# taz.de -- Schutz vor Geschlechtskrankheiten: Freie Liebe auf Rezept | |
> Neue Medikamente machen Hoffnung auf ungeschützten Sex, vor allem in | |
> der schwulen Szene. Doch ohne Nachteile geht es nicht. | |
Zwei junge Männer stehen eng beieinander. Der eine mit Glatze, der andere | |
mit Schnurrbart und Perlenkette. Ihr Look ist trendy, genderfluid. Beide | |
schauen ernst in die Kamera. Das Bild, auf dem die beiden zu sehen sind, | |
wirkt wie die Ankündigung einer queeren Technoparty in einem Berliner Club. | |
Doch weit gefehlt. Es ist die Werbeanzeige eines Pharma-Onlineshops. „Kein | |
Bock auf sexuell übertragene Infektionen?“, steht auf Englisch unter dem | |
Foto der Männer. Und als Antwort: „Beginn jetzt mit Plan D!“ | |
Mit Plan D meint diese Werbung ein medizinisches Verfahren, das heute | |
allgemein als „Doxy-PEP“ bekannt ist. Darunter versteht man die präventive | |
Einnahme des Antibiotikums Doxycyclin nach einem potenziellen Kontakt zu | |
sexuell übertragbaren Bakterien. Die Abkürzung PEP steht für | |
Postexpositionsprophylaxe – eine Art Pille danach. | |
Das seit 1976 zugelassene Arzneimittel Doxycyclin wird bereits zur Therapie | |
von Chlamydien eingesetzt, eine der meistverbreiteten | |
Geschlechtskrankheiten, die durch Bakterien verursacht wird. Studien aus | |
den vergangenen Jahren mit schwulen Männern und Transfrauen haben nun | |
gezeigt, dass die einmalige Einnahme einer Dosis Doxycyclin das Risiko | |
wirksam reduziert, nach ungeschütztem Sex Chlamydien oder auch Syphilis zu | |
bekommen. Einige dieser Studien deuten auch auf eine, wenngleich geringere, | |
Wirksamkeit gegen Tripper hin. | |
Eine Packung Doxycyclin mit 20 Pillen bekommt man in jeder Apotheke; dafür | |
braucht man nur ein Rezept vom Arzt. Man kriegt es aber auch ohne | |
Arztbesuch, denn seit einigen Jahren bieten Onlineshops den Verkauf von | |
verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Doxycyclin an. Ganz legal – das | |
Ausfüllen eines Fragebogens reicht in der Regel aus, damit ein mit der | |
Website kooperierender Arzt das Rezept ausstellt, auch ohne | |
Patientengespräch. | |
So tut das auch das Unternehmen, das auf dem oben erwähnten Plakat Doxy-PEP | |
als Rundum-Sorglos-Paket verkauft. Man muss einige Sachen anklicken, dann | |
bekommt man ein Rezept. Und wenn man will, das Medikament gleich mit. | |
Doxy-PEP könnte ein Game Changer für die (schwule) Sexwelt sein. In der | |
Szene hat sich die Methode mittlerweile zu einem medizinischen Hype im | |
Kampf gegen „Sexually Transmitted Infections“ (STI), durch Sex übertragene | |
Infektionen, entwickelt. | |
Viele schwule Männer in Berlin haben die Anzeige in den vergangenen Monaten | |
in ihre Social-Media-Feeds gespült bekommen. Was steckt hinter dem Hype? | |
Und was macht die häufige präventive Einnahme eines Antibiotikums mit | |
unseren Körpern, mit der Community, mit der Gesundheit der anderen? Ist | |
dieser „Plan D“ wirklich so harmlos und effizient, wie die Werbeanzeige | |
suggeriert? Kann es wirklich Exzess ohne Konsequenzen geben? | |
Ein wolkenloser Samstag im Mai, Berlin-Neukölln. Die leicht versteckte | |
FKK-Wiese im Volkspark Hasenheide ist belebt mit halb oder ganz nackten | |
Menschen, die die ersten warmen Sonnenstrahlen genießen. Alexander Marin | |
ist zum Entspannen hergekommen, er liegt auf einem bunten Handtuch. Nur | |
einige Meter entfernt, im Dickicht, laufen Dutzende Männer auf den schmalen | |
sandigen Pfaden schweigend aneinander vorbei. Die dichte, gerade sprießende | |
Vegetation bietet ideale Bedingungen für diskrete Begegnungen. Der Park | |
zieht Menschen mit den diversesten Hintergründen und bis ins Rentenalter | |
an. Sie kommen zum sogenannten Cruising zusammen – zum anonymen Sex unter | |
freiem Himmel, zu zweit, zu dritt oder mehr. | |
Marin ist ein vielgereister Akademiker aus Osteuropa in seinen späten | |
Dreißigern. Nach Berlin ist er wegen des Jobs gezogen, aber auch wegen der | |
großen schwulen Szene in der Stadt. Er fühlt sich frei hier, bei einem so | |
intimen Thema wie sexueller Gesundheit möchte er jedoch seine Identität in | |
der Zeitung lieber nicht preisgeben. Er heißt eigentlich anders, Alexander | |
Marin ist ein Pseudonym. | |
An diesem Samstag will sich Marin nur in der Sonne bräunen und Freunde | |
treffen. Er lebt zwar in einer offenen Beziehung, verzichtet aber auf das | |
Vergnügen im Gebüsch, denn er leidet gerade an einer Tripper-Infektion. | |
„Meine dritte Infektion dieses Jahr“, sagt er. „Vor einigen Monaten hatte | |
ich Syphilis, mit sehr unangenehmen Symptomen, richtig krassen Schwellungen | |
und Wunden.“ | |
Im Herbst waren bei ihm bei einer Routine-Untersuchung auch Chlamydien | |
entdeckt worden, deren häufigste Symptome sich von Tripper kaum | |
unterscheiden: Bei Menschen mit Penis sind es, je nach Ansteckungsort, | |
zumeist Ausfluss aus der Harnröhre und Brennen beim Wasserlassen oder | |
Juckreiz im Analbereich. Seit er nach Berlin gezogen ist, werde er im | |
Intimbereich öfter krank, erzählt Marin. „Ich habe vorher schon einiges | |
erlebt, aber nicht in diesem Ausmaß.“ | |
Tatsächlich steigen die Zahlen bakterieller Geschlechtskrankheiten in den | |
vergangenen Jahren kontinuierlich an, wie das Europäische Zentrum für die | |
Prävention und die Kontrolle von Krankheiten im März berichtet hat. Das | |
betrifft nicht nur homosexuelle Menschen, Chlamydien-Fälle nehmen in der | |
gesamten Bevölkerung zu, am stärksten bei jungen Frauen und Männern im | |
Alter von 20 bis 24 Jahren. Auch Tripper ist in dieser Altersgruppe | |
besonders verbreitet. | |
Bei Männern tritt er allerdings viermal häufiger auf als bei Frauen, von | |
den betroffenen Männern ist wiederum die Mehrheit homosexuell. Syphilis | |
wird sogar fast ausschließlich bei Männern registriert, die Sex mit Männern | |
haben. Für diese meldepflichtige Infektion liegt die höchste Inzidenz | |
bundesweit in den Berliner Innenstadtbezirken. Kondome bieten zwar keinen | |
vollständigen Schutz, wie sie es beispielsweise gegen HIV tun, senken aber | |
dennoch das Ansteckungsrisiko mit bakteriellen Erregern deutlich. | |
Trotzdem werden Kondome heute immer weniger benutzt – vor allem unter | |
schwulen Männern. Grund ist ein anderes vorbeugendes Medikament, und zwar | |
eines, das nicht nach dem Sex eingenommen wird wie Doxy-PEP, sondern vor | |
dem sexuellen Kontakt. Es ist im Fachjargon eine Präexpositionsprophylaxe | |
(PrEP) – die Pille davor. | |
Mit PrEP ist in der schwulen Szene heute vor allem eine | |
Arzneimittelkombination gemeint, die seit gut 20 Jahren ein wichtiger | |
Bestandteil der HIV-Therapie ist. Als entdeckt wurde, dass das Medikament | |
nicht nur die Vermehrung des HIV im Körper hemmt, sondern auch bei | |
Uninfizierten das Eindringen des Virus in die Zellen verhindert, begannen | |
auch HIV-Negative, es präventiv einzunehmen. Nach dem Ablauf des | |
Patentschutzes Ende des vergangenen Jahrzehnts und einer deutlichen | |
Preissenkung wurde die Pille weltweit zugänglich und noch populärer. | |
Seit 2019 werden in Deutschland sogar die Kosten für das PrEP-Medikament | |
von den Krankenkassen übernommen. Heute sind es bundesweit knapp 40.000 | |
Menschen – vor allem Männer, die Sex mit Männern haben – die sich mit | |
dieser nahezu nebenwirkungsfreien Methode vor einer HIV-Infektion schützen. | |
Ein Drittel der Nutzer lebt in Berlin. Für viele Homosexuelle stellt HIV | |
die größte gesundheitliche Gefahr dar. Dank PrEP ist diese deutlich | |
verringert. Viele verzichten deshalb auf Kondome beim Sex. | |
## Wer Kondome nutzt, hat schlechte Chancen | |
Die Forschungslage zum Zusammenhang zwischen PreP-Einnahme und der Zunahme | |
an (bakteriellen) Geschlechtskrankheiten ist dünn, aber Expert:innen | |
halten es für sehr wahrscheinlich, dass STI aufgrund des neuen | |
Kondomverzichts unter schwulen Männern wieder zunehmen – wie bei Marin. | |
Er findet Kondome unangenehm, genau wie die Mehrheit seiner Sexpartner, | |
erzählt Marin: „Die sind seit PrEP wirklich überall aus der Mode gekommen.�… | |
Viele hätten nicht einmal eine Packung zu Hause, als wären sie ein Relikt | |
vergangener Zeiten, sagt er. „Wer auf der Dating-App angibt, nur mit Gummi | |
zu ficken, wird oft ignoriert.“ | |
Der Einsatz von Arzneimitteln, um ungewollte Konsequenzen von sexuellen | |
Handlungen zu verhindern, ist keine Neuheit. Die Anti-Baby-Pille ist seit | |
mehr als 70 Jahren auf dem Markt, die „Pille danach“ gegen ungewollte | |
Schwangerschaften seit mehr als 50 Jahren. Beide haben damals Moraldebatten | |
ausgelöst und wurden als Wegbereiter einer sexuellen Revolution betrachtet. | |
Dass auch PrEP, die Prophylaxe-Pille vor ungeschütztem Sex, von | |
moralisierenden Debatten begleitet war, ist also wenig überraschend. | |
Nachdem der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn die Kostenübernahme von | |
PrEP verkündete, warnte die Drag-Queen Nina Queer in der Bild-Zeitung vor | |
der angeblichen Gefahr. | |
Unter dem Titel „Freie Fahrt für wilde Nutten“ schrieb sie: „Eine | |
PrEP-Pille ist nichts anderes als eine Art 'kleine Chemotherapie’, der man | |
seinen Körper tagtäglich oder womöglich jahrelang aussetzt. Jeder, der | |
diese Therapie anwendet, muss sich bewusst darüber sein, dass er | |
möglicherweise seinem Körper und seiner Psyche schadet.“ Wenige Tage später | |
veröffentlichte Bild eine Antwort des Virologen Hendrik Streeck, der die | |
Aussagen von Nina Queen mit Fakten wieder einfing. | |
Solche Herabwürdigungen und Übertreibungen sind in den vergangenen fünf | |
Jahren weniger geworden, und PrEP hat sich nachweislich als Erfolgsmodell | |
gegen die Ausbreitung von HIV in der queeren Szene bestätigt. Mit einer | |
Prognose scheint Nina Queen allerdings nicht völlig falsch gelegen zu | |
haben: „Durch ungeschützten Sex gewinnen Syphilis, Tripper, Herpes und | |
Pilze wieder Oberwasser.“ Kann die Doxy-PEP, die antibakterielle Pille | |
danach, nun auch dieses Problem beseitigen? | |
Marin hatte von der Prophylaxe bereits vor Längerem gehört. Von der | |
[1][Gesellschaft zur Förderung sexueller Gesundheit] wird sie nach | |
besonders risikoreichen Kontakten für PrEP-Nutzer wie ihn empfohlen. Immer | |
mal wieder sah er entsprechende Beiträge auf den US-amerikanischen Accounts | |
auf Instagram, denen er seit dem Ausbruch de[2][r Affenpocken vor zwei | |
Jahren] folgte. „Beim letzten Arzttermin dachte ich mir, es lohnt sich, | |
danach zu fragen. Und bevor ich den Satz beenden konnte, wurde mir das | |
Rezept in die Hand gedrückt“, erinnert er sich. | |
Nach dem Kauf des Antibiotikums in der Apotheke war er sicher, nun von | |
weiteren STIs verschont zu bleiben. Bald musste er aber das Gegenteil | |
feststellen: Das viel beworbene Doxy-PEP wirkte gar nicht gegen alle | |
bakteriellen Infektionen. Ein halbes Jahr und einige wilde Nächte später | |
hatte er sich trotz ordnungsgemäßer Einnahme der Doxy-PEP mit Tripper | |
infiziert. | |
Anruf bei Max Schnepf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für | |
Sozial- und Kulturanthropologie an der FU Berlin. Er forscht seit Jahren | |
zum Thema sexuelle Gesundheit. Im Videotelefonat erklärt er, welche | |
Auswirkungen die beiden Medikamente PrEP und Doxy-PEP über ihre | |
pharmakologische Wirkung hinaus auf die Community haben können. „Es ändert | |
sich vieles dadurch – in der Szene allgemein, aber auch ganz persönlich, | |
wie Leute ihre Sexualität wahrnehmen oder sogar was sie begehren.“ | |
Basierend auf seiner Feldforschung versucht Schnepf, das mit PrEP | |
verbundene Versprechen der Sorglosigkeit in einer Community zu begreifen, | |
die immer noch von den Traumata der Aids-Krise gezeichnet ist. „Die | |
Hoffnung auf einen sorglosen, befreiten Sex wurde immer wieder durch | |
Gesundheitskrisen unterbrochen, bei denen gerade von Menschen, die | |
promiskuitiv leben, erwartet wurde, ihre Sexualkontakte einzuschränken“, | |
erklärt er. | |
Damit meint Schnepf zum Beispiel die Zeit während der Coronapandemie, die | |
besonders jene Menschen vor Herausforderungen stellte, die ihr Sexleben | |
nicht auf eine Person beschränken. Oder der Ausbruch der Affenpocken im | |
Frühsommer 2022, von denen hauptsächlich schwule Männer in Großstädten | |
betroffen waren. Bald nach der Aufhebung der meisten Coronaschutzmaßnahmen | |
und rechtzeitig zur CSD-Saison breitete sich das Affenpockenvirus aus und | |
verursachte schmerzhafte Hautausschläge, insbesondere im Intimbereich. | |
## Geschlechtskrankheiten als „Part of the game“ | |
Erst eine zunächst schleppend geführte Impfkampagne und weitere Maßnahmen | |
konnten die Ausbreitung der Krankheit eindämmen. Viele in der Community | |
tragen noch heute physische und seelische Narben aus dieser Zeit, in der | |
sie monatelang verzweifelt auf eine Impfung warteten. Für etliche kam diese | |
zu spät: Sie erkrankten schwer, mussten sich isolieren und litten unter | |
einem gravierenden sozialen Stigma. | |
Dass auch die Zulassung von PrEP gegen das HI-Virus im Jahr 2019 das | |
Versprechen für sorglosen Sex nicht in voller Gänze würde einhalten können, | |
war der Medizin damals schon bewusst. Das erhöhte Risiko, sich durch den | |
fehlenden Schutz mit anderen STI zu infizieren, sei ein Thema gewesen, sagt | |
Schnepf, auch wenn die „statistische Relation relativ schwer einzuschätzen“ | |
gewesen sei. | |
Schnepf sieht noch einen anderen, einen sozialen Grund für den Anstieg von | |
bakteriellen STI in der Gesamtbevölkerung. Dieser sei an die Tatsache | |
gekoppelt, dass „sexuelle Kontakte mit Fremden“ dank Dating-Apps viel | |
einfacher geworden seien – auch unter Heteros. Die Ausbreitung solcher | |
„Infrastrukturen intimer Begegnungen“ hätte ebenso einen großen Effekt auf | |
die Infektionszahlen. Was er bei PrEP-Nutzern vor allem merke, sei, dass | |
„der Umgang mit Infektionen sich weitaus normalisiert hat und weniger | |
stigmatisiert ist“. Syphilis, Chlamydien, Tripper und Co. würden von den | |
meisten als „part of the game“ akzeptiert, als Teil des Spiels. | |
Einige seiner Gesprächspartner fragten sich dennoch, ob „die ganze Mühe | |
infolge einer bakteriellen Infektion“ – also die schmerzhaften Symptome, | |
Arztbesuche und die hoch dosierte antibiotische Behandlung, oft mehrmals im | |
Jahr – den Sex ohne Gummi tatsächlich wert sei. Und einige überlegten | |
wieder auf Kondome umzusteigen, so Schnepf. | |
Genau für sie könnte Doxy-PEP, die antibakterielle Pille danach, auch ein | |
Hoffnungsträger sein, um weiterhin ohne Kondome Sex zu haben. Ob er | |
persönlich die Einnahme von Doxy-PEP richtig oder falsch findet, will Max | |
Schnepf nicht sagen. Aber er hat eine Veränderung seit den Anfangsjahren | |
der Aids-Krise beobachtet. | |
Damals wurde sexuelle Gesundheit stärker im Kollektiv verhandelt. Heute | |
hingegen stünden PrEP und Doxy-PEP in einer „Reihe von biomedizinischen | |
Maßnahmen, die die Verantwortung vermehrt auf das Individuum lenken“. Ein | |
Vorgespräch über sicheren Sex, HIV-Status oder Kondome finde deutlich | |
seltener statt – weder im Bett noch in der Community. Jeder sei in dieser | |
Hinsicht zuerst einmal auf sich allein gestellt. | |
Schnepf hält dieses Schweigen für bedenklich, denn Sex könne niemals | |
komplett 100 Prozent sicher und steril sein. „Gegen diese falsche | |
Erwartung, die Doxy-PEP schürt, brauchen wir viel mehr Kommunikation.“ | |
Einen Schritt in diese Richtung macht die queere Anlaufstelle für sexuelle | |
Gesundheit [3][Checkpoint BLN] am Hermannplatz in Berlin-Neukölln. Ihr | |
Veranstaltungsraum, nicht größer als ein gewöhnliches Klassenzimmer, ist an | |
einem Abend im April proppenvoll. Mehr als 60 Personen sitzen auf den | |
schwarzen Stühlen oder stehen im Flur. Die Anwesenden sind jung und alt, | |
größtenteils männlich und viele scheinen sich bereits zu kennen. Zum ersten | |
Mal findet in Berlin eine offene Veranstaltung zum Thema Doxy-PEP statt, | |
und das Interesse ist groß. | |
Vorne steht Elena Rodriguez, Fachärztin für Innere Medizin und | |
Infektiologie. Die gebürtige Spanierin arbeitet bei der Schwerpunktpraxis | |
ViRo im Neuköllner Schillerkiez und berät einmal im Monat bei Checkpoint | |
BLN. An diesem Abend erklärt sie zuerst, wie die Einnahme im Fall von | |
Doxy-PEP funktioniert: „200 Milligramm Doxycyclin – auf einmal – 24 bis zu | |
72 Stunden nach dem riskanten Sexualkontakt.“ Dann taucht sie in die | |
Geschichte der STI ein, erzählt von all diesen „sehr unterschiedlichen | |
Keimen“, die uns schon seit Hunderten von Jahren begleiten. Auf einer | |
Leinwand werden mittelalterliche Zeichnungen von Figuren mit entzündeten | |
oder mit Pusteln übersäten Penissen gezeigt und von den Wundärzten, die sie | |
inspizieren. | |
Heute sind die zwei meist verbreiteten Geschlechtskrankheiten bakteriell: | |
Tripper und Chlamydien. Sie sind deutlich weniger gefährlich als die | |
viralen, zu denen etwa HIV und Hepatitis B oder C zählen. Tripper und | |
Chlamydien verlaufen oft asymptomatisch und wenn nicht, bleibt es meist bei | |
einem eitrigen und übel riechenden Ausfluss, Juckreiz und Schmerzen im | |
Intimbereich für einige Tage. Anders als bei Menschen mit Vagina sind | |
schwerwiegende Komplikationen eher die Ausnahme. Ohne Behandlung würden sie | |
in den meisten Fällen von allein weggehen. | |
Die ebenfalls bakterielle Syphilis hingegen kann unentdeckt in späteren | |
Stadien, wenn die Infektion auf Gehirn und Rückenmark übergreift, extreme | |
Schäden anrichten, sogar tödlich enden. Sie ist aber leicht mit Penicillin | |
zu heilen. Rodriguez plädiert daher dafür, immer abzuwägen: „Was sind die | |
Konsequenzen der Erkrankung, vor der ich mich schützen will? Und was sind | |
die Konsequenzen der Therapie, die ich bereit bin anzunehmen?“ | |
Genau das soll an diesem Abend vermittelt werden. Denn regelmäßig | |
Antibiotika zu schlucken, bleibt nicht ohne Nebenwirkungen. Erbrechen, | |
Durchfall, allergische Hautreaktionen und Schleimhautentzündungen sind nur | |
einige der häufigsten Begleiterscheinungen. Die Schwächung des Immunsystems | |
ist eine weitere Folge. | |
Weniger erforscht ist der langfristige Einfluss auf das Mikrobiom – die | |
Gesamtheit der Mikroorganismen im menschlichen Körper. Als sicher gilt nur, | |
dass die Einnahme von Antibiotika den Unmengen von Bakterien, die in uns | |
leben und zahlreiche notwendige Funktionen erfüllen, massiv schadet. | |
Jüngere Studien erforschen ihren Einfluss auf Depressionen, Angststörungen | |
oder Krebs, mit derzeit noch widersprüchlichen Ergebnissen. | |
## Antibiotikaresistenzen gehen alle an | |
Auch gesamtgesellschaftlich kann die Einnahme von Antibiotika durch eine | |
wachsende Zahl von Personen eine Wirkung haben: die Bildung von resistenten | |
Keimen. Hierbei handelt es sich um Bakterien, die durch Mutationen | |
gegenüber einzelnen Antibiotika unempfindlich werden und dadurch schwerer | |
zu bekämpfen sind. | |
Eine häufige oder falsche Anwendung von Antibiotika kann diesen Vorgang | |
begünstigen. Der Tripper-Erreger zum Beispiel ist in Europa schon längst | |
gegen Doxycyclin resistent und entwickelt auch bereits gegen neuere | |
Antibiotika Resistenzen, wie ein Monitoring des Robert Koch-Instituts | |
belegt. | |
Selbst wenn die Doxy-PEP eine sehr kleine Nische bedient, steht „auf der | |
Public-Health-Ebene“ die nicht notwendige Einnahme „eindeutig im | |
Widerspruch zum Konzept des rationalen Antibiotika-Einsatzes“, erklärt | |
Christoph Weber, der medizinische Leiter von Checkpoint BLN, gegen Ende der | |
Gesprächsrunde. Zudem sei eine Pille nach jedem riskanten Sexualkontakt ein | |
„riesiger antibiotischer Aufwand“ für den Körper. | |
Dann präsentiert Weber noch die Ergebnisse eines Patientenmodells, das von | |
externen Wissenschaftler*innen für sein Team erstellt wurde. Es zeigt, | |
wie eine regelmäßige Einnahme von Doxy-PEP bei Menschen, die sich ohnehin | |
schon mehrmals im Jahr wegen STI mit antibiotischen Medikamenten behandeln | |
lassen, zu einer Verdoppelung des jährlichen Antibiotikakonsums führen | |
könnte. | |
Nach ihrem Errechnungsmodell, das auch die durchschnittliche Häufigkeit von | |
ungeschütztem Sex erfasst, würde nur eine einzige symptomatische Infektion | |
mit Chlamydien oder Syphilis im Jahr präventiv verhindert werden. Man | |
bekommt den Eindruck, das Heilmittel könnte womöglich schlimmer sein als | |
die Krankheit. | |
Während einige im Publikum noch versuchen, die gesamten Informationen, | |
Zahlen und Rechenmodelle genauer zu verstehen, dreht sich die Hauptfrage in | |
der anschließenden Diskussion darum, wie promiskuitiv oder zurückhaltend | |
man sich verhalten sollte, damit eine Doxy-PEP-Behandlung sinnvoll ist. | |
Sollte man die Pillen nur gelegentlich, drei oder vier mal im Jahr nach | |
einer großen Sexparty nehmen? Aber was, wenn man doch mehrmals im Monat an | |
Orgien teilnimmt? Eindeutige Antworten haben die Expert:innen nicht, | |
aber in einem sind sie sich einig: Auch wenn Doxy-PEP in bestimmten | |
Einzelfällen sinnvoll sein kann, eignet es sich auf keinen Fall als | |
regelmäßige Ergänzung zur PrEP – von einer mehrmaligen Nutzung im Monat | |
wird abgeraten. Eine Ansicht, die laut einer aktuellen Befragung auch 83 | |
Prozent aller HIV-Schwerpunktzentren in Deutschland teilen. | |
Die weitverbreitete Skepsis unter Gesundheitsexperten lenkt die | |
Aufmerksamkeit auf ein weiteres potenzielles Problem: die Selbstmedikation | |
mit Doxycyclin entzieht sich ihrer Kontrolle. Bei vielen liegen nicht | |
aufgebrauchte Tabletten seit der vorherigen Chlamydien-Behandlung noch im | |
Schrank. Sie können also jederzeit auch ohne akuten Anlass eingenommen | |
werden. | |
Dass diese Art des Verhaltens keine Seltenheit ist, zeigt eine neue Studie | |
der Weltgesundheitsorganisation, derzufolge jeder Dritte in Europa | |
Antibiotika ohne ein aktuelles Rezept einnimmt. Zudem ist der Kauf von | |
verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Doxycyclin online und ohne | |
Arztbesuch aufgrund einiger Gesetzeslücken heute sehr einfach. | |
## Körper wie einen Tempel pflegen | |
Ein Treffen mit Christoph Weber, einige Tage nach der Veranstaltung. Seit | |
mehr als 25 Jahren arbeitet er im Bereich HIV-Medizin. Die Anlaufstelle, | |
die ärztliche Versorgung und psychosoziale Beratung an einem Ort vereint, | |
hat er mitgegründet. Angefangen hat das Projekt 2018 mit der Vergabe von | |
PrEP an Einkommensschwache. | |
Es gibt wenige Menschen in Berlin, die die Gesundheitsprobleme der queeren | |
Szene so im Blick haben wie Weber. Die Organisation der Veranstaltung zur | |
Doxy-PEP war ihm wichtig, weil er unter vielen das Bedürfnis nach mehr | |
Aufklärung empfunden hatte. Er betont, dass er die Idee hinter Doxy-PEP gar | |
nicht verwerflich finde: „Wir müssen nur viel besser herausfiltern, wo der | |
Einsatz davon Sinn ergibt.“ | |
Dass die Studien zur Doxy-PEP nicht zwischen symptomatischen und | |
nicht-symptomatischen Infektionen unterscheiden, sieht er kritisch. | |
PrEP-Nutzer müssen sich alle drei Monate auf bakterielle STI testen lassen. | |
Wenn das Ergebnis auf Chlamydien oder Tripper positiv ausfalle, wollten | |
sich viele auch behandeln lassen, ob mit oder ohne Symptome, erklärt Weber. | |
Solange keine Beschwerden da sind, sei dies jedoch nicht immer notwendig. | |
„Es spielen aber so viele gesellschaftliche Moralvorstellungen in diesem | |
Thema mit“ und der Wunsch „sauber“ zu sein, sei groß. Doch Tatsache blei… | |
„Ein freizügiges Sexleben ohne STI gibt es nicht“. | |
„Natürlich könnte man sagen: ‚My body, my temple, my choice‘. Aber wenn… | |
Körper ein Tempel ist, sollte man ihn auch pflegen und nicht ständig mit | |
Pillen quälen“, sagt Weber. Man müsse zudem aufpassen, „dass wir uns nicht | |
unglaublich viele Resistenzen reinholen, die dann bei uns zirkulieren“. Die | |
große Frage für ihn sei daher, wie man zwischen all diesen Faktoren „die | |
Balance hält“. Auf jeden Fall ist er strikt dagegen, Doxy-PEP, die | |
antibakterielle Pille danach, „zum individuellen Spaß auf den Markt zu | |
werfen“. | |
Doch für den Markt ist Doxy-PEP natürlich attraktiv. Das neue Berliner | |
Start-up Every Health etwa vermarktet Doxy-PEP seit ein paar Monaten online | |
und bei Community-Events. Es ist dasselbe Unternehmen, das die Werbeanzeige | |
mit den beiden Männern im Partyoutfit in den sozialen Medien schaltete. | |
Auch die Mitarbeiter des Start-ups selbst posieren online mit | |
Fetischausrüstung. | |
Die Aufmachung und Selbstdarstellung wirkt wie die einer Gruppe | |
altruistischer Communityaktivisten, die die Szene lediglich über eine von | |
der Außenwelt stigmatisierte Wundertherapie aufklären wollen. So beschwerte | |
sich ihr Geschäftsführer Dimitri Bilyarchyk zuletzt auf Linkedin, dass „der | |
Zugang (zur Doxy-PEP) in Deutschland durch Gate-Keeping und Stigma | |
eingeschränkt“ sei und sie deshalb in den letzten Monaten „unermüdlich“ | |
daran gearbeitet hätten, „Doxy-PEP sicher, zuverlässig und bequem für | |
unsere Communities zugänglich zu machen“. | |
Das stimmt so nicht. Die Deutsche STI-Gesellschaft, die tatsächlich eine | |
Art von Gatekeeping-Funktion in diesem Bereich hat, empfahl bereits im | |
vergangenen Jahr, den Einsatz von Doxy-PEP für PrEP-Nutzer nach | |
Risikoanlässen in Betracht zu ziehen. Die Entscheidung dazu sollte aber vom | |
behandelnden Arzt im Einzelfall getroffen werden. | |
Das Ausfüllen weniger Fragen reicht bei Every Health, damit man als | |
„geeignet“ für die Therapie gilt und ein Rezept ausgestellt bekommt. Nutzer | |
bekommen ein Video des medizinischen Leiters der Firma gezeigt. Er | |
behauptet auf Englisch, Doxy-PEP sei auch gegen Tripper einigermaßen | |
wirksam – obwohl das Resistenz-Monitoring des RKI das Gegenteil nahelegt. | |
Nach dem Video kann man ein monatliches Abo für zwei Pillen abschließen, | |
das nach der ersten Lieferung kündbar ist. Das Ganze kostet dann 25 Euro, | |
in zwei separaten Zahlungen an eine Firma, die gleichzeitig ein Rezept | |
ausstellt und ein Medikament verkauft. | |
In Deutschland gilt eigentlich eine klare Trennung von Arzt und Apotheker. | |
Die Logik dahinter ist, dass Ärzte keine finanziellen Anreize haben sollen, | |
Medikamente zu verschreiben, um so Mehrverbrauch und Missbrauch zu | |
verhindern. Auf Nachfrage erklärt Every Health, dass sie eine | |
„Gesundheitsplattform“ und „keine Apotheke und auch keine Ärzt*innen“ | |
seien, sondern sie stellten „lediglich den Zugang zu passenden | |
Expert*innen her“, die auf ihrer „Plattform aktiv“ seien. | |
Es gibt auch noch einige andere Onlineanbieter mit einem ähnlichen | |
Verkaufsmodell, bei denen man die fünffache Menge für den gleichen Preis | |
beziehen kann – wenn man in einem kurzen Fragebogen angibt, an Chlamydien | |
zu leiden. Das Absurde: Mit einem Privatrezept eines Arztes würde die | |
zehnfache Menge die Hälfte kosten. Ein lukratives Onlinegeschäft, betrieben | |
mit einem queeren Image. Was motiviert Kunden, da mitzumachen? Schamgefühle | |
oder die Furcht vor ärztlicher Belehrung, Unkenntnis oder die | |
Bequemlichkeit, fast alles von Zuhause aus bestellen zu können? Alles | |
denkbar. | |
Kann es Exzess ohne Konseqenzen geben? Nach einer langen Partynacht, in der | |
man Sex hatte, kann die Einnahme von Doxy-PEP-Pillen natürlich verlockend | |
sein. Und so schön bequem. Doch es gibt gute Gründe, sich gegen das | |
Antibiotikum zu entscheiden: Wegen des Mikrobioms, wegen möglicher | |
Nebenwirkungen, wegen Resistenzen und weil es ohnehin kaum gegen eine | |
mögliche Tripper-Infektion hilft. Das Logo des Gesundheits-Start-ups, das | |
mir unverschämt ins Gesicht lacht, ist ein weiterer Grund gegen die | |
Einnahme. Hier wird mit Ängsten und Begehren ein Geschäft gemacht. Sollte | |
nicht zumindest bei der Gesundheit der Kommerz seine Grenzen haben? | |
Vollkommen risikofreien Sex kann es nicht geben, auch nicht mit Doxy-PEP. | |
Und doch kann es gut sein, für den Notfall eine Pille im Nachtschränkchen | |
zu haben. | |
14 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dstig.de/ | |
[2] /Affenpocken-und-AIDS/!5855489 | |
[3] https://checkpoint-bln.de/ | |
## AUTOREN | |
Yossi Bartal | |
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