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# taz.de -- Medikamentenmangel in Deutschland: Wenn die Tabletten zur Neige geh…
> Ein Medikament gegen HIV wird knapp. Die Ursachen ähneln denen anderer
> Fälle von Arzneimittelmangel. Für einige Patienten ist das
> lebensbedrohlich.
Bild: Ein Mangel an Medikamenten kann für Patient*innen lebensgefährlich werd…
Berlin taz | Fieber- und Schmerzmittel, Antibiotika, Hustensaft, sogar
Krebsmedikamente – [1][immer wieder wurden Arzneimittel in den vergangenen
Jahren knapp.] „Aber dass es ein Medikament gar nicht mehr gibt, das habe
ich noch nicht erlebt“, sagt die Leiterin einer Berliner
HIV-Schwerpunktapotheke. Die Regale seien absolut leer. Apotheker aus
anderen Städten riefen an, Patient*innen kämen mit Rezepten, doch sie
stehe mit leeren Händen da. Besonders dramatisch ist, dass sich
Patient*innen mit diesem Medikament vor einer noch immer unheilbaren
Infektion schützen oder behandelt werden wollen. Das HIV-Medikament
Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil ist fast überall aus. Und für viele
Patient*innen gibt es keine Alternative.
Vor wenigen Tagen schlug die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger
Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (DAGNÄ)
Alarm. Nicht nur könnten HIV-Infektionen wieder zunehmen, warnte sie. Für
HIV-Infizierte, die auf diese Tabletten angewiesen seien, bestehe sogar
Lebensgefahr.
In Apotheken und HIV-Schwerpunktpraxen spitzt sich die Lage bereits seit
Monaten zu. Nun sei die Situation noch schlimmer als befürchtet, heißt es
von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV- und Hepatitis-kompetenter
Apotheken ( DAH2KA). Über 90 Prozent der 100 HIV-Schwerpunktambulanzen
bundesweit hätten das Medikament nicht mehr auf Lager. Die Gründe dafür
werfen ein Schlaglicht auf den deutschen Arzneimittelmarkt.
## Für einige Patienten ist das Medikament alternativlos
Das HIV-Medikament enthält die Wirkstoffe Emtricitabin und
Tenofovirdisoproxil. Sie verhindern, dass das HI-Virus in Körperzellen
eindringen und sich dadurch vermehren kann. Drei Gruppen von
Patient*innen nehmen dieses Medikament ein. Für zwei von ihnen ist es
alternativlos, für eine lebensnotwendig.
Die erste Gruppe sind HIV-negative Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko.
Bundesweit knapp 40.000 Menschen – vor allem Männer, die Sex mit Männern
haben – nehmen das Mittel [2][im Rahmen der
Präexpositionsprophylaxe] (Prep) ein, um sich vor einer
HIV-Infektion zu schützen. Denn [3][eine Impfung gegen das noch immer
unheilbare HI-Virus], das unbehandelt die tödliche Immunschwäche Aids
auslöst, gibt es auch über 40 Jahre nach seiner Entdeckung noch nicht.
Menschen mit häufig wechselnden Sexualkontakten oder mit einer*einem
noch nicht sicher eingestellten HIV-positiven Partner*in profitieren von
der Möglichkeit der Prep. Die Behandlung wird täglich oder anlassbezogen
durchgeführt. Seit 2019 übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die
Kosten. Das Robert-Koch-Institut bewertete die Prep [4][in einer Studie
als „hoch effektiv“] für die HIV-Prophylaxe.
Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil ist das einzige Medikament, das in
Deutschland für die Prep zugelassen ist, und damit alternativlos. Das
zeigt den Ernst der Lage.
Heribert Hillenbrand ist niedergelassener Arzt in einer Berliner
HIV-Schwerpunktpraxis. Schon im Dezember hätten die Apotheken nur noch
Monatspackungen ausgegeben. Täglich kämen um die fünf Patienten zu ihm,
denen das Medikament für die Prep ausgeht. Er rät ihnen dann, auf die
anlassbezogene Prophylaxe umzusteigen, wenn sie dafür noch genug Tabletten
haben. Manche würden sich das Medikament auch im europäischen Ausland
bestellen. „Es ist meine Sorge und nicht nur meine, dass die Neuinfektionen
steigen, wenn die Patienten das nicht mehr regelmäßig nehmen können“,
sagt Hillenbrand.
Die zweite Gruppe, die auf das Medikament angewiesen ist, sind HIV-positive
Menschen, die das Medikament im Rahmen einer antiretroviralen Therapie
erhalten. Zwar gibt es eine Vielzahl von Medikamenten, auf die sie
ausweichen können. „Aber eine Umstellung ist aufwendig und sorgt für große
Verunsicherung unter den Patienten“, sagt Hillenbrand. Über 500
Patient*innen mit HIV behandelt er in seiner Praxis, rund ein Fünftel
nehme Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil im Rahmen der antiretroviralen
Therapie. Für sie müsse er nun eine Alternative finden, die genauso
verträglich und wirksam ist. Denn die Einnahme zu unterbrechen ist bei HIV
undenkbar.
Die dritte Gruppe sind HIV-positive Menschen, die das Medikament im Rahmen
einer Salvage-Therapie erhalten. Salvage heißt Rettung – letzte Rettung
trifft es wohl besser. Denn bei den Patient*innen handelt es sich um
Menschen, die häufig schon sehr lange mit HIV leben und Resistenzen gegen
die verfügbaren Medikamente entwickelt haben.
„Nur nach langem Herumprobieren konnte hier noch eine verträgliche,
wirksame Therapie bei schwerstkranken Menschen gefunden werden“, sagt
Stefan Esser. Er leitet die HIV-Ambulanz am Universitätsklinikum Essen und
ist Vorsitzender der Deutschen AIDS-Gesellschaft. Wenn
Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil in dieser Therapie enthalten ist, dann
wird ihr Ausfall lebensbedrohlich. In der HIV-Ambulanz in Essen werden laut
Esser 2.000 HIV-positive Patient*innen behandelt. 30 von ihnen seien
auf Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil angewiesen. „Das ist eine sehr kleine
Gruppe, die aber zeigt, wie dramatisch der Mangel werden kann“, so Esser.
## Anfällige Oligopole
Aber wie konnte es denn nun so weit kommen, dass das HIV-Medikament fast
nirgends mehr zu bekommen ist?
Die Ursachen ähneln sich in nahezu allen Fällen von
[5][Medikamentenknappheit, die in den letzten Jahren aufgetreten sind].
Wenn das Patent für ein Originalprodukt ausläuft, setzt unter den
Herstellern von Generika – also von günstigen Nachahmerprodukten – ein
Preiswettbewerb ein. Bei Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil heißt das
Originalprodukt Truvada, das Patent des US-amerikanischen Herstellers lief
2017 aus. Eine Vielzahl von Generikaherstellern positionierte sich in einem
Preiswettkampf am Markt – nur so wurde die Prep-Behandlung für viele
Menschen überhaupt erschwinglich.
Mit der Kostenübernahme der Prep durch die gesetzlichen Krankenkassen wurde
ein maximaler Festbetrag bestimmt, und es wurden Rabattverträge mit den
Herstellern der günstigsten Arzneimittel abgeschlossen. Die Apotheken
müssen diese bei Verfügbarkeit herausgeben, das drückt noch einmal die
Preise.
Zum Vergleich: Eine Tablette kostet bei den günstigsten Generikaherstellern
weniger als 2 Euro, beim Originalhersteller fast 30 Euro. Mehrere
Hersteller zogen sich in den letzten Jahren ganz aus dem deutschen Markt
zurück, andere reduzierten ihre Marktanteile deutlich. In der Wirtschaft
spricht man von einem Oligopol – wenige Unternehmen beherrschen den Markt.
Und solch ein Oligopol ist anfällig. Mindestens seit Oktober und November
haben zwei der günstigsten Hersteller von Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil
Probleme, das Medikament herzustellen. Im Dezember meldete mit Ratiopharm
auch der dritte und aktuell größte Hersteller, er könne der erhöhten
Nachfrage nicht mehr gerecht werden. Zusammen bedienen diese drei
Unternehmen nach Angaben von Branchenkenner*innen über 70 Prozent des
Marktes.
Diese Lieferengpässe können die übrigen Hersteller nicht ausgleichen. Es
wäre für sie auch ein Risiko. Denn sobald die Unternehmen, die im Rahmen
von Rabattverträgen bevorzugt werden, wieder liefern können, bleiben sie
auf ihrer hochgefahrenen Produktion sitzen. Den Apotheken, die diese
teureren Medikamente bestellen, geht es ähnlich.
Wenn bei den Hauptanbietern also die Produktion stockt oder Lieferketten
unterbrochen sind, dann gerät die Versorgung schnell in Gefahr. Denn
größere Vorräte gibt es angesichts hoher Lagerkosten kaum. In einer
globalisierten Wirtschaftswelt kommt es immer wieder zu Ereignissen, die
die Lieferung gefährden: zu Verunreinigungen in der Herstellungskette zum
Beispiel, die eine langwierige Umstellung der Produktion erfordern, oder zu
Streiks von Arbeiter*innen, zu Havarien in den Fabriken, zu durch Kriege
abgeschnittenen Transportwegen und nicht zuletzt zu Problemen bei einem
der Grundstoffe oder beim Verpackungsmaterial.
## Mangel auch in anderen europäischen Ländern
Was genau die aktuellen Produktionsprobleme bei dem HIV-Medikament
ausgelöst hat, lässt sich schwer sagen. Klar ist, dass inzwischen auch
andere europäische Länder einen Mangel melden. In einigen dieser Länder
sind die Erlöse, die Hersteller mit diesem Medikament erzielen können,
deutlich höher, was den Mangel auf dem deutschen Markt verschärfen kann.
In Deutschland überwacht das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM) die Versorgungslage. Laut BfArM dürften die
Lieferschwierigkeiten bei Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil im Wesentlichen
bis März/April andauern. Im Februar könnte sich die Lage leicht entspannen,
da einzelne Hersteller planen, ihre Lieferungen zu erhöhen oder
vorzuziehen. Gegenüber der taz bestätigte ein Sprecher von Ratiopharm, dem
aktuell größten Anbieter, das Unternehmen könne „den nächsten Liefertermin
von Anfang März auf Mitte Februar nach vorne korrigieren“.
Vom BfArM heißt es, man habe überschüssige Warenkontingente in den USA
identifiziert, die importiert werden könnten. Das
Bundesgesundheitsministerium kann ebenfalls Maßnahmen ergreifen, indem es
offiziell einen Versorgungsmangel erklärt. Zuletzt hat es das im Dezember
2023 [6][für salbutamolhaltige Medikamente] getan. Das Minisierium wollte
sich gegenüber der taz nicht dazu äußern, ob es solch eine Maßnahme plant.
Man habe den Aussagen des BfArM nichts hinzuzufügen, hieß es von einem
Sprecher.
Das Gesundheitsministerium hatte im vergangenen Jahr [7][verschiedene
Maßnahmen vorgestellt], um den immer wiederkehrenden Lieferengpässen zu
begegnen – darunter höhere Lagermengen für kritische Medikamente und neue
Vergabekriterien für Rabattverträge, bei denen bevorzugt europäische
Hersteller zum Zug kommen. Kurzfristig wird das laut
Branchenkenner*innen allerdings kaum Wirkung zeigen.
Ein Medikamentenmangel in solch einem sensiblen Bereich wie HIV störe das
Vertrauen der Menschen ins Gesundheitssystem nachhaltig, warnte
DAGNÄ-Vorstand Stefan Mauss schon im Dezember. Da hieß es noch, im Januar
werde das HIV-Medikament Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil wieder geliefert.
Nun hoffen alle auf den Februar.
22 Jan 2024
## LINKS
[1] /Versorgungsnot-in-der-Kindermedizin/!5982363
[2] /Nach-40-Jahren-Aids/!5789103
[3] /Suche-nach-HIV-Impfstoff/!5817062
[4] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/H/HIVAIDS/EvE-PrEP_Kurzbericht.pdf?__bl…
[5] /Engpaesse-bei-wichtigen-Medikamenten/!5899340
[6] /Versorgungslage-in-der-Kindermedizin/!5982311
[7] /Fiebersaft-Knappheit-in-Apotheken/!5942709
## AUTOREN
Manuela Heim
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