# taz.de -- Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn: Säure aufs Fundament der… | |
> Kunst der Postmoderne wirkt wie aus einer fremden Ära. Die Ausstellung | |
> „Alles auf einmal“ aber zeigt: Ihre gesellschaftlichen Anliegen sind | |
> aktuell. | |
Bild: Auch im Bett der Postmoderne gibt es viele Kämpfe: Masanori Umeda, Tawar… | |
Kein Jubiläum, auch kein Revival in Sicht, warum also heute eine | |
Ausstellung zur Postmoderne? Anregend, vielleicht einsichtsreich mag der | |
jetzige Zeitpunkt dafür sein, wo er den einen Erinnerung, den anderen | |
Einblick in eine längst befremdlich gewordene Ästhetik bedeutet. Aber | |
verdient die Postmoderne überhaupt den Begriff der Epoche, war sie nicht | |
eher eine Mode? | |
Derart schlecht beleumundet, erstaunt, wie einflussreich die Postmoderne | |
für die Kunst war. Die so unmittelbaren wie zitatreichen Arbeiten der | |
amerikanischen [1][Pictures Generation, etwa von Cindy Sherman oder Robert | |
Longo], die Adaption der Graffitikunst bei [2][Jean-Michel Basquiat oder | |
Keith Haring], auch die undogmatische Produktivität von Gerhard Richter | |
oder Rosemarie Trockel generierten einen bis heute andauernden Boom. | |
Und doch ist es richtig, wenn die Kuratoren von [3][„Alles auf einmal: Die | |
Postmoderne, 1967 – 1992“], Eva Kraus und Kolja Reichert, der Galeriekunst | |
eher wenig Platz einräumen und die Ausstellung in der Bonner Kunsthalle mit | |
einer Projektionswand für Musikvideos beginnen lassen. | |
In der Postmoderne war es nicht mehr zu verleugnen: Die technisch | |
reproduzierbare, elektrifizierte Musik sowie der Film durchdrangen nahezu | |
alle Bereiche der Kultur, sie schufen Realität. | |
## Überquellendes Phantasma | |
So betritt man auch durch die Leinwand hindurch den zentralen | |
Ausstellungsraum. Umgehend wähnt man sich in einem überquellenden | |
Phantasma. Ästhetische Konzepte aus Pastelltönen wetteifern mit solchen in | |
Primärfarben, derweil setzt farbiges Neonlicht Akzente. Wände mit | |
großformatigen Fotografien und als überdimensionierter Buchumschlag | |
getarnte Hörkabinen verstellen die Sicht auf exzentrisch gestaltete Möbel. | |
Hier locken Architekturmodelle augenfälliger Bauten, in denen antike | |
Säulenportale aus modernen Grundformen wuchern, dort verblüfft ein | |
keilförmig-futuristisches Auto auf einer gemalten Straße, und an Pfeilern | |
finden sich in Überkopfhöhe montierte Modefotografien, deren coole Models | |
sich vom Betrachter abwenden. Tatsächlich, alles auf einmal! | |
Ist es das Abbild jener Ära, was bedingt dann dieses Chaos? Beim Anblick | |
der ersten Werke scheint es, als geriete die Moderne höchstens ein bisschen | |
ins Wanken. Eine vier Meter hohe vergoldete und für die Ausstellung | |
nachgebildete TV-Antenne, die Architekt Robert Venturi 1963 auf dem Dach | |
eines Altenheims in Philadelphia platzierte, was soll sie bieten, | |
verglichen mit dem Ausloten aller formalen Grenzen in der Moderne? Ihr | |
Regelbruch war nicht allein die Kenntlichmachung des Massenmediums | |
Fernsehen, es war das Überdimensionierte, das Schmückende. | |
Im Jahr darauf fragen Elaine Sturtevants Kunstwerke nach dem Authentischen, | |
sind sie doch exakte Kopien von Warhols und Lichtensteins Pop-Art, das | |
Simulacrum bemächtigt sich der Kunst. Zeitgleich, 1964, erhält Martin | |
Luther King den Nobelpreis. | |
## Neue Phase der Identitätspolitik | |
Unterdrückte Gruppen weltweit sind nicht mehr bereit abzuwarten, bis die | |
paternale Moderne ihre Versprechen einlöst. Eine neue Phase der | |
Identitätspolitik bricht an, geprägt durch theoretische Texte von Michel | |
Foucault oder [4][bell hooks]. Erstmals massiv erklingen auch Fragen nach | |
dem Raubbau des Industriezeitalters an der Natur. Säure auf das Fundament | |
der Moderne. | |
Bald boomt dekonstruktivistische oder ornamentverliebte Architektur. Auf | |
Fotos, Zeichnungen oder Modellen sind Hans Holleins „Verkehrsbüro“ mit | |
goldenen Palmen und Pavillon zu sehen, Ricardo Bofills Wohnungsbaukoloss | |
„Espaces d’Abraxas“, ein „Versailles für das Volk“ in einer Pariser | |
Banlieue mit labyrinthischen Gängen und Formenzitaten aller Bauepochen oder | |
James Wines Zweckbauten, deren Fassade sich briefmarkengleich abzulösen | |
scheint. Sie bilden das Rückgrat der Ausstellung, die Gebäude und der Traum | |
von ihnen. | |
Letzterer führt zu phantastischen Skizzen des italienischen Designers | |
Ettore Sottsass. In „The Planet as a Festival“ imaginiert er die | |
Architektur für eine ewige Party. | |
Doch der Stein des Anstoßes, den Sottsass, Alessandro Mendini und andere | |
Designer der Gruppen Alchimia und Memphis legten, manifestierte sich in | |
kleineren Objekten: ein Rokokosessel in Neonfarben, eine Tischleuchte | |
gleich einem kubistisch abstrahierten Vogel. Nichts repräsentiert die | |
Postmoderne in all ihrem Potenzial so wie das italienische Design der 70er | |
und 80er. Dies wird in Bonn gut dokumentiert. Dennoch bleibt Italiens | |
Bedeutung unterrepräsentiert. | |
## Lagerfeld und Westwood | |
Heute von der aktuellen Kultur vergessen, erfanden dort Künstler neue | |
figurative Malerei, Comics, Literatur und Mode. Leider wird die von Walter | |
Albini in den 70ern inszenierte Rückkehr der italienischen Couture und der | |
weltweit prägende Paninaro Streetstyle bei der Auswahl der gezeigten | |
Kleider nur gestreift. Zu sehen ist dafür der Boom japanischer Avantgarde | |
sowie die aufregenden Innovationen Lagerfelds und Westwoods. Ja, bei allem | |
Umfang bleibt es eine Ausstellung der Spotlichter. | |
Der Club als Ort der Freiheit erhält einen Raum, an seinen Wänden Fotos vom | |
New Yorker „Studio 54“, dem „Palladium“ und dem Londoner „Blitz“, O… | |
exzentrischen „New Romantics“. Hier erlebt die Postmoderne heute ihre | |
massivste Ablehnung (und im Stillen ihre Verführungskraft): in der Idee | |
dekadent gekleideter Menschen, die das Leben feiern und sich mit Objekten | |
umgeben, die ihre Funktionalität verleugnen. | |
Wer diese Menschen waren? Oft Arbeitslose, Übriggebliebene einer | |
niedergegangenen britischen Industrie. Die auf einem der Fotos zu sehende | |
Londoner Band Spandau Ballet formulierte es so: „Wenn du keinen Stammbaum | |
hast, dann hast du das, worin du erscheinst: Du hast deine Kleidung.“ | |
In der Ausstellung kontrastieren einander politischer Aufbruch und | |
Ernüchterung über die Versprechungen an eine soziale Welt. Man findet die | |
Suche nach Teilhabe wie zugleich die Verweigerung, den zugedachten, | |
soziokulturellen Klischees zu entsprechen, ja überhaupt benennbar zu sein. | |
Nichts ist festlegbar, Subjekt wie auch Objekt entsagen im spielerischen | |
Ornament der Fremdbestimmung. | |
## Stilidee des „Hyper-Manierismus“ | |
Kann das als Epoche gelten? – Die postmoderne Malerei Italiens spielte um | |
1985 mit der Stilidee des „Hyper-Manierismus“. Und auch die Theorie | |
versuchte sich an jener drastischen Kunst des Manierismus, die auf die | |
Hochrenaissance folgte und deren Gesetzen der Klassik widersprach. Geradezu | |
aufgebracht fragte 1995 der Buchtitel des Kunsthistorikers Stefan Grundmann | |
„Moderne, Postmoderne – und nun Barock?“ Der von ihm allein stilistisch | |
analysierte Manierismus bleibt bis heute rätselhaft. | |
Wie kam es um 1520 zu den überstreckten Gliedmaßen in den Bildern | |
Parmigianinos und den artifiziellen Farben bei Domenico Beccafumi? Einige | |
deuten diese Kunst als strukturelle Konsequenz aus der Perfektion | |
Michelangelos. Ein Endpunkt war erreicht, es bedurfte, allein aus | |
ökonomischer Perspektive, neuer Stile – so auch in den 1960ern? | |
Andere verweisen auf den Schock der Reformation, auf die Plünderung Roms | |
durch Söldner Kaiser Karls V. anno 1527 und sehen im gespreizten Schick des | |
Manierismus ein Echo auf das Ende ewig gültig geglaubter Überzeugungen. | |
Wieder andere wie Gustav René Hocke erkennen in seinem artifiziellen und | |
labyrinthischen Zweifel das moderne Ich. | |
## Perspektiven, Dekonstruktionen, Antithesen | |
Vielleicht war es all das. Die Postmoderne, sich Ideal und Konsens | |
verweigernd, gab der Moderne in einem Crescendo aus neuen Perspektiven, | |
Dekonstruktionen, Antithesen und den Forderungen des Ich nach persönlicher | |
Freiheit einen Abschluss. | |
Ob die Postmoderne auf Katastrophen reagierte? – Der aus der Typografie von | |
Robert Indianas berühmten „LOVE“-Logo geformte [5][„AIDS“-Schriftzug d… | |
Künstlergruppe General Idea] füllt die letzten Ausstellungswände. Man wird | |
wieder jener beklemmenden Zeit gewahr, in der die Diagnose einer | |
HIV-Infekion ein Todesurteil bedeutete. Ihre Erinnerung verliert sich – | |
derweil zur Musik jener Tage immer noch getanzt wird. Die kulturelle | |
Ideenflut ebbte bereits in den 90ern ab. | |
Heute wirken Objekte der Postmoderne wie aus einer fremden, exaltierten | |
Zeit. Ihre gesellschaftstheoretischen Anliegen beschäftigen uns aber mehr | |
denn je. Ist sie also gar nicht vorbei? Gegen Ende der Ausstellung tauchen | |
die Musikvideos wieder auf. Für seinen Clip zu New Orders „Bizarre Love | |
Triangle“ greift Robert Longo 1987 seine Zeichnungen von wie erschossen | |
fallenden Businessanzugträgern auf. Hier nun stürzen sie durch die Luft. | |
Wann endete die Postmoderne? Vielleicht seit Longos Motiv von den | |
stürzenden Anzugträgern nicht mehr nur antikapitalistische Plattitüde ist, | |
sondern auch das Entsetzen der Bilder vom 11. September 2001 wachruft, als | |
Menschen von den New Yorker Twin Towers springen mussten. | |
Stefan Grundmanns Befürchtung traf vielleicht ein, nun sind wir im Barock, | |
mit seinen Kriegen, Verwerfungen und seinem Ringen um ein neues | |
Miteinander. | |
9 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Louise-Lawler-Ausstellung-in-Wien/!5562434 | |
[2] /Kunst-zwischen-Aids-und-Aktivismus/!5708990 | |
[3] https://www.bundeskunsthalle.de/postmoderne.html | |
[4] /Nachruf-auf-bell-hooks/!5818801 | |
[5] /Ausstellung-ueber-Kuenstleraktivisten-Trio/!5959262 | |
## AUTOREN | |
Oliver Tepel | |
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