# taz.de -- Propalästinensische Demonstrationen: Kritik an Hamas unerwünscht | |
> Diskussionen über das Verbot propalästinensischer Demos haben wieder | |
> zugenommen. In Essen hatten Islamisten ein Kalifat gefordert. | |
Bild: In Berlin nahmen am Samstag nach Veranstalterangaben 20.000 Menschen an e… | |
Es ist Samstagabend und schon dunkel, als Tausende Demonstrierende mit | |
Palästina-Fahnen und -Bannern auf den Potsdamer Platz in Berlin strömen, | |
dem Endpunkt ihres Protests. Und als eine Polizeisprecherin fast | |
erleichtert von einem „weitgehend friedlichen Verlauf“ der | |
propalästinenschen Demonstration spricht. Rund 9.000 Teilnehmende habe man | |
gezählt und „nur in Einzelfällen“ habe es Festnahmen gegeben. Der Tenor: … | |
hätte schlimmer kommen können. | |
Die Bilanz der Veranstaltung, zu der ein Bündnis mehrerer | |
propalästinensischer Gruppen sowie der israelkritischen Organisation | |
Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost aufgerufen hatte, | |
sieht am nächsten Tag so aus: 68 Festnahmen, dazu 36 Ermittlungsverfahren | |
wegen des Verdachts der Volksverhetzung, der Billigung von Straftaten oder | |
Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte. | |
Auch in anderen Städten gingen am Wochenende Tausende Menschen für | |
Palästina auf die Straße – und gegen Israel. In Düsseldorf waren es laut | |
Polizei rund 17.000, in Bremen, Frankfurt, Dresden oder Münster jeweils | |
mehrere Hundert. Für Aufsehen sorgte vor allem Essen, wo bereits am | |
Freitagabend Islamist*innen auf die Straße gingen und ein Kalifat | |
forderten. | |
Das sei „völlig inakzeptabel“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst | |
(CDU). Am Wochenende seien „Grenzen überschritten“ worden, fügte er hinzu. | |
Man werde „mit der ganzen Härte des Rechtsstaats“ reagieren. Der | |
CDU-Politiker Roderich Kiesewetter erklärte, auch die Bilder aus Berlin | |
zeigten „massiv Terrorunterstützung“ und Israelfeindlichkeit. „Wieso wer… | |
solche Demos nicht untersagt? Man weiß ja, wie sie enden?“ | |
Die Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic sagt der taz: „Antisemitismus, | |
Gewalt und islamistische Parolen dürfen wir in Deutschland nicht | |
tolerieren. Auch die Versammlungsfreiheit rechtfertigt diese | |
Ausschreitungen nicht.“ | |
## Skandiert wurde „Allahu akbar“ | |
Hängen blieben von diesem Wochenende vor allem die Bilder aus Essen. Schon | |
am Freitagabend waren dort laut Polizei 3.000 Protestierende auf die Straße | |
gegangen. Einige skandierten Parolen oder zeigten Plakate, die ein | |
„Khilafah“, ein Kalifat, forderten. Frauen und Kinder liefen getrennt im | |
hinteren Teil des Aufzugs. Skandiert wurde „Allahu akbar“. Die Polizei | |
konstatierte, dass der angezeigte Versammlungsgrund der Solidarität mit | |
Palästina „möglicherweise nur vorgeschoben war, um eine islamreligiöse | |
Versammlung auf Essens Straßen durchzuführen“. | |
Mitorganisiert hatte den Protest die Gruppe „Generation Islam“. Bekannt für | |
die Gruppe ist vor allem Ahmad Tamim, der in Essen auch als Redner auftrat. | |
Die Gruppe kommt aus dem Spektrum der bereits 2003 in Deutschland | |
verbotenen Hizb ut-Tahrir und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Vor | |
allem in sozialen Medien ist „Generation Islam“ sehr aktiv, zusammen mit | |
„Muslim Interaktiv“. Größere Aktionen gab es bereits in Hamburg, wo die | |
Gruppe seit drei Jahren aktiv ist und schon im Frühjahr 3.500 Anhänger auf | |
die Straße brachte, damals um gegen Koranverbrennungen zu protestieren. | |
Auch in Berlin trat Tamim zuletzt bei einer Anti-Israel-Kundgebung auf. | |
Israel wirft die „Generation Islam“ einen „Besatzungsgenozid in Palästin… | |
vor. Dagegen müssten Muslime weltweit aufstehen. „Wie lange wollen wir | |
tatenlos zusehen, wie die Kuffar (Ungläubige, Anm. d. Red.) unsere | |
Gesellschaften systematisch zerstören??“, schrieb die Gruppe zuletzt auf | |
Facebook. Ziel sei es, dass Muslime eines Tages „unter einem Kalifen wieder | |
vereint sind“. | |
Über den Aufzug am Freitag äußerte sich Essens Oberbürgermeister Thomas | |
Kufen (CDU) entsetzt. Die Bilder seien „nur schwer erträglich“. Der | |
Verfassungsschutz müsse bei den Hizb-ut-Tahrir-Nachfolgern schärfer | |
hinschauen, Verbote müssten eine Option sein. NRW-Innenminister Herbert | |
Reul (CDU) kündigte an, alles Bild- und Tonmaterial von der Demonstration | |
darauf zu prüfen, „was ansatzweise strafrechtlich relevant sein könnte“. | |
## Auflagen werden nochmal genau überprüft | |
Auflagen für künftige Versammlungen würden „nochmal genau überprüft“. | |
Verbote gegen Gruppen wie „Generation Islam“ würden von NRW „intensiv | |
unterstützt“. Zuständig aber sei Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). | |
Ihr Haus wollte sich am Sonntag auf taz-Anfrage vorerst nicht zu den | |
Protesten und möglichen Verboten äußern. Am Donnerstag hatte Faeser die | |
Hamas und deren Unterstützergruppe Samidoun in Deutschland verboten. | |
In Berlin und weiteren deutschen Städten gab es am Samstag andere Bilder | |
als jene aus Essen. In der Bundeshauptstadt hatten „Palästina Spricht“, die | |
„Palästina Kampagne“, [1][Migrantifa] und „Die Jüdische Stimme für | |
gerechten Frieden in Nahost“ mobilisiert – kein islamistisches Bündnis, | |
sondern ein linkes und migrantisches. Aber auch diese Gruppen positionieren | |
sich eindeutig. So hatte „Palästina Spricht“ das Hamas-Massaker auf Israel | |
vom 7. Oktober [2][als „revolutionären Tag“ gepriesen], auf den man „sto… | |
sein könne“. | |
Vor Ort zeigt sich neben der arabischen und muslimischen Community vor | |
allem ein junges, internationales Publikum. Kopftuch tragende Frauen mit | |
Kinderwägen laufen neben Lederjackenträger:innen und Menschen mit | |
bunt gefärbten Haaren. Dazwischen ein paar weiß-deutsche Altlinke, die | |
kommunistische Fahnen tragen, oder die „Queers for a free Palestine“. Auch | |
die Linkspartei Neukölln läuft mit einem Banner mit. Ein Mann mit | |
Palästinafahne erklimmt den Neptunbrunnen auf dem Berliner Alexanderplatz. | |
Die Organisator:innen sprechen von bis zu 20.000 Menschen. | |
Grundtenor auf der Demonstration ist, dass Israel einen Genozid an den | |
Palästinensern begehe, auch das Wort „Besatzungsterror“ ist oft zu hören. | |
„Israel bombardiert, Deutschland finanziert“, skandieren Teilnehmende. | |
Einen Mann mit „Free Gaza from Hamas“-Schild drängen Ordner:innen aus | |
der Demo. Vereinzelt wird Pyrotechnik gezündet, [3][sonst bleibt es | |
weitgehend friedlich]. | |
„Die Demo hat gezeigt, dass die Community in Berlin nicht tatenlos dabei | |
zusieht, was in Gaza passiert“, sagt Tim Smith, Pressesprecher der | |
Palästina Kampagne, der taz. Nicht wenige der Teilnehmer:innen haben | |
selbst Angehörige in Gaza. „Für mich ist die Veranstaltung sehr wichtig“, | |
sagt Teilnehmerin Sara, die ihren Nachnamen nicht nennen will, der taz. Die | |
19-Jährige Studentin sagt, sie habe Freund:innen und Verwandte in Gaza, | |
wegen der Informationssperre gebe es aber derzeit keinen Kontakt. „Ein Sohn | |
meiner Cousine hat einen Instagram-Account, immer wenn er etwas postet, | |
wissen wir, dass sie noch am Leben sind.“ | |
## Hamas wird gefeiert | |
Grautöne und differenzierte Analysen sind auf der Demo kaum zu finden. | |
Mehrheitlich ausgeblendet wird die Verantwortung der Hamas. Das Massaker, | |
bei dem die radikalislamistische Terrororganisation [4][am 7. Oktober über | |
1.400 Menschen tötete], sprechen die meisten Redner:innen nicht einmal | |
an. Genauso wenig wie das Schicksal der über 200 israelischen Geiseln, die | |
sich noch in der Gewalt der Hamas befinden. Auch Sara ist keine | |
Verurteilung der Terrororganisation abzuringen. „Die Leute feiern nicht die | |
Hamas, weil sie Leute umbringt, sondern weil sie der einzige Funken | |
Hoffnung ist, der israelischen Besatzung zu widerstehen“, erklärt sie nur. | |
„Es sind schreckliche Dinge am 7. Oktober passiert“, sagt ein jüdischer | |
Israeli, der an der Demo teilnimmt und lieber anonym bleiben will, der taz. | |
„Aber das ist gerade nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist das, was | |
Israel in Gaza macht.“ Der 37-Jährige sei erst vor vier Monaten von Tel | |
Aviv nach Berlin gezogen, weil er sich zunehmend entfremdet von seinem | |
Heimatland fühlte. Wie er sind einige jüdische Linke bei dem Protest | |
vertreten. „Es kann keine Sicherheit ohne Freiheit für alle geben“, fordert | |
eine Sprecherin der linken Gruppe Jüdischer Bund in einem Redebeitrag. | |
Unklar ist allerdings, wie dieser Weg zum Frieden aussehen soll. Nur die | |
trotzkistische Gruppe Abeiter:innenmacht äußert eine erstaunliche Idee: | |
Erst solle der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Generalstreik aufrufen und | |
sich dann einer globalen Intifada anschließen. Damit könne ein | |
sozialistisches Palästina geschaffen werden, in dem Jüdinnen*Juden und | |
Palästinenser:innen gleichberechtigt leben können. | |
Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) dankt im Nachgang der | |
Demonstration vor allem der Polizei. Diese habe „maßgeblich zum Schutz der | |
öffentlichen Sicherheit und Ordnung beigetragen“, sagte Spranger der taz. | |
Sie appellierte „nochmals an alle Menschen, die zu Versammlungen kommen, | |
sich friedlich zu verhalten, sich an die Auflagen zu halten und keine | |
Straftaten zu begehen“. Dass am Samstagabend ein Pyrotechnikwurf in | |
Berlin-Neukölln zwei Beamte und ein Kleinkind verletzte, verurteilte | |
Spranger „auf das Schärfste“. | |
Die Grüne Mihalic fordert, die Sicherheitsbehörden „gut auszustatten“, um | |
die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen. Bund und | |
Länder müssten hier finanzielle Zusagen machen. Auch müssten weitere | |
Organisationen, die den Terror der Hamas unterstützen, verboten werden – | |
etwa das Islamische Zentrum in Hamburg oder die Revolutionsgarden, so | |
Mihalic zur taz. Jörg Kopelke, der Vorsitzende der Gewerkschaft der | |
Polizei, forderte wiederum angesichts des „enormen Kräfteverschleißes“ bei | |
der Polizei keine großen Aufzüge mehr zu erlauben, sondern nur noch | |
stationäre Kundgebungen. | |
Der Zentralrat der Juden spricht von „antisemitischen, häufig offen | |
islamistischen Aufmärschen“ am Wochenende. [5][Das Samidoun-Verbot] sei | |
„wichtig“ gewesen. Nun aber müsse „den weiteren islamistischen | |
Organisationen das Handwerk gelegt werden“. Es sind vor allem die Bilder | |
aus Essen, die nachwirken. Auch bei der Kurdischen Gemeinde in Deutschland. | |
Dieser Protest stehe „sicherlich nicht für Frieden in Gaza“, erklärt dies… | |
„Sondern für einen Islamismus, den wir Kurden leider nur zu gut kennen.“ | |
5 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Migrantifa-ueber-Rassismus/!5696177 | |
[2] /Linker-Antisemitismus/!5966630 | |
[3] /Pro-Palaestinensische-Demo-in-Berlin/!5970809 | |
[4] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999 | |
[5] /Verbot-von-Hamas-und-Samidoun/!5970550 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Jonas Wahmkow | |
## TAGS | |
Palästina | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Essen | |
Kalifat | |
Hamas | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Antisemitismus | |
BDS-Movement | |
München | |
Shoa | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Israel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach dem Krieg im Nahen Osten: Die Hassdynamiken umkehren | |
Das Konzept Konfliktmanagement ist zusammengebrochen. Wie kann ein Ausweg | |
aus der Katastrophe im Nahen Osten aussehen? Eine philosophische | |
Annäherung. | |
Nahostdebatte in Deutschland: Der Hass der Insta-Islamisten | |
Durch die Eskalation in Nahost wähnen sich islamistische Extremisten in | |
Deutschland im Aufwind. Schaute die Politik ihrem Treiben zu lange zu? | |
Positionierungen zum Nahostkonflikt: Unbehagen im Gedenken | |
Einen Monat nach der Terrorattacke auf Israel scheinen die Fronten im | |
Gedenken und im Protest verhärtet. Was wäre eine breit anschlussfähige | |
Geste? | |
Jüdische Stimmen nach Demonstrationen: Wie sicher sind wir wirklich? | |
Die islamistischen Demonstrationen in Essen und Düsseldorf lösen Entsetzen | |
aus. Wie eine Jüdin und ein Jude versuchen, damit umzugehen. | |
Zensur wegen BDS-Nähe: Verbote sind hier fehl am Platz | |
Die Berliner Kulturverwaltung überlegt, einem Veranstalter die Förderung zu | |
entziehen, weil er der „Jüdischen Stimme“ Raum gibt – eine schlechte Ide… | |
Nach Kritik an Muslimrat: Friedensgebet in München abgesagt | |
Nach Kritik am Muslimrat wird ein Friedensgebet von Muslimen, Juden und | |
Christen abgesagt. Imam Idriz beklagt die „bittere Erfahrung“. | |
„Free Palestine from German Guilt“: Der Antisemitismus der Progressiven | |
Deutsche Obsession mit der Shoah blende palästinensisches Leid aus, | |
behaupten Aktivist*innen. Sie selbst dämonisieren Juden als Weiße | |
Kolonisatoren. | |
Fridays for Future im Ausnahmezustand: Klimabewegung zerrissen | |
Die Nahostdebatte heizt bestehende Konflikte um Antisemitismus und | |
Rassismus bei Fridays for Future an. Hat die Bewegung so eine Zukunft? | |
Freie Universität Berlin: Anti-israelischer Protest in Dahlem | |
Mehr als hundert Menschen demonstrieren vor der Freien Universität gegen | |
Israels Angriffe auf Gaza. Auch ein kleiner Gegenprotest formiert sich. |