# taz.de -- Ärztin über Geschlechtskrankheiten: „Es geht nicht um Moral“ | |
> Wir sollten mehr über sexuell übertragbare Infektionen sprechen, findet | |
> Ellen Støkken Dahl. Trotz Aufklärung: Nicht alle können über Sex | |
> sprechen. | |
Bild: Porträt eines Syphillis-Patienten aus dem 19. Jahrhundert | |
taz: Frau Støkken Dahl, die Patient_innen, die die imaginäre Arztpraxis | |
Ihres Buchs aufsuchen, haben eine Gemeinsamkeit: Scham. Warum schämen sich | |
Menschen mehr dafür, wenn sie sexuell übertragbare Infektionen (STI) | |
bekommen als für andere Krankheiten? | |
Ellen Støkken Dahl: Es liegt in der Natur davon, wie wir STI bekommen. Denn | |
wir schämen uns dafür, Sex zu haben, selbst wenn Sex etwas ist, das wir | |
alle tun und sogar mögen. Wenn man eine Erkältung bekommt, denkt man nicht | |
so viel darüber nach, woher diese Erkältung kommt oder wer die Schuld für | |
sie trägt. Doch bei STI geben sich Menschen meistens selbst die Schuld, | |
weil man ihnen beigebracht hat, nicht ständig die Partner_innen zu | |
wechseln und mit vielen verschiedenen Menschen Sex zu haben. Wenn sie es | |
trotzdem tun, haben sie selbst die Verantwortung dafür zu tragen. | |
Ist unsere Gesellschaft nicht schon aufgeklärter? | |
Leider können wir immer noch nur dann offen über Sex sprechen und stolz auf | |
unsere Körper sein, wenn es um positive Themen und Aktivitäten geht. Sobald | |
wir über die negativen Seiten sexueller Aktivitäten sprechen, tritt Scham | |
in den Vordergrund. Eine Konsequenz davon ist, dass manche Menschen keine | |
Kondome verwenden. Denn wenn man ein Kondom herausholt, ist das eine | |
Erinnerung daran, dass es etwas Negatives an Sex – nämlich STI – gibt. | |
Inwiefern? | |
Beim Sex möchten man nicht die Aufmerksamkeit auf sich selbst als mögliche | |
Quelle einer Krankheit für eine andere Person lenken. Man möchten diese | |
Scham auch nicht seinem Partner zuweisen. | |
Im Buch erwähnen Sie Henrik Ibsens „Gespenster“, in dem der Protagonist an | |
Syphilis leidet. Damals glaubte man, man könne Syphilis vom Vater erben. | |
Welche Rolle spielen Mythen wie diese? | |
STI waren zu der Zeit noch ein Mysterium, also mussten die Menschen | |
Geschichten erfinden, um sie sich erklären zu können. Diese Geschichten | |
werden normalerweise verwendet, um jemanden die Schuld zuzuweisen, sehr | |
ähnlich, [1][wie wir es bei Covid gesehen haben]. Im Buch erkläre ich zum | |
Beispiel auch, wie verschiedene Nationen Syphilis unterschiedlich nannten: | |
die französische Krankheit, die italienische Krankheit, die türkische | |
Krankheit, die deutsche Krankheit. Jeder wollte von der Schuld befreit | |
sein, der ursprüngliche Träger zu sein. | |
Kann man diese Denkweise wieder verlernen? | |
Sicher. Aber dafür müssen wir Gespräche über Verantwortung, Positivität und | |
Liebe zu unseren Partner_innen führen, und nicht nur über Einschränkungen. | |
Die Menschen müssen verstehen, dass es größtenteils mit Glück und Pech zu | |
tun hat, ob man eine STI bekommt, und nichts mit einem selbst als | |
Individuum. Das ist die Grundlage für all meine Bücher: Sie sollen | |
bezwecken, dass sich Menschen weniger stigmatisiert und sich in ihren | |
Körpern ‚empowered‘ fühlen. Erst dann können sie gute Entscheidungen | |
treffen. Derzeit sehen wir einen sehr besorgniserregenden Anstieg der | |
Gonorrhoe-Fälle. Es verbreitet sich schnell, daher müssen wir genau jetzt | |
diese positiven Gespräche über Schutz führen. | |
Warum gibt es mehr Gonorrhoe-Fälle? | |
Ein Grund dafür könnte sein, wie die Menschen Sex haben und dass sie öfter | |
die Partner_innen wechseln. Unterschiedliche Gruppen von Menschen, die | |
früher getrennt Sex hatten, vermischen sich jetzt. Vielleicht ist es ein | |
Zeichen für eine modernere Sichtweise unter jungen Menschen, dass | |
Geschlecht und Identität bei der Wahl der Sexualpartner_innen keine | |
Grenzen mehr darstellen. | |
Dank Fortschritten in der Medizin wird jemand, der eine STI bekommt, | |
höchstwahrscheinlich unversehrt davonkommen. Erhöht das die | |
Risikobereitschaft? | |
In Norwegen war die Krankheit, die [2][heterosexuelle Menschen] lange Zeit | |
am meisten beunruhigt hat, Chlamydien. Sie ist sehr einfach zu behandeln | |
und kostenlos zu testen. Die Krankheit ist hier vollkommen normalisiert, | |
und die Konsequenzen sind normalerweise nicht gravierend. Es sei denn, man | |
hat Pech. Wir haben auch sehr gute HIV-Behandlungen, was bedeutet, dass | |
Menschen Sex haben können, ohne das Risiko einzugehen, die Krankheit zu | |
verbreiten oder zu bekommen. [3][Die Tatsache, dass wir mehr Kontrolle über | |
Krankheiten wie HIV oder Chlamydien bekommen, führt dazu, dass Menschen auf | |
Kondome verzichten], was wiederum zu Anstiegen bei Krankheiten wie | |
Gonorrhoe führen wird, die leichter zu übertragen sind. | |
Gonorrhoe kann zu Problemen bei der Schwangerschaft, Unfruchtbarkeit und | |
sogar zu Erblindung führen. Wie gut lässt sich die Krankheit behandeln? | |
Sie ist nicht so leicht zu behandeln. Gonorrhoe wurde im Laufe der Zeit | |
nämlich gegen [4][viele Klassen von Antibiotika resistent]. Wir sehen jetzt | |
mehrfach resistente Stämme. Syphilis oder Gonorrhoe klingen nach | |
Krankheiten, die weit in unserer Vergangenheit liegen. Ich glaube nicht | |
unbedingt, dass die Menschen wissen, dass sie unter uns und gefährlich | |
sind. | |
Das klingt alles sehr ernst. Ihr Buch wirkt zuweilen sehr humorvoll. Warum? | |
Informationen sind eine Sache. Die Art und Weise, wie man den Menschen die | |
Informationen gibt, ist eine andere. Ernsthaftes kann und sollte leicht und | |
humorvoll besprochen werden, damit die Informationen zugänglicher sind. | |
Wenn ich Patient_innen in meinem Büro habe, die besorgt oder beschämt sind, | |
kann ich, je nachdem, wie ich mit ihnen spreche, eine echte Veränderung | |
sehen. | |
Was verändert sich dann? | |
Die Patient_innen können sich selbst und wie sie in diese Situation geraten | |
sind akzeptieren und damit Frieden finden. Dann können sie pragmatischer | |
über die Krankheit nachdenken, anstatt sie als moralisches Problem zu | |
betrachten. Denn es geht nicht um Moral. | |
Oft gehen Menschen zum Frauenarzt und fühlen sich danach beschämt. | |
Das ist eine weit verbreitete Sache, denn [5][ein Hauptproblem bei der | |
heutigen ärztlichen Tätigkeit ist der Zeitmangel]. Wenn man als Ärztin | |
Patient_innen das Gefühl der Sicherheit vermitteln möchte, ist das viel | |
einfacher, wenn man viele Informationen geben kann und das Gefühl | |
vermittelt, dass es keine Eile gibt. Ein Teil dessen, warum ich diese | |
Bücher schreibe, ist, den Patient_innen diese Sicherheit zu geben, bevor | |
sie auf den gynäkologischen Stuhl gehen. | |
16 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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