| # taz.de -- Streit um Migration bei Grünen-Parteitag: Die Vertrauensfrage | |
| > Die Grünen ringen mit sich und der Ampel. Die Parteilinke will keine | |
| > weiteren Asylverschärfungen. Eine Einigung gibt's dann doch. | |
| Bild: Auf ihrem Parteitag ringt die Grüne Spitze mit den Parteilinken | |
| Samstagabend, fast 22 Uhr. In anderen Parteien würde man um diese Uhrzeit | |
| langsam zu Wein und Bier übergehen, auf dem Karlsruher Parteitag der Grünen | |
| wird es jetzt noch mal ernst: Robert Habeck tritt ans Redepult. Die Ärmel | |
| des schwarzen Hemds hochgekrempelt, die Haare wie früher verwuschelt. Der | |
| Vizekanzler im Kampfmodus. Habeck sagt, die jetzige Debatte werde die | |
| „schwierigste und emotionalste“ des Parteitags. Er wolle nicht drohen, aber | |
| alle sollten sich die Konsequenzen dieser Abstimmung klarmachen, „das ist | |
| kein Spiel“. Der Antrag sei „ein Misstrauensvotum, das verkleidet sagt: | |
| Verlasst die Regierung“. | |
| Es ist ein Antrag der Grünen Jugend, der den Minister dazu bringt, solchen | |
| Druck auf die Delegierten aufzubauen. Sie wollen alle Grünen in | |
| Regierungsverantwortung und auch die Fraktionen verpflichten, keinen | |
| [1][Asylrechtsverschärfungen] mehr zuzustimmen. Also keinen weiteren | |
| sicheren Drittstaaten, keinen Sozialhilfekürzungen und keinen Asylverfahren | |
| an den Außengrenzen der Europäischen Union. | |
| [2][„Ich kann diese Forderung nicht einhalten“, sagt Außenministerin | |
| Annalena Baerbock in der Debatte.] „Soll ich die Verhandlungen über | |
| Grenzsicherung meinem ungarischen Kollegen überlassen, weil ich darüber | |
| nicht mehr verhandeln darf?“ Die frühere Bundesvorsitzende der Grünen | |
| Jugend Sarah-Lee Heinrich widerspricht der Parteiführung: „Wir wollen nicht | |
| das Ende dieser Regierung. Wir wollen den Anfang einer anderen | |
| Asylpolitik.“ | |
| Während es den einen um Regierungsfähigkeit der Grünen und eine Asylpolitik | |
| in schwierigem europäischen Umfeld geht, geht es den anderen um Moral und | |
| einen Umgang mit Geflüchteten, der dem und der Einzelnen gerecht wird. 130 | |
| Änderungsanträge wurden in zähen Verhandlungen bis kurz vor der Debatte in | |
| den Text eingearbeitet und sollen, wie es in der Überschrift heißt, für | |
| „Humanität und Ordnung“ in der Asylpolitik sorgen. Nur noch der Antrag der | |
| Grünen Jugend mit ihrer imperativ anmutenden Forderung steht zur | |
| Abstimmung. | |
| ## „Härteste Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre“ | |
| Die Jungen dominieren dank hoher Beteiligung die geloste Redeliste. Es sei | |
| unehrlich über Ordnung zu reden, während im Mittelmeer Menschen sterben, | |
| sagt der Delegierte Vasili Franco. Und Leon Schlömer aus Köln wünscht sich: | |
| „Lasst uns nicht die Partei sein, die sagt, im großen Stil abschieben. | |
| Lasst uns sagen: Kein Mensch ist illegal.“ Sie werfen der Parteispitze vor, | |
| „an den härtesten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre beteiligt | |
| zu sein“. | |
| Ist es tatsächlich vorstellbar, dass die Partei ihren Amts- und | |
| Mandatsträgern solche Fesseln anlegt? Offenbar traut die Führung der | |
| eigenen Partei derzeit wieder vieles zu. Neben den beiden Ministern werfen | |
| auch [3][die Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang] ihren Einfluss | |
| in die Waagschale. Langs Worte haben dabei besonderes Gewicht: Die | |
| 29-jährige Parteilinke war bis vor wenigen Jahren selbst Bundessprecherin | |
| der Grünen Jugend. Sie sagt, emotional könne sie vieles nachvollziehen, was | |
| die Grüne Jugend fordert. „Aber wenn wir nicht mehr am Tisch sitzen, wird | |
| sich nix ändern.“ | |
| Schon vor dem Parteitag war klar: Es gärt an Teilen der Basis. [4][Über | |
| 1.200 Parteimitglieder hatten einen Brandbrief unterzeichnet], der von der | |
| eigenen Spitze eine Kurskorrektur fordert. Der Oberrealo Winfried | |
| Kretschmann hatte überraschend mit Lang einen Gastbeitrag im Tagesspiegel | |
| veröffentlicht, der unter der Formel „Humanität und Ordnung“ für eine | |
| pragmatische Asylpolitik der Partei warb. | |
| Der Unmut an der Basis über diese und andere Kompromisse ist auch auf dem | |
| Parteitag zu hören. „Wir erkennen unsere Partei nicht wieder“, ruft eine | |
| Delegierte. Die Grünen ließen sich von SPD und FDP „am Nasenring durch die | |
| politische Manege ziehen“, kritisierte ein anderer. „Ich bin sehr | |
| enttäuscht über die Koalition, auf der Habenseite steht zu wenig“, meint | |
| ein dritter. Und einer fragt die Parteispitze: „Wie wollt ihr die FDP | |
| endlich an die Kandare kriegen?“ | |
| ## Hauptfeind ist die CDU | |
| Der Hauptfeind hier aber sind die CDU und ihr Vorsitzender, Friedrich Merz. | |
| Dem attestiert Parteichef Omid Nouripour, nicht einmal Opposition zu | |
| können. „Das kann doch nicht sein, dass eine Opposition mehr die Niederlage | |
| der Regierung will als den Erfolg des Landes“, sagt er mit Blick auf das | |
| Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds. | |
| Und reimt: Das Land brauche „mehr Herz als Merz“. | |
| Die Generaldebatte am Donnerstagabend dient dazu, den Puls der Partei nach | |
| zwei Jahren Regierung und dem Urteil aus Karlsruhe zu beruhigen. Da wird | |
| schnell klar: Anders als bei der FDP, wo gerade 500 Mitglieder eine | |
| Befragung zum Austritt aus der Koalition angestoßen haben, will bei den | |
| Grünen niemand ernsthaft die Regierung verlassen. Viel ist an diesem Abend | |
| von Verantwortung die Rede, für das Land und für Europa. | |
| Robert Habeck, der mal als Heilsbringer verehrt wurde, bekommt hier zwar | |
| unterschwellig das Misstrauen vor allem aus linken Teilen der Partei zu | |
| spüren. Aber er erhält den größten Applaus, als er fürs Regieren auch unter | |
| erschwerten Bedingungen wirbt: „Ich höre immer, die Grünen müssten in der | |
| Realität ankommen. Ich kann es nicht mehr hören.“ | |
| Die Partei habe die Realitäten von Krieg, Klimakrise und Migration früher | |
| angenommen als andere. „Die Groko hat uns in diese Lage gebracht. | |
| Realitätsblind gegenüber Putin, China, gegenüber der Klimakrise. Immer nur | |
| leere Phrasen, Gesetze ohne Konsequenzen. Und jetzt soll die Groko wieder | |
| ein Kassenschlager sein?“ | |
| ## Die Grünen sind gegen die Schuldenbremse | |
| Auch in ihrer Haltung zur Schuldenbremse müssen sich die Grünen [5][nach | |
| dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts] nicht korrigieren. Bei deren | |
| Einführung hatten sie dagegen gestimmt, seit Langem wollen sie eine Reform, | |
| die Investitionen möglich macht. Der Parteitag bekräftigt diese Position. | |
| Wird das am Ende auf ihr Konto einzahlen? | |
| Auf diesem Konto scheint gerade Ebbe zu herrschen. In Berlin und Hessen | |
| sind die Grünen aus der Regierung geflogen, zwei Drittel der Bevölkerung | |
| blickt inzwischen negativ auf die Partei. Klimapolitik, das grüne | |
| Kernthema, ist auf der Prioritätenliste der Deutschen nach hinten | |
| gerutscht. Das drückt auf die Stimmung. Oliver Hildebrandt, | |
| Landtagsabgeordneter aus Baden-Württemberg, sagt: „Das ist ja nur für die | |
| jungen Mitglieder was Neues, die noch keine Veggieday-Debatte oder | |
| 5-Euro-Benzinpreis-Diskussion mitbekommen haben.“ | |
| Angesichts der Lage schneiden die beiden Vorsitzenden bei ihrer Wiederwahl | |
| respektabel ab: Omid Nouripour, der mit 79 Prozent der Stimmen wieder | |
| gewählt wird, verliert nur leicht an Zustimmung. Ricarda Lang erreicht mit | |
| 82,3 Prozent ein leicht besseres Ergebnis als vor zwei Jahren. Nouripour | |
| halten manche Realos vor, ihre Interessen nicht gut genug durchzusetzen – | |
| und Lang, der Parteilinken, zu viel Raum zu geben. | |
| Zu Beginn ihrer Amtszeit hatten viele vermutet, dass Lang im Schatten des | |
| deutlich erfahreneren Nouripours stehen würde. Tatsächlich ist es manchmal | |
| genau andersherum. Beide aber sind deutlich weniger profiliert, als es ihre | |
| Vorgängerinnen Habeck und Baerbock waren. | |
| Auch an anderen Stellen ist zu merken, dass die Delegierten nicht zufrieden | |
| sind und versuchen, das Profil der Partei zu stärken – zumindest ein | |
| bisschen. Da wird ein Zitat Konrad Adenauers zur europäischen Einheit aus | |
| der Präambel des Europa-Wahlprogramms geworfen, mit der Begründung, der | |
| erste Bundeskanzler der Republik sei Sexist gewesen. | |
| ## Weiterer Streitpunkt: Mercosur | |
| Auch die Abstimmung zum Handelsabkommen Mercosur wird zum Testfall für | |
| grünes Selbstverständnis. Der Parteitag stimmt mit knapper Mehrheit für | |
| einen Antrag, der von Habeck verlangt, das Abkommen zwischen 30 Staaten der | |
| EU und Südamerikas in einzelnen Teilen neu zu verhandeln. Zu Realpolitik | |
| gehört aber auch: Der Abschluss dieses Vertrags hängt eher vom Amtsantritt | |
| des als unberechenbar geltenden [6][neuen Präsidenten Argentiniens Javier | |
| Milei] am 10. Dezember ab. | |
| Der Parteitag verabschiedet außerdem das Wahlprogramm zur Europawahl im | |
| nächsten Jahr. Die Liste wird von der Sozialpolitikerin [7][Terry Reintke] | |
| angeführt, die seit dem vergangenen Jahr bereits Fraktionschefin der Grünen | |
| im Europäischen Parlament ist. Auf der Liste setzen sich in zahlreichen | |
| Kampfabstimmungen auffällig viele Parteilinke durch. | |
| Bevor es dann am Samstag gegen 1 Uhr nachts doch noch auf die Tanzfläche | |
| geht, unterstützen die Delegierten nach zweieinhalbstündiger ernsthafter | |
| Debatte ihre Parteispitze in der Asylfrage mit überraschend großer | |
| Mehrheit: Sie stimmen gegen den Antrag der Grünen Jugend. | |
| Die Partei einigt sich damit auf eine Asylpolitik mit Kernsätzen wie: | |
| „Steuerung, Ordnung und Rückführung gehören zur Realität eines | |
| Einwanderungslands wie Deutschland dazu. Es braucht legale und sichere Wege | |
| zu uns, jenseits einer menschenfeindlichen [8][Festung Europa] einerseits | |
| und unkontrollierter Grenzen andererseits.“ | |
| Die Parteivorsitzenden sind sichtlich erleichtert, Habecks Staatssekretärin | |
| Franziska Brantner, die im Hintergrund bei den Landesverbänden für den | |
| Antrag geworben hatte, zeigt sich zufrieden. Am Ende sei es wie immer, sagt | |
| ein anderer Grüner aus den vorderen Reihen: Wenn der Partei der Gegenwind | |
| ins Gesicht blase, dann stehe man eben zusammen. | |
| 26 Nov 2023 | |
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| Benno Stieber | |
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