Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Migrantifa über Rassismus: „Wir vertrauen der Polizei nicht“
> Bündnisse von rassismusbetroffenen Menschen protestieren gegen staatliche
> Gewalt. Auch in Berlin fordern sie, der Polizei nun Gelder zu entziehen.
Bild: Protest gegen Polizeigewalt auf dem Hermannplatz in Berlin
taz: Camila Parks*, Meryem Malik, in Minneapolis, dem Ausgangspunkt der
[1][Black-Lives-Matter-Proteste], soll die Polizeibehörde aufgelöst und neu
aufgestellt werden. Ebenso gibt es in den USA [2][die Forderung „Defund the
Police]“. Diese sieht vor, weniger Geld in eine Militarisierung der Polizei
zu stecken und stattdessen etwa in soziale Arbeit zu investieren. Sie sind
Teil der Migrantifa Berlin. Sind das für Sie auch Forderungen für
Deutschland?
Camila Parks: Erst mal muss Rassismus in Deutschland als strukturelles
Problem überhaupt anerkannt werden. In einem zweiten Schritt sollte man
überlegen, ob die Polizei, wie sie jetzt ist, nach einer ehrlichen
Aufarbeitung von Rassismus überhaupt bestehen bleiben kann. Wir würden
sagen: Nein. Rassismus und Unterdrückung sind Teil der polizeilichen
Struktur und werden dies auch bleiben.
Also lieber gleich auflösen?
Parks: Wir würden sagen: Ja, Polizei abschaffen. Sie schützt die
Bürger:innen nicht, sondern die Herrschenden und die Besitzverhältnisse.
Eine Berliner Polizeigewerkschaft stellte die Polizei im Streit um die
Kennzeichnungspflicht mal als „die [3][größte Menschenrechtsorganisation
der Stadt] dar“, die das vollste Vertrauen der Bevölkerung genießt. Für uns
als migrantisierte und rassifizierte Menschen ist das blanker Hohn.
Warum?
Parks: Wir vertrauen der Polizei nicht: Sie hat weder in
Rostock-Lichtenhagen eingegriffen, noch hat sie den NSU aufgedeckt.
Polizisten werden [4][als Reichsbürger suspendiert] und die Berliner
Polizei ist am Ende der Black-Lives-Matter-Demo gewalttätig [5][gegen
migrantisierte und schwarze Jugendliche und junge Menschen vorgegangen].
Nun, für eine Abschaffung der Polizei dürfte es derzeit keine Mehrheit
geben. Wie könnte denn zunächst das Konzept Defund the Police in
Deutschland aussehen?
Meryem Malik: Wenn wir Defund the Police im deutschen Kontext verwenden,
meinen wir damit, dass die Gelder, die in Wasserwerfer, Polizeischikane,
Polizeischulen, Ausstattung und Bürokratie fließen, stattdessen in
relevante Bereiche wie Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau umverteilt
werden sollten. Auch hier in Deutschland werden soziale Probleme mit
„carceral solutions“ – also mit Justiz und Kriminalisierung – beantwort…
So werden Obdachlosigkeit, psychische Probleme und Drogenprobleme sowie
Armut mit Polizei und Knast angegangen, was völlig nutzlose Maßnahmen sind.
Wohin sollen die Gelder gehen, wenn die Polizei [6][keine Panzer mehr
kaufen darf]?
Malik: Gerade angesichts des neuen Landesantidiskriminierungsgesetzes
(LADG) braucht es eine Ressourcenumverteilung. Wir brauchen nicht nur
neue Gesetzesgrundlagen, sondern müssen auch Verbände und Organisationen
finanzieren, die Antidiskriminierungsarbeit leisten. Erst über neue
Förderungen wäre es überhaupt möglich, zum Beispiel Verbandsklagen auf
Basis des LADG durchzuführen und damit Einzelpersonen zu entlasten. Berlins
CDU-Fraktionschef Dregger weist ja immer wieder darauf hin, dass er das
Gesetz nicht unterstütze, weil wir ja schon Gerichte hätten und alle klagen
könnten. Dabei blendet er aber völlig das gesellschaftliche Ungleichgewicht
an Macht und Ressourcen aus. Gerichtsbarkeit ist letztlich für viele
unerreichbar.
Wie geht es nach den großen antirassistischen Protesten der letzten Wochen
in der Bewegung weiter?
Parks: Nach der Polizeigewalt auf der Demo und den vielen Festnahmen geht
es jetzt erst mal um Betroffenen-Support, Vernetzungs- und Pressearbeit.
Nach der Ermordung von George Floyd wurde medial vor allem Rassismus in der
USA problematisiert. Aber es gibt auch in Deutschland seit Jahrzehnten
migrantische und antirassistische Kämpfe gegen diese Strukturen. Die werden
von Mehrheitsgesellschaft und Politik viel zu wenig beachtet.
Wo knüpfen Sie da an?
Parks: Wir führen die Kämpfe der Vergangenheit weiter. Es gibt ja bereits
viele Kampagnen und Aufklärungsversuche gegen rassistische Polizeigewalt:
Die Ermordung Oury Jallohs im Polizeigewahrsam, [7][der 2005 in seiner
Zelle verbrannte]. Halim Dener, [8][der 1994 von Polizisten erschossen
wurde]. Amad Ahmad, [9][der 2017 in seiner Zelle verbrannte].
Zur großen Black-Lives-Matter-Demo sind überwiegend junge Menschen gekommen
– und viele von ihnen haben gleich Erfahrungen mit Repression gemacht. Wie
kann es gelingen, diese Jugendlichen in ihrer Politisierung zu stärken und
trotz ihrer Repressionserfahrung sich nicht machtlos fühlen zu lassen?
Malik: Ich habe mich gefragt, ob das eine Abschreckungstechnik von der
Polizei war, aber unterstelle der Polizei da gar kein bewusstes Handeln.
Ich glaube aber, dass die Eskalation sehr viel verrät: Wir konnten
beobachten, dass die Polizei sich während der offiziellen Kundgebung
zurückgehalten hat und passiv präsent war. Es gibt sogar
Augenzeugenberichte, dass Polizist:innen sich solidarisch mit den Protesten
zeigen wollten. Aber nach der offiziellen Kundgebung ging die Polizei
plötzlich auf Kleingruppen los, die eben auch viel verletzlicher waren als
20.000 Menschen auf dem Alex.
Warum kippte die Stimmung?
Malik: Auf der Demo wurde hauptsächlich die Polizei in den USA
angeprangert. Sobald sich die Polizei mit Kritik am eigenen Fehlverhalten
in Deutschland konfrontiert sah, hat sich ihr Verhalten geändert. Die
Polizei ist höchstens solidarisch mit leisem Protest, der sie nicht direkt
in die Kritik zieht. Und in dem Moment, wo sich migrantische Jugendliche
einer Polizeimacht gegenübersahen, die sie ja seit Jahren aus ihrem
Stadtbild durch Unterdrückung ihrer Eltern, ihrer Cousins und Cousinen
kennen, ist das gekippt. Das ist überhaupt nicht überraschend.
Wie habt ihr die Reaktionen nach der Polizeigewalt wahrgenommen?
Malik: Es gab diese Schnappatmung in Presse und Polizei, die jedes Mal
losgeht, wenn es darum geht, Polizeigewalt zu rechtfertigen und
rassistische Gewalt zu problematisieren. Jungen Migrant:innen wird immer
eine latente Gewaltbereitschaft unterstellt. Viele Jugendliche, teilweise
sogar Minderjährige, wurden kriminalisiert und in die
Gefangenensammelstelle Gesa mitgenommen. Es gab Augenzeugenberichte, dass
viele weißdeutsche Jugendliche wieder gehen durften oder auch in der Gesa
weniger kriminalitätsbehaftet behandelt wurden.
Aber es gab auch Flaschenwürfe auf Polizist:innen.
Wir finden es wichtig, Gewalt immer im Kontext zu sehen. Die Jugendlichen
waren nicht vor Ort, um Stunk zu machen, sondern um gegen einen
rassistischen Status quo anzugehen und gegen staatliche Gewalt, die sich
durch Abschiebungen, Tote im Mittelmeer und Polizeigewalt manifestiert.
Gewalt ist immer eine Reaktion. In diesem Fall auf Jahrzehnte der
Unterdrückung und Gewalt, die die Leben und Erfahrungen der Familien und
der Jugendlichen selbst vom Alex geprägt haben und weiterhin prägen. Die
Frage ist nicht: Was passiert, sondern was steht dahinter? In den USA
werden Proteste und Gewalt medial als Widerstand gegen einen rassistischen
Status quo gelesen. Wenn das Gleiche hier passiert, wird es als
Linksextremismus und pure Zerstörungswut gelesen. Das verurteilen wir.
Dezidierte Migrantifas tauchten ortsübergreifend erstmals nach Hanau auf.
Warum haben sich Migrantifas zusammengefunden?
Parks: Migrantifa ist keine Institution, sondern sind bundesweit lose
Zusammenhänge, die antifaschistische Politik von Migrant:innen für
Migrant:innen machen. Nach Hanau ist das vor allem mit dem Bezug auf den
Generalstreik am 8. Mai passiert.
Malik: Für uns war es super wichtig, nach Hanau der Wut und Trauer Raum zu
geben und sie nicht in Verzweiflung abdriften zu lassen.
Warum war es notwendig, diese auch in Abgrenzung zu anderen linken
Bündnissen formen?
Malik: Klassische linke Strukturen wie auch die Antifa in Deutschland sind
mehrheitlich weiß dominiert und geben dem Kampf gegen rassistische
Unterdrückung nicht genügend Raum. Viele Migrantisierte fühlen sich auch
einfach unwohl in linken Kontexten. Dort ist es super wichtig, sich mit
Szenecodes auszukennen, politisch zu sein als Lifestyle, und es gehören
eben auch verdreckte und versoffene Kiezkneipen zum guten Ton. Wir wollen
an einem Ort sein, wo Migrant:innen sich wohlfühlen und wo jeder mitkämpfen
kann und nicht erschlagen wird von Politsprech, Manifesten und autonomer
Selbstdarstellung.
Gibt es auch inhaltliche Unterschiede?
Malik: Der große Unterschied zu weißdeutschen linken Strukturen ist, dass
wir per se durch unsere Körper politisch sind. Wir gehen raus in die Welt
und sind bereits ein Politikum. Eine weiße Person kann auch von Faschismus
betroffen sein – siehe Walter Lübcke, siehe Antifaschist:innen, die
Polizeirepression auf der Straße erfahren. Die können aber theoretisch ihr
T-Shirt ausziehen, die Meinung ändern und sind dann nicht mehr Zielscheibe.
Wir sind jederzeit Zielscheibe.
Parks: Aber natürlich haben nicht alle von uns eigene Migrationserfahrungen
gemacht. Auch sind nicht alle unsere familiären Migrationsgeschichten
vergleichbar. Aber wir haben uns trotzdem unter dem Label Migrantifa
zusammengefunden, um auf die gemeinsamen Erfahrungen mit rechtem,
rassistischem und antisemitischem Terror aufmerksam zu machen und uns zu
organisieren.
Inwiefern ist antirassistischer Protest für euch mit Kapitalismuskritik und
Systemfragen verknüpft?
Malik: Kapitalismus braucht immer Rassismus, um zu funktionieren. Da ist
Cedric Robinson mit Black Marxism schon in den 80ern drauf eingegangen. Die
Sklaverei und ihre ideologische Rechtfertigung durch Rassismus war eine
notwendige Voraussetzung für die Entwicklung moderner Industrie und die
Ausbeutung von Schwarzen, indigenen und migrantisierten Menschen und ihrer
Arbeitskraft.
Lassen sich Analysen aus den USA auf Deutschland übertragen?
Malik: Auch hier ist Rassismus eine Grundvoraussetzung des Kapitalismus.
Die Grundpfeiler eines kapitalistischen Systems sind Eigentums- und
Produktionsverhältnisse, die in Dominanzverhältnissen angeordnet sind, die
anhand des Markers „Race“ verlaufen. Dadurch werden massive ökonomische
Ungleichheiten reproduziert. In den USA und auch hier sind
Black-Lives-Matter-Kämpfe eigentlich immer mit Kapitalismuskritik
verbunden. Schwarze Aktivist:innen und Menschenrechtler:innen wie Angela
Davis schreiben seit Jahrzehnten Systemkritik.
Was folgt daraus?
Malik: Uns geht es darum, eine soziale Ordnung zu hinterfragen, in der
Gefängnisse, Sweatshops (Ausbeutungsbetriebe in Entwicklungsländern – Anm
d. Red.) und Flüchtlingscamps völliger Allgemeinplatz und normal sind.
Gleichzeitig gilt die Idee, Gefängnisse und den Kapitalismus abzuschaffen,
als utopische Spinnerei. Das müssen wir ändern. Wir müssen sagen: Hey,
lasst uns das doch noch mal neu denken.
23 Jun 2020
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Polizeigewalt-und-Rassismus/!t5008089/
[2] /Struktureller-Rassismus-bei-der-Polizei/!5688344
[3] https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/transparente-polizeiarbei…
[4] https://www.sueddeutsche.de/bayern/kriminalitaet-67-polizisten-sind-vom-die…
[5] /Proteste-gegen-Rassismus-in-Berlin/!5688131
[6] https://netzpolitik.org/2020/klage-gegen-geheimhaltung-von-polizeipanzern/
[7] /Neue-Erkenntnisse-im-Fall-Oury-Jalloh/!5636402
[8] /Tod-in-Hannover/!5603420
[9] /Fluechtling-verbrannte-im-Gefaengnis-Kleve/!5688720
## AUTOREN
Gareth Joswig
## TAGS
Migrantifa
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Antirassismus
Racial Profiling
Kurden
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Notunterkunft
Schwerpunkt Debatte über Kolumne in der taz
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Lesestück Recherche und Reportage
Black Lives Matter
Black Lives Matter
Soziale Bewegungen
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
## ARTIKEL ZUM THEMA
Polizeiopfer Halim Dener: Ein kleines bisschen Erinnerung
Lange schon wird in Hannover um das Gedenken an den erschossenen Halim
Dener gerungen. In einem Jahr, zum 30. Todestag, soll es eine Infotafel
geben.
Debatte um Abschaffung der Polizei: Lieber solidarisch leben
Die Forderung nach einer Welt ohne Polizei richtet sich gar nicht primär
gegen Uniformierte. Sie ist eine Utopie verantwortungsvoller Gemeinschaft.
Schadstoffe in Obdachlosenunterkunft: Gleichgültige Behörden
Schon vor der Eröffnung einer Notunterkunft in Hannover wusste die Stadt
von erhöhten Schadstoffwerten im Boden. Dort lebten vor allem Kinder.
Beschwiegene Polizeigewalt: Nach dieser Nacht
Eine russlanddeutsche Familie ist überzeugt: In den Neunzigern hat die
Polizei einen von ihnen misshandelt. Warum hat sich niemand gewehrt?
Racial Profiling bei den Behörden: „Das Selbstbild der Polizei hat Risse“
Bei den Sicherheitsbeamten regiert oft ein Dominanzgefühl, sagt der
Soziologe Rafael Behr. Er spricht sich für unabhängige Beschwerdestellen
aus.
Polizeigewalt in Hamburg: Ein Irrtum mit Folgen
Der Altenpfleger John H. ist grundlos ins Visier von Hamburger
Zivilfahndern geraten. Die Folgen der Verletzungen begleiten ihn bis heute.
Polizeifreie Zone in Seattle: Kurzer Frieden
AktivistInnen haben in der US-Metropole Seattle eine „Autonome Zone“ ohne
Polizei ausgerufen. Zunächst lief es friedlich, doch dann fielen Schüsse.
Black Lives Matter in Berlin: Polizei verhinderte Laufdemo
Zehntausenden Protestierenden wurde mangelnder Infektionsschutz
vorgeworfen. Dabei verhinderte wohl auch die Polizei eine Entzerrung der
Situation.
Black-Lives-Matter-Demo in Berlin: Schweigen ist Silber, Handeln Gold
Bewährungsprobe für Antidiskriminierungsgesetz: Nach der Demo gegen
Polizeigewalt fordern Aktivist:innen politische und rechtliche
Konsequenzen.
Kontinuität rechte Gewalt: „Weil Faschismus nicht Geschichte ist“
In Erinnerung an den Terroranschlag in Hanau rufen migrantische
Selbstorganisationen für Freitag zum „Tag des Zorns“ auf. Rechte Angriffe
dauern an.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.