# taz.de -- Asylrecht in der Europäischen Union: Alle roten Linien überschrit… | |
> Das Europäische Asylsystem wurde in den letzten 15 Jahren immer rigider, | |
> je länger daran geschraubt wurde. Eine Chronologie der Härte. | |
Bild: September 2023: Asylsuchende verlassen ein völlig überfülltes Aufnahme… | |
Die Einigung der EU auf das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) | |
sei „dringend notwendig“ gewesen, schrieb Außenministerin Annalena Baerbock | |
am Mittwoch auf X. „Humanität und Ordnung sind dafür die Leitplanken.“ | |
Dabei hatte der EU-Rat unter Führung Spaniens während der am vergangenen | |
Montag gestarteten letzten Runde der Verhandlungen zum GEAS alle | |
menschenrechtlichen [1][roten Linien eingerissen, die die Grünen gezogen | |
hatten]. | |
Vorgesehen sind nun Haftlager mit zehntausenden Plätzen an den | |
Außengrenzen, Schnellverfahren ohne Ausnahmen für Minderjährige, | |
Abschiebung ohne Antragsprüfung in Drittstaaten und die [2][„Fiktion der | |
Nichteinreise“], die die Rechtsmittel Ankommender beschneidet. Zehn | |
Einzelgesetze sollen Asyl-Ablehnungen und Abschiebungen leichter machen und | |
Flüchtlinge abschrecken. | |
Die Verhandlungen hatten sich über Jahre hingezogen. Je länger sie | |
andauerten, umso härter wurden die Pläne für den Umgang mit den | |
Ankommenden. Ein Rückblick: | |
## 2008 | |
Im „Stockholmer Programm“ verpflichtet sich die EU, ihr Asylsystem zu | |
harmonisieren. | |
## Dezember 2012 | |
Wie eine „grausame Lotterie für die Flüchtlinge“ sei das Asylsystem in der | |
EU, sagt EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Das GEAS soll | |
Vereinheitlichung und Lastenteilung bringen. | |
## Juni 2013 | |
Das EU-Parlament beschließt das erste GEAS. Malmström hatte weitreichende | |
Verbesserungen vorgeschlagen, konnte aber nur wenig gegen Großbritannien, | |
Frankreich und Deutschland durchsetzen. „Mit allem, was als ‚Pull-Faktor‘ | |
gilt, also Flüchtlinge anziehen könnte, kamen wir bei den Mitgliedstaaten | |
nicht durch“, sagt ein Brüsseler Diplomat. Asylbewerber sollen aber künftig | |
überall in der EU gleiche Bedingungen zu Verfahren, Versorgung und die | |
Chance auf Anerkennung vorfinden. Einen [3][Verteilmechanismus] gibt es | |
nicht. | |
## Oktober 2013 | |
Nach Schiffskatastrophen mit Hunderten von Toten bekräftigen Griechenland | |
und Italien ihre Forderung nach der Umverteilung von Ankommenden. | |
[4][„Dublin II“] – die Regelung, laut der immer der Staat der Ankunft für | |
Flüchtlinge zuständig ist, habe sich „bewährt“ und bleibe | |
„selbstverständlich erhalten“, entgegnet der deutsche Innenminister | |
Hans-Peter Friedrich von der CSU. | |
## Oktober 2014 | |
Deutschland ändert seine Meinung: „Wir müssen uns verständigen auf | |
[5][Aufnahmequoten], etwa nach Einwohnern“, sagt Innenminister Thomas de | |
Maizière (CDU). Weil Italien, Griechenland und andere nun die Dublin-Regeln | |
unterlaufen und Ankommende einfach weiterschicken, stellen immer mehr | |
Menschen in Deutschland einen Antrag. Mitte 2014 wurde EU-weit jeder dritte | |
Asylantrag in Deutschland gestellt. Deutschland profitiert nicht mehr von | |
Dublin – und entdeckt auf einmal die Nachteile des angeblich „bewährten“ | |
Systems. | |
## April/Mai 2016 | |
Das EU-Parlament fordert eine grundlegende Neuordnung der Asylpolitik und | |
Umverteilung. Die EU-Kommission schlägt eine Reform des GEAS vor: Über | |
einen „Fairness-Mechanismus“ sollen andere EU-Staaten Ländern wie Italien | |
und Griechenland Flüchtlinge abnehmen. Wenn sich ein Land weigert, soll es | |
250.000 Euro pro Flüchtling zahlen, den es eigentlich hätte aufnehmen | |
müssen. „Man kann sich nicht herauspicken, wann man solidarisch ist und | |
wann nicht,“ sagt Kommissionsvize Frans Timmermans. Er frage sich, ob die | |
Kommission „das wirklich ernst meint“, sagt Polens Außenminister Witold | |
Waszczykowski. Sein tschechischer Kollege Lubomír Zaorálek spricht von | |
einer „unangenehmen Überraschung“, Ungarns Außenminister Péter Szijjárt… | |
von „Erpressung“. | |
## 2018 | |
CSU-Innenminister Horst Seehofer schlägt [6][Asylverfahren in geschlossenen | |
Lagern an den Außengrenzen] vor. Die Grünen Annalena Baerbock und Claudia | |
Roth kritisieren den Vorschlag heftig. Im Partei- und im Wahlprogramm für | |
die EU-Wahl 2019 lehnen die Grünen die Idee ab. | |
## Juli 2020 | |
Deutschland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft. Seehofer erneuert seinen | |
Vorschlag: „Offensichtlich unbegründete oder unzulässige Anträge müssen an | |
den Außengrenzen sofort zurückgewiesen werden, und dem Antragsteller darf | |
die Einreise in die EU nicht gestattet werden“, heißt es aus seinem | |
Ministerium. Personen aus „sicheren Drittstaaten“ solle die Einreise | |
verweigert werden. Die Union macht Druck auf die EU-Kommission. „Für ein | |
gemeinsames europäisches Asylsystem, das diesen Namen auch verdient“, sagt | |
der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg. | |
## September 2020 | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt den „Migrationspakt“ | |
vor. Zentraler Punkt: Schnellverfahren in Internierungslagern an den | |
Außengrenzen. Sie sollen nach dem Willen der Kommission Kern der | |
GEAS-Reform sein. | |
## Dezember 2020 | |
Deutschlands Ratspräsidentschaft endet ohne Einigung. Griechenland und | |
Italien hatten auf einen Verteilmechanismus bestanden. Länder wie Ungarn | |
oder Polen waren dagegen. | |
## 2021 | |
In der Ägäis gehen Hochsicherheitslager, sogenannte Closed Control Access | |
Center, in Betrieb. Weite Teile des Schnellverfahren-Konzepts werden hier | |
in Pilotprojekten angewandt. | |
## Januar 2023 | |
Die Kommission präsentiert eine „Instrumentalisierungsverordnung“. Sie soll | |
Ländern ermöglichen, die Rechte von Flüchtlingen einzuschränken, wenn diese | |
von feindlichen Nachbarstaaten geschickt werden. Deutschland lehnt wegen | |
menschenrechtlicher Bedenken ab. | |
## Juni 2023 | |
Deutschland stimmt den Kommissionsvorschlägen für Schnellverfahren an den | |
Außengrenzen zu. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour behauptet, im | |
Gegenzug werde ein „verbindlicher Verteilmechanismus“ eingeführt. Der ist | |
aber nicht vorgesehen. Die Grünen wollen Minderjährige von der Inhaftierung | |
ausnehmen. | |
## Dezember 2023 | |
In der letzten GEAS-Verhandlungsrunde streicht die spanische | |
Ratspräsidentschaft die Ausnahmen für Minderjährige. Einen echten | |
Verteilmechanismus sehen Regeln nicht vor. Am Morgen des 19. Dezember | |
meldet der Rat den Abschluss der Verhandlungen. Deutschland stimmt zu. | |
22 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Reform-des-EU-Asylsystems/!5935627 | |
[2] /Bedeutung-des-Asylkompromisses/!5938659 | |
[3] /Migrationsreform-der-EU/!5929337 | |
[4] /Dublin-II/!t5007887 | |
[5] /Forscher-ueber-neue-Migrationsdebatte/!5959280 | |
[6] /Umstrittene-Asylreform/!5929996 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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