsächlich nicht fremd. Schmidt war für die
Überwachung politischer Oppositioneller in der DDR verantwortlich.
## Kernbereich der politischen Repression und Überwachung
Als 17-Jähriger trat Schmidt ins MfS ein. Seit 1959 spielte sich sein
Alltag in der Stasi-Zentrale in der Lichtenberger Normannenstraße ab,
genauer: in der Hauptabteilung XX – dem Teil des Ministeriums, der den
Kernbereich der politischen Repression und Überwachung bildete. [2][Am 15.
Januar 1990 wurde die Stasi-Zentrale öffentlichkeitswirksam gestürmt.] Das
Haus 7, der Sitz der Hauptabteilung XX, blieb vom Sturm verschont. Erst ab
4. September 1990 wurde es durch Bürgerrechtler besetzt, die für eine
Öffnung der Stasi-Akten kämpften.
Schmidt war da längst Geschichte. „Ich war in der Hauptabteilung XX als
Führungsoffizier für rund 15 Inoffizielle Mitarbeiter tätig. Später habe
ich mich mehr mit der Analyse und Verarbeitung von Informationen
beschäftigt“, sagt er mit heiserer Stimme.
Mit seinem Wissen über die Stasi half Schmidt dem Regisseur Florian Henckel
von Donnersmarck den Film „Das Leben der Anderen“ zu drehen, [3][dessen
Hauptfigur einige Ähnlichkeiten mit ihm aufweist]. Schmidt ist jedoch nicht
begeistert von dem Film, den er als „Propaganda gegen die MfS“ bezeichnet.
Er könne manche „Erfolgserlebnisse“ vorweisen, sagt Schmidt. „Es war ja
wichtig, vorauszuschauen und zu sehen: Wie wird sich eine Situation
entwickeln? Und was könnte man dagegen rein praktisch tun? Es war schon
anspruchsvoll. Normalerweise habe ich zehn Stunden am Tag gearbeitet“,
erzählt der 85-Jährige.
Eine typische Aufgabe, die ihn beschäftigte, sah dann so aus: „Gruppen von
Homosexuellen haben sich zusammengefunden in den Kirchen Anfang der 80er
Jahre. Nun stellte sich die Frage: Wie sollte man mit denen umgehen? Es
bestand die Gefahr, dass sie sich organisieren und zu einer Bewegung gegen
die DDR entwickeln würden. Meine Aufgabe war es, die Situation zu
beurteilen und Lösungen vorzuschlagen.“
## „Eine schreckliche Niederlage“
Beim Oberstleutnant hätte es nicht bleiben müssen, glaubt Schmidt. Er hätte
auch Oberst werden können. „Aber dann …“ Schmidt unterbricht sich mit ei…
leisen Lachen, um anzudeuten, dass die DDR implodierte, bevor es dazu kam.
Ein Ereignis, das er ohne Zögern als „eine schreckliche Niederlage“
bezeichnet: „Ich habe mein ganzes Leben dafür eingesetzt, die DDR zu
erhalten und zu verteidigen. Dann ist natürlich auch mein ganzer
Lebensinhalt zusammengebrochen.“
Die Stasi wurde 1990 zusammen mit dem Arbeiter- und Bauernstaat aufgelöst.
Aber das Leben in der Nachbarschaft ging weiter. Und unter den Bewohnern
blieb der Korpsgeist aus der Zeit des aktiven Dienstes intakt. Durch die
Gründung von Vereinen und das Abhalten von Veranstaltungen pflegten die
ehemaligen Kollegen des Geheimdienstes weiterhin ihr Netzwerk, ja
verstärkten sogar ihre kameradschaftlichen Beziehungen.
In der Regel arbeiteten beide Ehepartner in den Häusern rund um den Obersee
als Offiziere der Staatssicherheit, schreibt zumindest Publizist
Hans-Michael Schulze. Dass die Kinder von MfS-Offizieren ebenfalls zur
Stasi gingen, sei nichts Ungewöhnliches gewesen: „Im Gegenteil, im Laufe
der Jahre stellten sie einen nicht unbeträchtlichen Teil des Nachwuchses in
der ‚Firma‘. Die Väter bewiesen damit, dass sie in der Lage waren, ihren
Kindern den ‚richtigen Klassenstandpunkt‘ zu vermitteln.“
Auch die Frau von Schmidt hat für den Geheimdienst gearbeitet. Der
Ex-Oberstleutnant trifft noch immer auf früheren Stasi-Kollegen in der
Nachbarschaft, mit mehreren ist er bis heute eng befreundet. „Wir sind ja
im Rentenalter. Viele sind schon verstorben. Oder sind gesundheitlich
ausgeschieden. Politisch sind wir uns heute noch sehr nah. Wir stehen
allgemein nicht auf der Seite der AfD, sondern mehr links. Das ist schon
klar.“
Bis vor einem Jahr hätten er und seine Kollegen gemeinsam
selbstorganisierte Reisen unternommen. In seiner Abteilung innerhalb der
Hauptabteilung XX hätten 54 Leute gearbeitet. Nicht alle wären bei den
Reisen dabei gewesen. „Aber 20 bis 30 Leute sind noch zusammengekommen.
Innerhalb Deutschlands sind wir gefahren. Mal nach Dresden. Weimar. Auch in
den Westen“, erzählt Schmidt.
## Vereinsmeierei auf dem absteigenden Ast
Der Zusammenhalt im Viertel sei nach der Wiedervereinigung vor allem durch
den Druck von außen und die, wie er es nennt, „Hetze“ gegen die Stasi
gestärkt worden. Die „Diskriminierung“ und „Ausgrenzung“ ehemaliger
Stasi-Mitarbeiter aus der Nachbarschaft hätten eine Gegenkraft erzeugt. Und
die richtete sich vor allem auf die Rentenfrage: „Die Renten der
Staatssicherheit wurden begrenzt.“ Zunächst auf 70 Prozent, die sich aus
einem DDR-Durchschnittsverdienst ergaben. „Wir waren deutlich
benachteiligt. Wir haben dann gekämpft. Die anderen Sicherheitsorgane
wurden auch benachteiligt. Dann haben wir ISOR gegründet“, berichtet
Schmidt.
ISOR, das ist die Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte
ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR.
Seit 1991 setzt sich der Verein für die Rentenansprüche der ehemaligen
MfS-Mitarbeiter ein. 2006 erregte er größere Aufmerksamkeit, als der
damalige Innensenator Ehrhart Körting (SPD) den Laden eine
„geschichtsrevisionistische Clique“ nannte.
Eine weitere Initiative war die Gründung des „Insiderkomitees“, das sich
der Aufgabe widmete, die Stasi vor der „Verleumdung“ zu schützen, die nach
Ansicht von Schmidt und seinen Mitstreitern in der Öffentlichkeit
stattfindet. Die Aktivitäten der 1992 gegründeten Organisation gingen
jedoch mit zunehmendem Alter der Mitglieder zurück.
„Ich war fast der letzte übrig vom ‚Insiderkomitee‘. Die Webseite war me…
Metier. Mehr als 20 Jahre habe ich die betrieben“, sagt Schmidt. Im
Frühling 2023 löste sich das „Insiderkomitee“ selbst auf. Außer [4][der
neostalinistischen Tageszeitung Junge Welt] nahm kaum jemand Notiz davon.
Anmerkung: In einer früheren Version des Beitrags hieß es, Wolfgang Schmidt
lebe selbst im Obersee-Viertel. Das trifft nicht zu. Er wohnt zwar im
Ortsteil Alt-Hohenschönhausen, nicht aber am Obersee. Wir haben den Fehler
korrigiert.
12 Jan 2025
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## AUTOREN
Jens Malling
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