# taz.de -- Parteitag der Grünen: Ruhe oder Sturm | |
> Vor ihrem Parteitag ab Donnerstag hadern viele Grüne mit der Politik der | |
> Ampelkoalition. Nach außen bleibt es ruhig, selbst beim linken Flügel. | |
Bild: Den Grünen macht ihr Bedeutungsverlust zu schaffen | |
Als Luca Rosenheimer von der Idee eines offenen Briefes an die Parteispitze | |
hört, ist ihm gleich klar: Da wird er mitmachen. Und dort den ganzen Unmut | |
kundtun, der sich in den vergangenen Monaten angesammelt hat: Über die | |
zahlreichen Zugeständnisse der Grünen in der Bundesregierung. Und die | |
vielen Versuche, schwierige Kompromisse als Erfolg zu verkaufen. „Natürlich | |
muss man in einer Koalition Kompromisse machen“, sagt Rosenheimer. „Aber | |
hier werden immer wieder grüne Grundsatzbeschlüsse überschritten.“ | |
Rosenheimer, 24, ist seit sechs Jahren bei den Grünen, bei der | |
[1][Landtagswahl in Bayern] war er Direktkandidat im Landkreis Bamberg. | |
„Offener Brief für wertegeleitete bündnisgrüne Politik und gelebte | |
Basisdemokratie“ steht über dem zweieinhalbseitigen Schreiben an die | |
Führungskräfte in der Partei, den Rosenheimer mitverfasst hat. | |
Am Donnerstag kommen die Grünen in Karlsruhe zu ihrem Parteitag zusammen. | |
Der offene Brief ist kein Antrag auf dem dortigen Parteitag. Aber | |
beeinflussen wollen die Verfasser*innen die Debatte dort schon. Der | |
Brief ist anderthalb Wochen alt, inzwischen haben bundesweit über tausend | |
Mitglieder unterschrieben. Man kann sagen: Tausend von insgesamt 126.000 | |
Mitgliedern, das ist nicht viel. Oder man sieht die Unterschriften als | |
Indiz für Unruhe und Unmut an der Basis. Luca Rosenheimer sagt: „Viele in | |
meinem Umfeld denken ähnlich wie ich.“ | |
Jahrelang lief es für die Grünen gut. Die Umfragewerte stiegen, die | |
gesellschaftliche Stimmung schien auf ihrer Seite zu sein, Klimapolitik in | |
der Mitte der Gesellschaft angekommen. Annalena Baerbock und [2][Robert | |
Habeck waren lange die beliebtesten Politiker*innen] der Republik. Vor | |
der Bundestagswahl plakatierten sie „Deutschland. Alles ist drin“, sogar | |
eine grüne Kanzlerin schien möglich. | |
## Ein schwieriges Jahr | |
Nun schauen die Grünen auf ein schwieriges Jahr zurück. Grüne werden im | |
Wahlkampf angefeindet, Klimapolitik ist auf der Prioritätenliste der | |
Deutschen nach hinten gerutscht und wieder scheinen die Grünen dafür | |
verantwortlich zu sein. Ausgerechnet Habeck, der begnadete Kommunikator, | |
hat mit einem [3][schlecht gemachtem Heizungsgesetz] die Steilvorlage für | |
eine Gegenkampagne geliefert, die in großen Teilen der Bevölkerung verfing. | |
In Berlin und Hessen ist die Partei nach den Landtagswahlen – hier mit | |
trotziger Grün-pur-Politik, dort mit viel Anpassungsfähigkeit an den | |
konservativen Koalitionspartner – aus der Regierung geflogen. | |
Dazu: ständig Streit in der Ampel und viele Kröten, die die Grünen | |
schlucken mussten. Vom [4][Abbaggern des Dorfes Lützerath] über die | |
Abschaffung der Sektorziele beim Klimaschutz bis zur Reform des Gemeinsamen | |
Europäischen Asylsystem mit Lagern an den EU-Außengrenzen und einer | |
Verschärfung der Abschiebegesetzgebung. Und jetzt kommt noch das [5][Urteil | |
des Bundesverfassungsgerichts] hinzu, das 60 Milliarden Euro aus dem Klima- | |
und Transformationsfonds verschwinden lässt – und damit grüne Politik noch | |
schwerer durchsetzbar macht. | |
## Partei zeigt sich geschlossen | |
Und doch bleibt es bei den Grünen erstaunlich ruhig, selbst im linken | |
Flügel. [6][Die Grüne Jugend] formuliert zwar ihre Kritik wie immer scharf. | |
Aber darüber hinaus? Bleibt der offene Brief eine Ausnahme. Die | |
Geschlossenheit der Partei sei eine „große politische Stärke, gerade wenn | |
es Gegenwind gibt“, sagt Grünen-Chefin Ricarda Lang, selbst eine | |
Parteilinke. | |
Aber warum ist das so, trotz all der Zumutungen? | |
Wer versucht, dies zu ergründen, trifft auf Abgeordnete, die den Tränen | |
nahe sind. Die darüber nachdenken, im Bundestag Gesetzentwürfen der Ampel | |
nicht zuzustimmen oder kurzzeitig sogar erwägen, ihre Fraktion gleich ganz | |
zu verlassen. Der stößt auf Politiker*innen, die von einer „Entfremdung mit | |
ihrer Partei“ sprechen, von „Schmerzgrenze“ oder „Identitätskrise“. … | |
dieser Gespräche sind nur im Hintergrund möglich, zitieren darf man aus | |
ihnen nicht. In der Bundestagsfraktion wird intern heftig diskutiert, nach | |
außen dringt davon wenig. In den Ländern ist es ähnlich. | |
Setzt man all das wie ein Puzzle zusammen, entsteht das Bild einer nervösen | |
Partei. Die unruhig und auch ratlos auf die gesellschaftliche Stimmung | |
blickt, die Anfeindungen, die Rhetorik der Union – und vor allem auf die | |
hohen Umfrageergebnisse für die AfD. Eine Partei, die keine Antwort darauf | |
findet. Und die große Sorge hat, die Lage weiter zu verschlimmern. | |
Jürgen Trittin, Urgestein des linken Flügels, ist keiner, der sich nicht | |
zitieren lässt. Er hat in unterschiedlichen Funktionen schon viele Phasen | |
der Grünen durchlebt, jetzt ist er außenpolitischer Sprecher der Fraktion. | |
Trittin sagt es so: „Die entscheidende Frage ist doch: Wenn die | |
Gesellschaft nach rechts rutscht, kann man dem dann in der Regierung oder | |
in der Opposition besser entgegenwirken? Bis weit in den linken Flügel | |
hinein sind wir der Ansicht, dass es dann klüger ist zu regieren – auch | |
trotz schmerzlicher Kompromisse.“ Was wohl heißt: Die muss man dann eben | |
aushalten. | |
[7][Erik Marquardt ist Flüchtlingsexperte] seiner Partei im Europäischen | |
Parlament, davor beteiligte er sich an Seenotrettungsaktionen im | |
Mittelmeer. „Die Grünen sind ja nicht die Bösen in der Debatte“, sagt er. | |
„Wir können mehr durchsetzen, wenn wir geschlossen sind.“ Und mehr gegen | |
den Rechtsruck tun. | |
Das heißt nicht, dass Marquardt keine Kritik am Kurs der Grünen hat, im | |
Gegenteil. Und wenn er es für nötig hält, teilt er auch gegen Parteifreunde | |
aus wie jüngst gegen Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried | |
Kretschmann. Als der sich gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der | |
unionsgeführten Bundesländer für eine Prüfung von Asylverfahren in | |
Drittstaaten aussprach, attestierte Marquardt ihm im Tagesspiegel eine | |
„gefährliche Desorientierung“. | |
## Kein Konjunkturprogramm für die AfD | |
Einer, der die Grünen seit langem von außen beobachtet, ist der | |
Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. „Die Grünen sind in der | |
Defensive, das verunsichert sie stark“, sagt Schroeder. „Sie sind zwar in | |
den Umfragen noch stabil, aber die Potenzialwerte sind stark | |
eingebrochen. Das ist für sie die größte Gefahr.“ Soll heißen: Die Anzahl | |
der Menschen, die es für möglich halten, einmal die Grünen zu wählen, ist | |
stark zurückgegangen. Zustimmung erhalten sie von ihrer Stammklientel. Als | |
entscheidend für die Geschlossenheit der Partei nach außen sieht auch | |
Schroeder den gesellschaftlichen Rechtsruck an: „Man will auf keinen Fall | |
ein Konjunkturprogramm für die AfD sein.“ | |
Ganz ähnlich blickt der Psychologe Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut | |
in Köln auf die Grünen, das Institut berät Habecks Wirtschaftsministerium. | |
„Der eigene Bedeutungsverlust und die Stärke der AfD machen den Grünen zu | |
schaffen, Optimismus und Euphorie sind weg. Das macht die Basis sprachlos | |
und führt zu reserviertem Verhalten“, sagt Grünewald. | |
Die Sorge sei, mit dem Herausstellen alter Grundpositionen noch mehr ins | |
Hintertreffen zu geraten. Grünewald geht davon aus, dass sich die Kritik | |
auf dem Parteitag entladen wird. „Ein Parteitag ist ein halbwegs | |
geschützter Rahmen, da gibt es andere Dynamiken“, sagt der Psychologe. „Und | |
man kann auch nicht ewig in der Sprachlosigkeit verharren.“ | |
## Die Parteispitze versucht den Spagat | |
Nun verschiebt vermutlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit | |
seinen tiefgreifenden Auswirkungen auf den Haushalt die Debatten auf dem | |
Parteitag – großes Konfliktpotenzial aber steckt weiter in der | |
Migrationspolitik. Weil die Diskussion darüber ohnehin nicht zu verhindern | |
war, hat der Bundesvorstand einen Dringlichkeitsantrag eingebracht. Er | |
versucht den Spagat: betont die Menschenrechte und das Streben nach einer | |
humanitären Geflüchtetenpolitik – und bekennt sich gleichzeitig zu | |
restriktiven Maßnahmen. Wenn die Kapazitäten erschöpft seien, müssten auch | |
die Zahlen sinken, heißt es. Werte und Wirklichkeit verbinden, so nennt das | |
der Bundesvorstand. | |
Einen ähnlichen Spagat hat die linke Parteichefin Lang in einem gemeinsamen | |
Beitrag mit Ober-Realo Kretschmann versucht. Damit sollte auch ein Signal | |
der Geschlossenheit in die Partei gesendet werden. Lange gehalten hat das | |
nicht. [8][Im taz-Interview] forderte Kretschmann kurz darauf, die Grünen | |
müssten „runter von der Bremse bei der Eindämmung der irregulären | |
Migration“. Andere fragen sich: Bremsen die Grünen überhaupt noch? | |
Zum Antrag des Bundesvorstands gibt es zahlreiche Änderungsanträge, der | |
weitgehendste kommt von der Grünen Jugend, traditionell links in der | |
Partei. Er will Minister*innen und Fraktionen in Bund und Ländern | |
verbieten, weiteren Asylrechtsrechtsverschärfungen zuzustimmen. Es ist | |
schwer vorstellbar, dass die Partei das eigene Führungspersonal derart | |
knebelt. | |
Manche in der Partei meinen auch, die großen Herausforderungen durch das | |
Bundesverfassungsgerichtsurteil könnten dafür sprechen, dass die Partei | |
einen Schulterschluss sucht. Andererseits: Bei der letzten BDK ist ein | |
Antrag der Grünen Jugend, der ein Moratorium für Lützerath forderte und | |
sich gegen die gesamte Spitze stellte, nur sehr knapp gescheitert. Die | |
Grüne Jugend hatte es geschafft, sich zur Stimme des Haderns an der Basis | |
zu machen. Bleibt die Frage, wie groß das Hadern aktuell ist. | |
23 Nov 2023 | |
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