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# taz.de -- HIV-Forschung: Kurz vor der Heilung?
> Einst bedeutete Aids den Tod, heute ist es eine gut behandelbare
> Erkrankung. Aber heilen lässt sie sich noch nicht. In Berlin will man das
> ändern.
Bild: Christian Gaebler und sein größter Kontrahent im Hintergrund: das HI-Vi…
Es gab etwas zu feiern auf der [1][Welt-Aids-Konferenz diesen Sommer in
München]: den weltweit siebten dokumentierten Patienten, der das Humane
Immundefizienz-Virus, besser bekannt als HIV, vollständig besiegt hat. Wie
bei den meisten [2][der bekannten Fälle] war eine aufgrund von Blutkrebs
notwendige Stammzellübertragung der entscheidende Auslöser. Und so wie der
erste geheilte Patient – Timothy Ray Brown, der 2008 weltweit Schlagzeilen
machte – lebt auch dieser Mann in Berlin, möchte aber anonym bleiben.
Der „zweite Berliner Patient“, wie er in der Fachliteratur mittlerweile
genannt wird, steht im Mittelpunkt der Arbeit eines neuen Forschungsteams
an der Berliner Universitätsklinik Charité. Es begleitet seinen Fall aus
infektiologischer Perspektive. „Solche Einzelfälle sollten wir feiern, denn
sie zeigen, dass der Weg zur Heilung zwar komplex, aber möglich ist“, sagt
der Medizinforscher Christian Gaebler. Er sitzt in seinem schlichten Büro
am Virchow-Campus der Charité. An der Wand hängt ein farbenfrohes Bild,
eine nachbearbeitete Mikroskopaufnahme, die den trickreichen Gegenspieler
seines Teams zeigt: ein HI-Virus, umgeben von Antikörpern.
Das sechsköpfige Team, das Gaebler hier in den letzten zwei Jahren
aufgebaut hat, soll wachsen. Bald soll daraus ein großangelegtes
Forschungszentrum für die HIV-Heilung entstehen.
Für Gaebler, 39 Jahre alt, stellte HIV schon früh ein faszinierendes Rätsel
dar. Als Medizinstudent interessierte er sich besonders dafür, wie der
menschliche Körper auf Erreger wie Viren oder Bakterien reagiert. Während
eines Forschungsaufenthalts in den USA arbeitete er in einem Labor, das
sich auf die Zellen des Immunsystems spezialisiert hat, die Antikörper
produzieren – mit einem besonderen Fokus auf HIV. Vor zwei Jahren kehrte
Gaebler an die Charité zurück, überzeugt davon, dass Berlin einen
entscheidenden Beitrag zur globalen Suche nach einer Heilung für das Virus
leisten kann.
Denn dafür gebe es hier optimale Bedingungen. In der Stadt leben mehr als
18.000 Menschen mit HIV, fast ein Fünftel aller Fälle in Deutschland. Zudem
arbeiten hier zahlreiche Ärzte, die seit Beginn der HIV-Pandemie und damit
seit Jahrzehnten wertvolle Erfahrungen mit dem Virus und seinen Folgen
gesammelt haben. Außerdem gibt es eine aktive Zivilgesellschaft, die sich
mit sexueller Gesundheit beschäftigt.
Seit über 40 Jahren suchen Forschende weltweit nach Wegen, das Humane
Immundefizienz-Virus zu besiegen. In der Prävention und bei der Behandlung
gibt es bemerkenswerte Fortschritte. Gerade durch [3][neue Medikamente],
die die Vermehrung des Virus im Körper unterdrücken, werden weitere
Ansteckungen und der Ausbruch von Aids verhindert. Trotzdem wurden bislang
keine allgemein einsetzbaren Methoden zur kompletten Auslöschung des
HI-Virus entdeckt.
Das schnell mutierende Virus stellt eine enorme wissenschaftliche
Herausforderung dar. Es dringt in die Zellen des Immunsystems ein,
integriert sich in deren genetisches Material und vermehrt sich. Die
heutige medikamentöse Behandlung versetzt das Virus lediglich in eine Art
Ruhezustand. Das Virus versteckt sich mit seinen zahlreichen Variationen
dennoch überall im Körper, im sogenannten Reservoir. Falls die Therapie
unterbrochen wird, wird von dort aus das Virus in kurzer Zeit reaktiviert –
selbst nach Jahrzehnten.
Heute leben weltweit rund 40 Millionen Menschen mit HIV, die Mehrheit davon
in Subsahara-Afrika. „Es gibt weiterhin jährlich eine Million Ansteckungen,
ein Zehntel davon sind Kinder, die oft ab ihrem ersten Tag behandelt werden
müssen“, erklärt Christian Gaebler die dramatische Situation. Insbesondere
im Globalen Süden ist der Zugang zu Tests und Medikamenten oft
eingeschränkt, und die Behandlungskosten strapazieren die ohnehin bereits
überlasteten Gesundheitssysteme. Im Jahr 2023 starben schätzungsweise
630.000 Menschen weltweit an Aids-bedingten Ursachen.
Doch auch in wohlhabenden Ländern ist das Leben mit der chronischen
Infektion eine Belastung. Das gesellschaftliche Stigma ist immer noch groß,
obwohl Menschen unter Therapie gar nicht ansteckend sind. Für manche stellt
das [4][tägliche Schlucken von Pillen] psychologische wie auch praktische
Hürden dar. Sowohl die Medikamente als auch das im Körper ruhende Virus
können gesundheitliche Probleme verursachen. Neueste Studien zeigen, dass
besonders ältere HIV-Positive stärker von kognitiven Beeinträchtigungen,
Herzinfarkten, Muskelschwund und eingeschränkter Mobilität betroffen sind.
Daher wäre eine mögliche Heilung ein echter Wendepunkt. „Wenn man das Ziel
hat, die HIV-Pandemie wirklich zu beenden, führt kein Weg daran vorbei“,
ist sich Gaebler sich sicher. In den letzten Jahren wurden zahlreiche
Fortschritte in der Forschung erreicht, die neuesten Entwicklungen in der
Medizintechnologie, wie Gen-Editierung und [5][mRNA-Impfstoffe], sind in
diesem Zusammenhang vielversprechend.
Es gab jedoch mehrere Momente, in denen Ärzte und Forscher möglicherweise
zu optimistisch waren: Erfolge im Labor, die öffentlich zelebriert wurden,
enttäuschten später in klinischen Studien. Bis heute ist ein wahrer
Durchbruch nicht erreicht.
Trotz seiner Bedeutung lässt sich auch aus dem Fall des zweiten Berliner
Patienten noch kein allgemein anwendbarer Weg zur Heilung ableiten. Denn
eine Knochenmarktransplantation, die hier der Schlüssel zur Heilung war,
ist ein extrem aggressives und riskantes Verfahren und kommt nur für
Krebserkrankte infrage. Dennoch kann man von diesem Fall sehr viel lernen.
Besonders spannend ist, wie das ausgetauschte Immunsystem in der Lage war,
das bereits vorhandene Reservoir des Virus im Körper zu vernichten.
Das ist auch ein zentraler Schwerpunkt der Forschungsgruppe an der Charité:
Welche Eigenschaften besitzen die Zellen, die eine Vermehrung des Virus
immer wieder ermöglichen? Wie kann der Körper sie erkennen, um sie entweder
zu kontrollieren oder vollständig zu zerstören? „Für eine Heilung benötig…
wir ein noch besseres Verständnis davon, wie unser Gegner – das
HIV-Reservoir – aussieht“, sagt Gaebler. Das sei letztlich der Schlüssel
zur Lösung. Um dieses Verständnis zu vertiefen, analysiert sein Team
derzeit Blutproben von HIV-Patienten.
Im Labor des Forschungsteams der Charité kann man beobachten, wie die
eigentliche Handarbeit aussieht. Eine kanadische Doktorandin erklärt auf
Englisch, wie sie die genetische Information aus den Zellen entschlüsselt.
Währenddessen entnimmt sie DNA-Proben mit einem Pipettiergerät, das mehrere
Kanäle hat. Die Proben gibt sie in Behälter, um sie später in einer
PCR-Maschine zu vervielfältigen. Schließlich sollen die Kopien auf
Mutationen und Resistenzen untersucht werden. In einem zweiten Labor und
unter strengeren sterilen Bedingungen beobachtet eine Mitarbeiterin die
infizierten Zellen unter dem Mikroskop.
Neben den eigenen Studien ist die Zusammenarbeit mit anderen medizinischen
Institutionen und der Kontakt mit der HIV-Community für das neue Zentrum
besonders wichtig. Die Partizipation von Menschen mit HIV an der Forschung
wurde früh erkämpft – gegen einen Wissenschaftsbetrieb, der oft elitär und
abweisend reagierte. Heute werden die Perspektiven und Erfahrungen der
Betroffenen bei der Suche nach der besten Therapie und Heilmethode als
unerlässlich betrachtet. „Das ist wirklich keine Einbahnstraße – wenn wir
zuhören, dann lernen wir“, sagt Christian Gaebler. Von Nebenwirkungen,
Umgang mit Diskriminierung, bis hin zu sexuellen Praktiken oder prekären
Verhältnissen. „Was das Leben von unseren Patienten beeinflusst, ist für
uns höchst relevant.“
Dabei muss auch der eigene Bias reflektiert werden, sprich: systembedingte
Verzerrungen der Forschungsergebnisse. Bis heute fanden die meisten
klinischen Studien im Globalen Norden statt und wurden sehr häufig bei
Männern durchgeführt. Das hat einen großen Einfluss auf die Ergebnisse,
denn die Subtypen des Virus sind weltweit ungleich verteilt und wirken
unterschiedlich in verschiedenen Körpern. So untersucht das Team von
Gaebler derzeit auch schwangere Frauen mit HIV in Berlin, viele von ihnen
mit Fluchterfahrung.
[6][Stigma] und Politik wirken auch allgemein auf die HIV-Forschung. Das
zeigt sich schon daran, dass Sicherheitsauflagen im Labor manchmal unnötig
verkompliziert werden, sagt Gaebler. Er könne sich auch vorstellen, dass
für einige Entscheidungsträger „gewisse Risikogruppen nicht als primäres
Förderziel gelten“. Marginalisierte Gruppen wie Sexarbeiterinnen oder
Drogenkonsumenten etwa. Andererseits scheine für viele das Problem durch
die bestehenden Therapien weitgehend gelöst zu sein. Auch die anstehenden
Kürzungen im Berliner Haushalt und den weltweiten Trend, weniger in
Forschung zu investieren, merkt er an.
Große Sorgen bereiten ihm die jüngsten Entwicklungen in den USA, wo ein
Großteil der HIV-Forschung stattfindet. [7][Der von Trump designierte
Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr.] ist ein überzeugter Impfgegner
und Verbreiter von kruden Verschwörungstheorien. Er scheint zu glauben,
dass HIV nicht unbedingt der Auslöser von Aids sei – eine von der
Wissenschaft längst widerlegte Behauptung. 2021 veröffentlichte er ein
ganzes Buch gegen den ehemaligen Leiter des US-amerikanischen National
Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) und damit einen der
weltweit wichtigsten HIV-Forscher, Anthony Fauci.
„Es ist zu hoffen, dass er dieses Amt nicht übernimmt“, sagt Gaebler, der
mit seinen Kollegen in den USA in ständigem Kontakt steht. Sollte es jedoch
dazu kommen, könnte Kennedy Jr. enormen Schaden anrichten. Laufende
Projekte wären betroffen, die auch zu den Schwerpunkten in Berlin gehören,
wie die Forschung zu Antikörpern.
Während seines letzten USA-Aufenthalts hat Gaebler zu diesem Thema intensiv
geforscht, und zwar ausgerechnet mit dem von Kennedy so verhassten Anthony
Fauci – oder Tony, wie er ihn nennt. Der Fokus auf Antikörper markierte
laut Gaebler einen Paradigmenwechsel. Denn zuvor wurde angenommen, dass die
Zellen des Immunsystems nicht in der Lage seien, Antikörper auszubilden,
die gezielt gegen HIV vorgehen.
Heute werden diese sogenannten breit neutralisierenden Anti-HIV-Antikörper
im Labor produziert und in mehreren klinischen Forschungen als HIV-Therapie
angewendet – mit positiven Ergebnissen. Die flüssigen Antikörperdosen, die
durch eine Infusion oder eine Spritze unter die Haut verabreicht werden,
sind nebenwirkungsarm und funktionieren mehrere Monate länger als die
zugelassenen antiviralen Medikamente. Sie können auch prophylaktisch
genommen werden, um einer Ansteckung vorzubeugen.
Für Gaebler jedoch noch spannender: Diese Antikörper scheinen zudem das
HIV-Reservoir zu reduzieren und auch das Immunsystem auf eine Weise zu
verändern, die an eine Impfung erinnert. Einige Teilnehmer entsprechender
Studien konnten das verbleibende HI-Virus im Körper danach ohne Medikamente
unter Kontrolle halten. Dieser Zustand wird medizinisch als Remission
bezeichnet.
Ist das bereits eine Heilung? „Das hängt davon ab, wie man es definiert“,
sagt Gaebler. „Wenn man die Therapie beendet, gut und ohne Nebenwirkungen
lebt und keine Übertragung des Virus mehr stattfinden kann, könnte man
Remission durchaus als Heilung betrachten.“ Aber: „Der entscheidende
Unterschied ist, dass ein Rückfallrisiko weiterhin nicht auszuschließen
ist.“
Die Zahl der Menschen in diesem Remissionszustand bewegt sich „heute noch
im zweistelligen Bereich“, fügt er hinzu. Da jedoch mehrere groß angelegte
Studien anstehen, ist Gaebler optimistisch: „Man wird in naher Zukunft mehr
von diesen Fällen sehen.“ Auch in Berlin plant das Team, bald eine
klinische Studie mit Antikörpern zu starten.
Zudem sind die Fortschritte in der HIV-Forschung auch bei anderen
Viruserkrankungen von großem Nutzen. „Viele der entscheidenden
Errungenschaften, die uns bei Covid-19 schnell geholfen haben, sowohl in
der Impfstoff- als auch in der Therapieentwicklung, beruhen zu einem großen
Teil auf Erfolgen der HIV-Forschung“, sagt Christian Gaebler. Damit würden
alle von diesen erst mal spezifischen Erkenntnissen profitieren.
Für viele, die mit HIV leben, geht der Fortschritt jedoch nicht schnell
genug. Mitunter hört man sogar, die Pharmaindustrie habe gar kein Interesse
daran, die chronische Krankheit zu heilen, von der sie finanziell stark
profitiert. Diese Vorstellung weist Gaebler entschieden zurück. Es suchten
viele kluge Köpfe nach dem Heiligen Gral. Als jemand, der schon lange gegen
das Virus arbeitet, gibt er aber zu: „Hochkomplex reicht kaum aus, um seine
Arbeitsweise zu beschreiben.“
Auf die Frage, wie lange Menschen mit HIV noch warten müssen, bevor eine
Heilung für die breite Masse zugänglich wird, reagiert Gaebler sehr
vorsichtig: „Es ist schwer zu prognostizieren, aber fünf Jahre sind nicht
realistisch, zehn wahrscheinlich auch nicht.“ Obwohl es vielversprechende
Fortschritte gibt, warnt er: „Wir dürfen nicht wieder den Fehler machen und
sagen, dass wir bereits auf der Autobahn Richtung Heilung sind.“
1 Dec 2024
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Yossi Bartal
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