# taz.de -- Grünen-Vorsitzende über ihre Bilanz: „Wir machen einen Untersch… | |
> Ricarda Lang und Omid Nouripour wollen wiedergewählt werden. Ein Gespräch | |
> über gute Migrationspolitik und fliegende Tomaten. | |
Bild: Omid Nouripour und Ricarda Lang wollen wieder gewählt werden | |
wochentaz: Frau Lang, Herr Nouripour, als Sie vor zwei Jahren | |
Bundesvorsitzende der Grünen wurden, sah sich Ihre Partei auf dem Weg zur | |
Volkspartei. Jetzt, wo Sie wiedergewählt werden wollen, [1][gelten die | |
Grünen als Verbotspartei und] Ihre Parteifreund*innen haben im | |
Wahlkampf Angst vor Anfeindungen. Was haben Sie falsch gemacht? | |
Omid Nouripour: Wenn Leute Angst vor Anfeindungen haben, ist es kein | |
Problem der Grünen, sondern für unsere Demokratie. Es stimmt, die Debatte | |
ist teils hitzig und wir stehen im Zentrum des Geschehens. Aber das zeigt | |
auch, dass wir einen Unterschied machen. | |
Also keine Fehler Ihrerseits? | |
Ricarda Lang: Manchmal fehlt auch uns der Blick fürs Wesentliche. Nehmen | |
wir das Aus für den fossilen Verbrenner auf europäischer Ebene: Das ist | |
einer der wichtigsten klimapolitischen Erfolge dieser Legislatur. Auf dem | |
Weg dahin hat sich das Land aber in einer wochenlangen, kleinteiligen | |
Debatte über E-Fuels verzettelt. | |
Richtig selbstkritisch klingt das nicht. Die Debatte ging auf Rechnung der | |
FDP. | |
Lang: Wir haben auch dazu beigetragen. | |
Robert Habeck und Annalena Baerbock, Ihre Vorgänger*innen, haben versucht, | |
das Image der Grünen neu zu erfinden: raus aus dem Lagerdenken, rein in die | |
Mitte – „Bündnispartei“ hieß das. Davon ist nicht viel übrig, so viel … | |
wie heute war lange nicht. | |
Lang: Das sehe ich ganz anders. Wir stehen im Zentrum der politischen | |
Debatte und machen von dort aus Politik. Man reibt sich an uns, weil wir | |
Dinge voranbringen. Es gibt den Versuch, uns zurückzuschieben in die | |
Nische. Aber das werden wir nicht zulassen. | |
Ein großer Teil der Bevölkerung sieht Sie nicht mehr in der Mitte. Sie sind | |
in der Defensive. Wie ist Ihr Plan, da raus zu kommen? | |
Nouripour: Die Probleme lösen, die andere verursacht haben, damit | |
gleichzeitig die Modernisierung vorantreiben und besser vorsorgen: Das ist | |
der Plan. Es geht darum, Wohlstand, Klimaschutz und Gerechtigkeit | |
zusammenzuführen. Wenn es eine Partei gibt, die dieser Aufgabe gewachsen | |
ist, sind es die Grünen. | |
Lang: Es gibt im Land eine gewisse Krisenmüdigkeit, die ich nachvollziehen | |
kann. Damit einher geht mitunter der Wunsch, dass Schluss ist mit | |
Veränderungen. Und es gibt den Versuch, das auf die Grünen zu projizieren. | |
Nur war es ja die Realitätsverweigerung der großen Koalition, die erst dazu | |
geführt hat, dass unser Land für Krisen kaum aufgestellt ist. Veränderung | |
ist kein Selbstzweck, aber manchmal nötig, um Stabilität und Sicherheit für | |
die Menschen zu schaffen. Dabei müssen wir die soziale Frage an den Anfang | |
stellen. | |
Das sagen Sie oft. Aber bei der Ampel steht die soziale Frage immer am | |
Ende: [2][Die Förderung für neue Heizungen ist noch nicht beschlossen], das | |
versprochene Klimageld gibt es nicht, die Kindergrundsicherung ist schlecht | |
ausgestattet. | |
Lang: Ich würde die Liste um ein paar positive Punkte ergänzen. | |
Mindestlohn: auf 12 Euro angehoben, auch wenn er weiter steigen muss. | |
Bürgergeld: eingeführt und Hartz IV hinter uns gelassen. | |
Kindergrundsicherung: kommt und ist ein Paradigmenwechsel im Kampf gegen | |
Kinderarmut. Und das Tariftreuegesetz folgt erst noch – mit dem Ziel, dass | |
staatliches Geld nicht für Lohndumping ausgegeben wird. Wir brauchen ein | |
Gerechtigkeitsversprechen an die Mitte, da geht es auch um | |
gesellschaftlichen Zusammenhalt. | |
Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und | |
Transformationsfonds wird das nicht leichter, es fehlen 60 Milliarden Euro. | |
Was bedeutet das für Ihre Politik? | |
Nouripour: Das ist eine erhebliche Herausforderung für alle demokratischen | |
Parteien, denn das Urteil ist ja ein sehr Grundsätzliches und betrifft auch | |
die Frage, wie Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt. Schauen | |
Sie in die USA, wo milliardenschwere Investitionen in Zukunftstechnologien | |
gesteckt werden. Der Wettbewerb darum, wer international Vorreiter ist, ist | |
in vollem Gange. Es geht um Arbeitsplätze und Stabilität, es geht um | |
Standards, es geht darum, wo künftig Innovation entsteht. Entsprechend wird | |
die Regierung gemeinsam Lösungen finden. | |
Sie sind in Berlin und Hessen aus der Regierung geflogen und auch bei den | |
außerparlamentarischen Bündnissen sieht es nicht gut aus. Die Klimabewegung | |
hat sich abgewandt, weil die Ampel das Klimaschutzgesetz entkernt. | |
Sozialverbände verlassen das „Bündnis für die junge Generation“ der grü… | |
Familienministerin. Menschenrechtsaktivist:innen kehren Ihnen wegen | |
der Asylpolitik den Rücken. Gehen ihnen die Partner verloren? | |
Lang: Nein. Wir sind im guten und konstruktiven Austausch mit unseren | |
Bündnispartnern und darüber hinaus. Ein Beispiel ist das große Projekt des | |
klimaneutralen Wohlstands. Bei meiner diesjährigen Sommertour war ich auch | |
in der Lausitz, einem Gebiet, wo bei einer Debatte über Kohleförderung vor | |
zehn Jahren vielleicht noch Tomaten geflogen wären. Dort habe ich mit | |
jungen Auszubildenden darüber gesprochen, was für einen Job sie in zehn | |
Jahren haben werden. Sie wissen, es wird sich dort was verändern. Das | |
Wichtigste ist doch Ehrlichkeit – und dass Menschen nicht das Gefühl | |
bekommen, wir entscheiden Dinge über ihren Kopf hinweg. | |
Aber genau dieses Gefühl haben Sie doch vermittelt, etwa beim | |
Heizungsgesetz oder dem Flüssiggas-Terminal auf Rügen. | |
Lang: Es hat in den letzten Monaten einen Vertrauensverlust in | |
demokratische Institutionen gegeben. Menschen wollen vor allem wissen: Was | |
bedeutet Politik ganz konkret für mich? Ihnen ist egal, ob etwas ein | |
grüner, gelber oder roter Erfolg ist. Da kann die Ampel Vertrauen | |
zurückgewinnen. | |
Nouripour: Die Leute müssen das Gefühl haben, ernst genommen zu werden. | |
Dass ihnen nichts vorgemacht wird. Das ist etwas, was uns auszeichnet. Wir | |
tun nicht so, als könnten wir zurück in die 90er-Jahre – oder als würde | |
schon alles gut, wenn es nur so bleibt, wie es ist. Und weil Sie die | |
Bewegungen angesprochen haben: Sie haben eine andere Rolle als wir und das | |
ist auch gut so. Mit ihrer Hilfe, auch mit ihrer Kritik können wir zuweilen | |
mehr erreichen. | |
Die Bewegungen fühlen sich zum Teil von Ihnen verraten. | |
Nouripour: Meiner Wahrnehmung nach erwarten die Leute von uns keine | |
Wunderdinge, sondern dass wir eine Haltung haben und den Laden in die | |
richtige Richtung ziehen. Auch in der Partei führen wir viele Gespräche. | |
Wir reden darüber, was wir erreicht haben, und natürlich auch über das, was | |
wir nicht erreicht haben und noch kommen muss. Kompromiss gehört zur | |
Demokratie dazu, ist letztlich ihr Wesenskern. Unser Eindruck ist, dass die | |
Leute sehen, dass die Richtung stimmt, auch wenn es an einigen Stellen noch | |
nicht reicht. | |
Müsste die Partei mit Ihnen an der Spitze der Regierung nicht mehr | |
widersprechen, mehr Druck entfalten, damit die Grünen mehr durchsetzen? | |
Nouripour: Es ist Aufgabe der Partei, die Positionen so in den Prozess | |
einfließen zu lassen, dass sich möglichst viel davon im Ergebnis | |
wiederfindet. Das tun wir. Es ist niemandem geholfen, wenn die Entscheidung | |
schon durch, das Spiel schon gelaufen ist, in die Nachkommentierung | |
einzusteigen. | |
Lang: Und dass die Partei dabei geschlossen ist, ist eine große politische | |
Stärke, gerade wenn es Gegenwind gibt. Dafür werden wir uns als Vorsitzende | |
natürlich nicht entschuldigen. Bei unseren Mitgliedern, aber auch in der | |
Bevölkerung, wird Opposition innerhalb der Regierung nicht honoriert. | |
Frau Lang, Sie als Parteilinke haben mit dem baden-württembergischen | |
Ministerpräsidenten Kretschmann einen Meinungsbeitrag veröffentlicht, der | |
der Partei zeigen sollte: Wir bleiben bei der Migrationspolitik zusammen. | |
[3][Im Interview mit der taz hat Kretschmann das konterkariert, indem er | |
die Grünen ermahnt hat, sich mehr zu bewegen.] Ärgert Sie das? | |
Lang: Ich habe keine Zeit, mich zu ärgern. | |
Kaum zu glauben. | |
Lang: Unser Beitrag zeigt doch, dass eine gemeinsame Position möglich ist. | |
Er war ein Signal an die öffentliche Debatte: Lasst uns wegkommen von | |
diesem Überbietungswettbewerb an Scheinlösungen und möglichst lauten | |
Forderungen. Lasst uns darüber diskutieren, was funktioniert. Wir haben | |
dafür drei Dinge definiert: Erstens Humanität, also dass wir eine | |
humanitäre Verantwortung haben. Zweitens: Ordnung, wir brauchen geordnete | |
Verfahren. | |
Nouripour: Und drittens Sachlichkeit. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, | |
dass jedes Komma im Ausländerrecht existenziell sein kann. | |
„Humanität und Ordnung“ ist der gleiche Slogan wie der der Union. | |
Nouripour: Wir haben ihn seit 2017. An den Außengrenzen sind die | |
Verhältnisse unerträglich. Leute leben teilweise zweieinhalb Jahre auf den | |
griechischen Inseln in unwürdigen Bedingungen, bis ihre Anträge überhaupt | |
angeschaut werden. Da fehlt Ordnung, da fehlt Humanität. Bei uns im Land | |
sind sehr viele Kommunen überlastet, weil es nicht nur an Geld fehlt, | |
sondern an Wohnraum, an Personal. Es ist deshalb ein großer Erfolg, dass | |
die Kommunen jetzt zusätzliche dreieinhalb Milliarden Euro bekommen. | |
Winfried Kretschmann hat in der taz gesagt: In der Migrationsfrage müssen | |
die Grünen „runter von der Bremse bei der Eindämmung der irregulären | |
Migration“, sonst würden Sie wieder in der Nische landen. Frau Lang, würden | |
Sie das auch unterschreiben? | |
Lang: Ich würde das unterschreiben, was ich selbst geschrieben habe. | |
Nouripour: Außerdem ist es ein Scheinwiderspruch. Wir haben seit Jahren im | |
Programm nicht nur legale Wege und Spurwechsel stehen, sondern auch dass | |
Menschen, deren Anträge abgelehnt sind und die keinen subsidiären Schutz | |
genießen, nicht bleiben können. | |
Mal was anderes: Worauf sind Sie eigentlich richtig stolz? | |
Nouripour: Ich bin stolz darauf, dass der Ausbau der Erneuerbaren so | |
vorangeht, dass die Energiewende nicht mehr reversibel ist. Und wie | |
geschlossen diese Partei dasteht. | |
Lang: Und dass sich niemand aus der Verantwortung rauswünscht. Die letzten | |
zwei Jahre geben mir Mut. Wir haben viel erreicht. Wir sind innerhalb von | |
einem Jahr unabhängig von russischem Gas geworden und haben das Land durch | |
den letzten Winter bekommen. | |
Vielen Menschen gibt die derzeitige Lage alles andere als Mut. Sie machen | |
sich Sorgen, auch mit Blick auf die Umfragewerte der AfD. | |
Lang: Wenn ich sage, das Land braucht Mut, dann hängt das auch mit der AfD | |
zusammen. Wenn vieles schlecht geredet wird, nutzt es denen, die von Angst | |
leben. Mut heißt nicht Schönreden und bedeutet auch keine naive Ignoranz | |
gegenüber den realen Verhältnissen. Aber es ist der überzeugte Glaube, dass | |
wir in diesen realen Verhältnissen gemeinsam etwas besser machen können. | |
19 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Anja Krüger | |
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