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# taz.de -- Friedensaktivist Jürgen Grässlin: Flucht in die Utopie
> Seit Beginn des Ukrainekriegs wirkt der Pazifismus aus der Zeit gefallen.
> Der Aktivist Jürgen Grässlin kündigt ein Netzwerk „für positive
> Nachrichten“ an.
Bild: Jürgen Grässlin (r.) mit Konstantin Wecker (l.)
Am Schluss singt der Saal unter Anleitung von Konstantin Wecker ein Lied
von Hannes Wader: „Und sie haben uns damals genauso belogen, wie sie es
heute immer noch tun …“ Ein pazifistischer Abend in Freiburg, kurz bevor
die Ostermärsche wieder starten. Jürgen Grässlin und Liedermacher
Konstantin Wecker, seit langem Freunde, haben zu einer Benefizveranstaltung
zugunsten des Rüstungsinformationsbüros eingeladen, das Jürgen Grässlin vor
Jahren gegründet hat. 900 kostenlose Karten waren im Nu verteilt, es wären
noch ein paar hundert mehr weggegangen, sagt der Veranstalter.
Jürgen Grässlin ist eine der wichtigsten Galionsfiguren des deutschen
Pazifismus. Er hat die Tricks der deutschen Rüstungsindustrie in 18 Büchern
aufgedeckt, sich mit Waffenfirmen wie SIG Sauer und Heckler & Koch
angelegt. 30 Prozesse wurden gegen ihn geführt, er habe sie alle gewonnen,
sagt er. Und das alles neben seinem Brotjob als Realschullehrer an einer
Freiburger Schule. Wenn jemand wie er und Konstantin Wecker hier gegen
Krieg auf- und eintreten, strömt das Publikum herbei, das mehrheitlich
schon lange das wehrpflichtige Alter hinter sich hat.
Hier und da sind Friedensbuttons und Solidaritätsschilder mit [1][Julian
Assange] zu sehen und auch ein Palästinensertuch. Jürgen Grässlin trägt ein
regenbogenfarbenes Hemd unter dem Jackett. Den halben Abend lang erzählt er
auf der Bühne aus seinem bewegten Aktivistenleben: Wie er Daimler dazu
gebracht hat, sich von seinem Rüstungsgeschäften zu trennen und wie er als
Erster eine Verurteilung von Heckler & Koch wegen illegalen Waffenhandels
erreicht hat. Dass er nach Somalia und Kurdistan gereist ist, um den Opfern
deutscher G3-Sturmgewehre eine Stimme zu gegeben.
Große Erfolge zweifellos, aber es ist auch ziemlich viel Bewunderung für
sich selbst bei diesen Heldenerzählungen dabei. Und ziemlich wenig, was
helfen könnte, in einer Zeit, in dem [2][der größte Krieg in Europa] seit
dem Zweiten Weltkrieg tobt und Aggressoren dabei sind, die Welt neu zu
ordnen.
Grässlin hat seit dem Überfall auf die Ukraine auf Ostermärschen und
Demonstrationen Land auf, Land ab geredet. Er brandmarkt diesen
Angriffskrieg, nennt ihn ein Verbrechen, ohne Frage. Aber er ist für ihn
halt nur einer in einer Reihe von schrecklichen Kriegen, die er seit 40
Jahren beobachtet. Kriege, die aus seiner Sicht alle aus einem Grund
geführt werden: weil es die Waffen dafür gibt und Menschen, die daran
verdienen.
Er hat sich für Friedensverhandlungen mit Russland ausgesprochen, sich aber
gerade noch rechtzeitig von der Unterstützung [3][von Alice Schwarzers und
Sahra Wagenknechts Friedensbewegung distanziert], als deutlich wurde, dass
dort auch Rechte mitlaufen. Er wurde über die beiden Kriegsjahre immer
vorsichtiger damit, den Ukrainern Ratschläge zu geben. Aber er bleibt
dabei, er hätte sich dort mehr zivilen Ungehorsam gewünscht: weiß
gekleidete Menschen etwa, die sich unbewaffnet Panzern entgegenstellen. Das
würde weniger Opfer kosten und weniger Zerstörung bringen, sagt er.
Grässlin verweist dabei auf die [4][Studien der amerikanischen Politologin
Erica Chenoweth], die herausgefunden hat, dass in den vergangenen 100
Jahren gewaltloser Widerstand der erfolgreichere war. Die allerdings auch
sagt, dass ihr Erfolg in den vergangenen 30 Jahren abgenommen hat.
## Die Welt passt diesen Abend in einen Hasenstall
Aber all diese Fragen kommen an diesem Abend höchstens am Rande vor.
Irgendwie scheint die Welt in Freiburg an diesem Abend in einen Hasenstall
zu passen. Das Motto: Frieden ist möglich, wenn es nur alle wollen.
Grässlin präsentiert seine neuen Projekte: ein globales Netz für
Friedenslieder, für das Konstantin Wecker als Schirmherr fungiert, und
VibeWe, ein im Aufbau befindliches Netzwerk für „positive Nachrichten und
schöne Gedanken, erholsame Abende“. Weil er gemeinsam mit Konstantin Wecker
an einem Mutmachbuch sitzt, nimmt er kaum Termine wahr und ist auch nicht
bei den Ostermärschen dabei.
Seltsam unpolitisch das alles, merkwürdig weltabgewandt. Grässlin hat keine
aktuellen Recherchen zu präsentieren, wie etwa Embargo-Verletzungen
deutscher Rüstungsunternehmen nach Russland. Er hat keine russischen
Friedensaktivisten im Exil eingeladen, die berichten, wie es ist, im
Putinstaat Widerstand zu leisten, wo man weder Politiker noch
Rüstungsunternehmen vor Gericht bringen kann. Da ist niemand aus der
Ukraine auf der Bühne, der vielleicht mit seinen Ideen zur zivilen
Konfliktlösung sympathisiert oder mit dem Friedensaktivisten einen
kritischen Dialog darüber führt. Grässlin, Wecker und die 900 Gerechten im
Paulus-Saal genügen sich selbst.
Jürgen Grässlin bekennt, er schaue keine Nachrichten mehr, weil er genug
habe von Bildern von explodierenden Häusern in Gaza und Kommentaren
darüber, es seien Hamas-Kämpfer „unschädlich gemacht“ worden, während d…
zivilen Opfer unerwähnt blieben. Immerhin markiert er die Hamas
unmissverständlich als Terrororganisation, auf die man eine Antwort finden
müsse.
Einem Künstler wie Konstantin Wecker verzeiht man die Flucht in
Wunschdenken und die Utopie und den Rückblick auf das Lebenswerk, zumal mit
75. Aber wenn sich einer der wirksamsten Friedensaktivisten der vergangenen
Jahrzehnte in so einer Zeit von der Welt abwendet, fragt man sich schon:
Ist die Lage so aussichtslos? Oder müsste Jürgen Grässlin eigentlich
zugeben, mit seinem pazifistischen Ansatz am Ende zu sein?
28 Mar 2024
## LINKS
[1] /Urteil-des-britischen-Gerichts/!5997742
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[3] /Wagenknecht-und-die-Rechten/!5915376
[4] /Friedensforscherin-ueber-den-Ukrainekrieg/!5846168
## AUTOREN
Benno Stieber
## TAGS
Friedensbewegung
Ostermärsche
Jürgen Grässlin
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Waffenstillstand
GNS
Friedensbewegung
Heckler und Koch
Nato
Schwerpunkt Stadtland
Russland
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