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# taz.de -- 40 Jahre „Spiel“-Messe: Die beste Art von Eskapismus
> Die „Spiel“ ist ein Kokon der Freude und des Humors. Unsere Autorin hat
> die weltweit größte Brettspielmesse in Essen besucht.
Bild: Spielneuheit auf der Messe Spiel'23 in Essen
Eine Frau, die Scrabble-Steine als Ohrringe trägt, ist die erste Person,
die ich bei Ankommen auf der „SPIEL“ in Essen sehe. Die weltweit größte
Brettspielmesse feiert dieses Jahr 40. Geburtstag und darf an diesem
Oktoberwochenende erneut mit einem begeisterten Publikumsansturm rechnen.
2019 war mit 209.000 Besucher:innen ein Rekordhoch erreicht, nach einem
Coronaknick waren es letztes Jahr immer noch 147.000 Spielbegeisterte aus
über 100 Ländern. Fast 1.000 Aussteller:innen aus mehr als 50 Nationen
sind diesmal vertreten. Noch nie habe ich eine solche Menge an Menschen
ohne jede Ungeduld oder Gereiztheit erlebt. Die „SPIEL“ ist so etwas wie
ein Kokon der Freude und des Humors.
Die Hallen sind besiedelt mit Tischen und Stühlen, und wo auch immer ein
Plätzchen leer wird, geht das Spielen los, und zwar beliebig lange. Niemand
drängelt, da niemand besser als andere Spielbegeisterte versteht, dass es
erst nach der zweiten Runde richtig Spaß macht. Die professionellen
Spieleerklärer:innen (wie wird man das und warum kam das nie in der
Berufsberatung vor?) verteilen routiniert Karten, erläutern genau in der
richtigen Reihenfolge alles, was man wissen muss, und geleiten so elegant
ins Spiel wie Gutenachtgeschichten in den Schlaf.
Jetzt versteh ich, warum an Heiligabend niemand mehr das neue Spiel
ausprobieren will, wenn ein Familienmitglied sich nach zwei Gläsern
Rotwein durch die Anleitung kämpft und dann versucht, alles schlüssig zu
erklären („Dann lies die Anleitung nächstes Mal selbst, ich weiß es doch
auch nicht“). Ob man diese Menschen auch stundenweise für private Zwecke
buchen kann? Das nächste Weihnachtsfest wäre gerettet.
## Emissionsreduzierung auf dem Spielbrett
Einige zeitgenössische Einfärbungen sind auch in der Spielewelt zu
erkennen. In „e-Mission“ muss die Klimakatastrophe durch
Emissionsreduzierung aufgehalten werden; bei „Bioviva“, seit 1996
Hersteller von plastikfrei produzierten Spielen, die das Umweltbewusstsein
von Kindern schärfen, kann eine Zero-Waste-Familie organisiert und ein
Strand aufgeräumt werden.
Die überwiegende Mehrzahl der Spiele kreiert allerdings die beste Art von
Eskapismus: Es gibt Settings im antiken Rom, in der Renaissance-Epoche, im
New York der 1890er, in fantastischen Welten mit Fabelwesen in Pastell, in
denen nicht schon wieder die Probleme von heute gelöst werden müssen.
Der Trost, den Spielen bietet, und die Konzentration, die es fordert, sind
mit nichts zu vergleichen. Man versinkt, nicht aber allein wie beim Lesen,
sondern gemeinschaftlich. Man kommt sich näher, nicht aber auf direktem
Wege wie im Gespräch, sondern in schützenden Rollen.
Das Bedürfnis nach haptischem Spielequipment entgegen allen multimedialen
Optionen wachse ebenso weiter wie der Wunsch nach kooperativem Spielen,
bestätigen Mitarbeitende. Besonders Familienspiele, die erschöpfte Eltern
nicht nur halbherzig ertragen, sondern mit ihren Kindern zusammen genießen
können, seien ein Novum mit neuer Perspektive. Überhaupt sind mir in sechs
Stunden viele Kinder, aber keines mit schlechter Laune begegnet. Das
Spiele-Gen scheint dominant vererbt zu werden.
Irgendwann im Leben muss man sich entscheiden, zu welcher Gruppe von
Menschen man gehören möchte: Menschen, die immer Pflaster bei sich tragen,
Menschen, die Kürbis mit Schale kochen, Menschen, die Marmelade im
Kühlschrank aufbewahren. Ich habe mich entschieden und werde nun zu den
Menschen gehören, die jährlich zur „SPIEL“ fahren, der einzigen Messe, bei
der das Nachhausekommen besonders schön ist: Dann geht das Spielen der
neuen Entdeckungen erst richtig los. Ohrringe mit den Rohstoffen von
Siedler habe ich übrigens leider nicht gefunden.
9 Oct 2023
## AUTOREN
Marie-Sofia Trautmann
## TAGS
Spiele
Messe
Brettspiel
Kolumne Großraumdisco
wochentaz
Nachhaltigkeit
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