# taz.de -- HIV-Infizierte und Sex ohne Kondom: Genug geschützt | |
> Bei Facebook bekennen HIV-Positive „Wir machen’s ohne“, weil sie wissen, | |
> dass sie dank Therapie nicht ansteckend sind. Das weckt Empörung. | |
Bild: Bisher galt das Motto „Mach`s mit“ | |
Wenn Björn Beck spontan Sex mit anderen Männern hat, verschweigt er häufig, | |
dass er HIV-positiv ist. Auch aufs Kondom verzichtet er immer wieder. Was | |
für viele verantwortungslos klingt, verursacht bei Beck nicht mal ein | |
schlechtes Gewissen. „Ich weiß, dass ich niemanden beim Sex infizieren | |
kann“, sagt er. Dass andere das befremdlich finden, kann er nachvollziehen, | |
sagt aber auch: „Ich will, dass die sich informieren.“ | |
Verabredet er sich zum Sex, etwa über die Internetplattform Gayromeo, | |
erwähnt Beck seinen HIV-Status, sagt aber auch, dass er nicht infektiös | |
ist. „Die meisten finden das super, freuen sich, dass man auch ohne Gummi | |
kann“, sagt er. Der 38-jährige Frankfurter ist Teil der | |
[1][Facebook-Kampagne „Wir machen’s ohne – Safer Sex durch Therapie“] . | |
Ende November hatte eine Schweizer Aids-Aktivistin die Seite gestartet – | |
pünktlich zum Welt-Aidstag am 1. Dezember. Dort bekennen seitdem | |
HIV-Positive , dass sie Sex ohne Gummi haben, weil dank wirksamer Therapie | |
ihre Viruslast so niedrig ist, dass es nahezu ausgeschlossen ist, andere | |
anzustecken. Sie posten ihre Geschichte, mit Foto und Klarnamen. | |
Anlass für die Aktion war eine Facebook-Diskussion nach dem Outing des | |
US-Schauspielers Charlie Sheen. Der erklärte im November HIV-positiv zu | |
sein. Bei Facebook schrieb daraufhin der 24-jährige Christian Naumann aus | |
Nordrhein-Westfalen, [2][dass er regelmäßig Sex ohne Kondom habe]. Naumann, | |
der unter anderem Sprecher des Schulsexualaufklärungsprojekts [3][SchLAu | |
NRW] war, wurde massiv kritisiert. Sat1 etwa berichtete empört | |
(“[4][Unglaublich, dass er wirklich so was macht“]), Facebook-Nutzer | |
wollten ihn „kastrieren“, „wegsperren“ oder gleich „kaputtschlagen“. | |
[5][Zwei FDP-Landtagsabgeordnete] nutzten die Diskussion, um in einer von | |
Diskriminierung durchzogenen Anfrage an die Landesregierung Stimmung gegen | |
Naumann und andere HIV-Positive zu machen. | |
Mittlerweile ist er als SchLAu-Sprecher zurückgetreten. „Ich wollte so | |
Schaden vom Projekt abwenden“, sagt Naumann. Für Konservative und Rechte | |
sei seine private Äußerung ein gefundenen Fressen gewesen, sie hätten sie | |
instrumentalisiert, um gegen öffentliche Förderung von Aufklärungsprojekten | |
zu hetzen. „Dabei habe ich niemanden aufgefordert, ohne Kondom Sex zu | |
haben, sondern lediglich von mir erzählt.“ | |
## Unterstützung durch die Aidshilfe | |
Die Episode hat gezeigt: Wer sich als HIV-Positiver derart selbstbewusst | |
öffentlich äußert, muss wissen, dass er Kritik ausgesetzt sein wird. | |
Dennoch haben sich mittlerweile über 40 HIV-Positive der Facebook-Kampagne | |
angeschlossen. | |
Selbst die Deutsche Aidshilfe unterstützt die Aktion, schreibt in einer | |
[6][Stellungnahme]: „Sex ohne Kondom kann Safer Sex sein“ und „Ein | |
HIV-Positver, der HIV nicht weitergeben kann, handelt beim Sex mit | |
HIV-Negativen nicht verantwortungslos. Verantwortungslos handeln die, die | |
andere herabwürdigen, statt sich zu informieren.“ | |
Tatsächlich verhindern HIV-Medikamente bei Positiven, dass sich die Viren | |
vermehren. Nach einiger Zeit ist im Blut – später auch in anderen | |
Körperflüssigkeiten – bei wirksamer Therapie kein HI-Virus mehr | |
nachweisbar. | |
Dass ausgerechnet die Aidshilfe die Kampagne begrüßt, führte zu Empörung. | |
Als eine der Ersten meldete sich die grüne Gesundheitsministern von NRW, | |
Barbara Steffens, zu Wort. Dem [7][WDR] sagte sie: „Eine HIV-Therapie | |
allein ist kein Safer Sex.“ Für sie zähle “Mach’s mit“ als Parole. Sie | |
forderte die Aidshilfe auf, nein, sie „erwartet“ gar von ihr, ihre | |
Botschaften zu überdenken. | |
## Konzept: Schutz durch Therapie | |
Das ist nicht nur anmaßend, sondern zeugt auch von Unwissen. Ganz gleich, | |
welchen HIV-Experten man zum Thema befragt, das Credo ist stets: Schutz | |
durch wirksame Therapie funktioniert. Sehr gut sogar. „Alle Studien zum | |
Thema zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung unter wirksamer | |
Therapie sehr gering ist“, sagt etwa Viviane Bremer vom | |
Robert-Koch-Institut. Die Facebook-Kampagne sei deshalb sinnvoll. Denn es | |
haben sich noch nicht herumgesprochen, dass Positive in erfolgreicher | |
Therapie nicht mehr infektiös sind. | |
Demgegenüber steht, dass offenbar kaum jemand vom Konzept [8][Schutz durch | |
Therapie] weiß. Davon, dass eine funktionierende medikamentöse Behandlung | |
mindestens genauso zuverlässig vor der Übertragung des HI-Virus schützt, | |
wie Kondome. Seit spätestens 2008 ist das durch etliche Studien belegt. | |
Auch dem Bundesgesundheitsministerium dürfte das bekannt sein. Fragt man | |
dort, wie die Facebook-Kampagne „Wir machen’s ohne“ und die Unterstützung | |
der Aidshilfe bewertet werden, erhält man eine Antwort, die nicht aufs | |
Thema eingeht, sondern das Kondom und die langjährige „[9][Mach´s | |
mit“-Kampagne] lobt. „Mehr können wir dazu nicht sagen“, so eine | |
Sprecherin. In ihrer Stimme schwingt ein „wollen“ mit und ein „Bloß kein… | |
ins Feuer gießen“. Man möchte sich die Schlagzeilen wohl nicht vorstellen: | |
„Bundesgesundheitsministerium sagt, HIV-Positive können es auch ohne Gummi | |
treiben.“ | |
Es scheint, als wolle man das Wissen um HIV und moderne Therapieformen | |
kleinhalten. Als wolle man der Mehrheitsgesellschaft nicht zu viel zumuten. | |
## Nicht mit Angst gegängelt werden | |
„Wissen muss heute leicht verdaulich sein“, kritisiert Michèle Meyer. Sie | |
hat die Facebook-Aktion gestartet. Die 50-jährige Schweizerin ist selbst | |
positiv, lebt mit ihrem Mann zusammen und hat zwei gesunde Kinder. Seit | |
Jahren engagiert sie sich gegen die Stigmatisierung von HIV-Positiven. „Wir | |
haben ganz bewusst provoziert“, sagt sie. Man wolle eine Debatte lostreten, | |
gegen Unwissen, gegen Halbwahrheiten und Vorurteile ankämpfen. | |
Sie weiß, dass sie seit dem Jahr 2000 nicht ansteckend ist. „Wenn ich das | |
erzählt habe, waren die meisten schockiert“. Selbst Menschen aus der | |
Präventionsarbeit sagten: Wir dürfen das nicht laut sagen, sonst benutzt ja | |
niemand mehr ein Kondom. Aber Meyer will nicht mit Angst gegängelt werden, | |
sondern fordert Wissen für alle. | |
Warum reagieren viele so abwertend, so empört auf ihre Äußerungen? „Da | |
spielt Neid mit“, sagt Meyer. Die Positiven, die plötzlich ohne Kondom | |
dürfen, während die Negativen weiter Gummis nehmen müssen? Kann nicht sein. | |
Zum anderen, so Meyer, habe es mit der Geschichte von Aids zu tun. Anfang | |
der 1980er Jahre befand sich die Gesellschaft im Aufbruch. Individualismus, | |
sexuelle Befreiung, Homobewegung – und medizinischer Fortschritt. | |
„Gesellschaftlicher Größenwahn“, nennt Meyer die damalige Vorstellung, die | |
Medizin könne alles besiegen. „Und dann kam Aids – und alle starben. Alle | |
hatten Angst, sich anzustecken. Doch für die Mehrheitsgesellschaft war | |
schnell klar: Das betrifft nicht uns, nur die anderen. Und aus der fremden | |
Krankheit wurden die fremden Kranken.“ Die gesellschaftliche Debatte hat | |
offenbar an diesem Punkt stagniert. | |
## Stigma besteht fort | |
Obwohl sich die Medizin weiterentwickelt hat, obwohl eine HIV-Infektion | |
mittlerweile eine chronische Krankheit unter vielen ist, besteht das Stigma | |
fort. Auch, weil viele Aufklärungskampagnen zu wenig zur Aufklärung der | |
Gesellschaft beitragen, häufig nur die direkte Zielgruppe ansprechen. So | |
besteht weiterhin die Vorstellung des gefährlichen anderen, der HIV hat und | |
ansteckend ist. „Und jetzt sagen wir: Wir sind nicht gefährlich. Da kommt | |
die Gesellschaft nicht mit“, so Meyer. | |
Ein Teufelskreis: Die anhaltende Stigmatisierung von HIV-Positiven führt | |
dazu, dass sich viele gar nicht erst testen lassen. Für die meisten | |
Neuinfektionen sind nicht etwa HIV-Positive verantwortlich, die von ihrer | |
Infektion wissen, sondern Menschen, denen ihre HIV-Infektion nicht bekannt | |
ist. | |
Kritiker des Konzepts Schutz durch Therapie führen an, dass beim Sex ohne | |
Kondom auch [10][andere sexuell übertragbare Krankheiten] verbreitet werden | |
können. Das stimmt zwar, doch zur Wahrheit gehört auch, dass Kondome etwa | |
gegen Tripper, Chlamydien, Feigwarzen und Syphilis nur bedingt schützen, da | |
diese Krankheiten bereits durch Oralsex weitergegeben werden können. Und | |
ganz ehrlich: Wer nimmt da schon ein Kondom oder gar ein Lecktuch, das bei | |
Lecken von Anus oder Vagina vor Übertragungen schützt? | |
Rechtlich ist Schutz durch Therapie noch eine [11][Grauzone]. Die | |
absichtliche oder fahrlässige Weitergabe von HIV ist in Deutschland | |
strafbar. Kondome werden von Gerichten als ausreichender Schutz angesehen, | |
eine Viruslast unter der Nachweisgrenze – anders als etwa in der Schweiz – | |
bisher nicht in allen Fällen. | |
Der Gruppe um Meyer geht es nicht darum, Sex ohne Gummi zu propagieren oder | |
die gängigen Safer-Sex-Kampagnen abzulösen. Sie wollen sie erweitern. Sie | |
wollen aufklären, zur Entstigmatisierung beitragen. Sie wollen, dass die | |
Testbereitschaft steigt. Und sie machen klar: Schutz durch Therapie kommt | |
nur für die infrage, deren Therapie wirksam ist, die also etwa ihre | |
Medikamente regelmäßig einnehmen. | |
Björn Beck lebt gut damit. „Ich wünsche mir, dass sich auch die Politik und | |
andere gesellschaftliche Akteure auf wissenschaftliche Fakten beziehen, | |
statt weiter irrational und konservativ nur das Kondom zu propagieren“, | |
sagt er. Wenn jeder die Fakten kenne, können jeder eigenverantwortlich | |
entscheiden. | |
17 Dec 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/Wir-machens-ohne-SaferSex-durch-Therapie-948053581… | |
[2] https://www.facebook.com/photo.php?fbid=982268495147705&set=a.107515712… | |
[3] http://www.schlau-nrw.de/index.php | |
[4] https://www.facebook.com/sat1nrw/posts/915974928438522 | |
[5] http://www.queer.de/detail.php?article_id=25063 | |
[6] http://aidshilfe.de/de/aktuelles/meldungen/aktion-wir-machen-s-ohne-schutz-… | |
[7] https://presse.wdr.de/plounge/tv/wdr_fernsehen/2015/12/20151204_westpol.htm… | |
[8] http://www.aidshilfe.de/de/faq/schutz-durch-therapie | |
[9] http://www.machsmit.de/ | |
[10] https://www.gib-aids-keine-chance.de/wissen/sti/wichtige_sti_und_ihre_symp… | |
[11] http://www.aidshilfe.de/de/leben-mit-hiv/recht/strafrecht?page=4 | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
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