# taz.de -- Die Wahrheit: Klamm, klammer, am klammsten | |
> Das einstige Wirtschaftswunderland Deutschland ist nicht mal mehr im | |
> Traum, sondern nur noch in einem Themenpark zu retten. | |
Brigitte Brettmann ächzt und stöhnt. Eben noch hat sie den letzten | |
Klappstuhl aus deutscher Hartschalenproduktion auf die rutschige und | |
abschüssige Freilichtbühne geschleppt. Jetzt seufzt sie: „Deutschland ist | |
krank, aber das war nicht immer so!“ | |
Die korpulente Endsechzigerin ist Betreiberin des „Café zur fröhlichen | |
Gesinnung“ und derzeit alles andere als fröhlich. „Früher gab es ja immer | |
noch einen Arzt für das kranke Deutschland, da gab es Kohl, und, wie hieß | |
der noch, der Norbert Blüm, dieser kleine Arbeitsminister mit der kleinen | |
Brille.“ Brettmann wischt die schwarzrotgoldenen Plastiktischdecken akurat | |
ab, dann schreibt sie „Napfkuchen mit Sahne und Pott Kaffee“ auf eine Tafel | |
und darunter „24,80€! Nur in bar!“. | |
Aber jetzt sei alles kaputt in und um Deutschland, wegen Inflation und | |
Habeck und so, „und wissen Sie noch, was der Blüm damals in den Achtzigern | |
hat plakatieren lassen: ‚Denn eins ist sicher: Die Rente.‘ Da kann ich doch | |
heute nur lachen.“ | |
Brettmann lacht nicht, dafür kramt sie aus ihrem voluminösen, | |
schrankartigen Hausanzug einen riesigen Bund Schlüssel. Sie winkt uns | |
verschwörerisch heran. „Jetzt zeige ich Ihnen mal, wo Deutschland noch | |
funktioniert wie eh und je, wie einst und wie früher! Kommen Sie, staunen | |
Sie!“ | |
Behände wirft sie uns eine unförmige Schlafmütze über. Wenige Meter später | |
herrscht Brettmann uns am Echtholzeingang mit schwerer Laminattür an: | |
„Schuhe aus!“ In klobigen Filzhausschuhen dürfen wir schließlich „Die B… | |
betreten. Im gleichlautenden Themenpark ist an diesem sonnigen | |
Freitagnachmittag bereits mächtig was los. Erst aber müssen wir bei der | |
eigentlich vor rund 20 Jahren verstorbenen, doch hier wieder auferstandenen | |
Volksmimin Inge Meysel an der „Spardose“ unseren Eintritt bezahlen. | |
## Getränke- und Verzehrgutscheine in Mark | |
„Männer hier rechts entlang, die blechen bei Fips Asmussen“, feixt Brigitte | |
Brettmann. Wir zahlen bei Inge Meysel die 15 Euro Eintritt für den | |
Themenpark „Die BRD“, dafür bekommen wir Getränke- und Verzehrgutscheine … | |
Höhe von „24 Mark und 80 Pfennige“ ausgehändigt. Derart wehrhaft | |
ausgerüstet, starten wir unsere Expedition ins satte Westdeutschland. | |
Natürlich rezessions- sowie komplett problemfrei und „mit funktionierenden | |
Ampeln ohne Ampelmännchen“, wie uns Brettmann stolz wie Bolle erklärt. | |
Richtig: Vor jeder Attraktion hier im Themenpark „Die BRD“ müssen wir an | |
der Ampel warten, bis sie auf Grün springt. „Das echte Grün, nicht das Grün | |
von dieser Habeck-Partei“, ruft ein bierbäuchiger Mann, der nur mit weißen | |
Socken, Kunstledersandalen und einem klappbaren Tischgrill bekleidet ist. | |
Brigitte Brettmann reckt den Daumen nach oben. | |
Wir holen uns zum Ankommen erstmal eine „Fanta von früher“, wie eine | |
Schiefertafel verrät, zahlen 1 Mark 40 dafür und geben 10 Pfennig | |
Trinkgeld. Gut, dass wir dabei nicht ins Schwitzen kommen, wie auch, wir | |
stehen hier im Themenpark „Die BRD“ und vor den hessischen Toren von Kassel | |
im Schatten einer riesigen Helmut-Kohl-Statue zum Drumherumgehen und zum | |
Anfassen. Material: „156.976 Kilo Pfälzer Saumagen“, wie uns eine mächtige | |
Plakette am Fuße des ehemaligen „Kanzler der deutschen Einheit und Ehemann | |
von Hannelore Kohl“ verrät. Verschraubt ist die „17 Meter 45“ hohe | |
Kohl-Statue mit „43.596 Pfälzer Bratwürsten“, ihr Gesamtumfang beträgt m… | |
als 37 Kubikmeter Kohl. | |
Im fußläufigen Bereich des Altkanzlers sind überall an ihm kleine bunte | |
Vorhängeschlösser angebracht. Liebesschlössern gleich, sind auf ihnen | |
Huldigungen eingraviert, Neckereien und Nettigkeiten für das „politische | |
Schwergewicht“, wie es auf einem Schloss vermerkt ist. „Kohl war klasse!“, | |
steht auf einem schwarzen Schloss, „Mehr davon! auf einem anderen – und auf | |
einem dritten sogar „Gorbi, ich will ein Kind von dir!“. Sachen gibts. | |
Brigitte Brettmann zieht uns ungeduldig weiter. „Kennen Sie schon die | |
sieben Brücken?“ Uns fällt nichts mehr als der Songtitel des Altbarden | |
Peter Maffay „Über sieben Brücken musst du gehn“ ein, und tatsächlich: H… | |
im Themenpark „Die BRD“ sind die sieben Brücken des Maffay authentisch | |
nachgebaut. Ein Wunder! „Manchmal greift man nach der ganzen Welt / | |
Manchmal meint man dass der Glücksstern fällt / Manchmal nimmt man wo man | |
lieber gibt / Manchmal hasst man das was man doch liebt“, trällert es das | |
erhabene Trottoir entlang. Als wir an der sechsten Vollpfostenbrücke | |
anlangen, wummert es in ganzer Lautstärke: „Über sieben Brücken musst du | |
gehen / Sieben dunkle Jahre überstehn / Sieben Mal wirst du die Asche sein | |
/Aber einmal auch der helle Schein“. Magisch! Das ist sie, die neue Losung | |
für das aktuell darniederliegende Gesamtdeutschland! Oder etwa nicht? | |
Kurzfristig macht sich Ernüchterung bei uns breit. Leider ist das | |
„BRD-Eisenbähnchen“, das durch den Themenpark zuckelt, uns just vor der | |
Nase davongefahren – hier, an der siebten Brücke des Maffay. Das nächste | |
„BRD-Eisenbähnchen“, so entnehmen wir dem schlecht fotokopierten | |
Fahrplanaushang, wird uns erst wieder in vier Stunden aufsammeln können. | |
Uns durchzuckt ein Déjà-Vu, die Bahn war also auch schon im alten, so | |
wunderbaren Westdeutschland ein Desaster! | |
Davon lassen wir uns aber in „Die BRD“ nicht beirren. Und so machen wir uns | |
in Hausschuhen, mit Fanta und Brigitte Brettmann bewaffnet, weiter zu Fuß | |
auf die Suche nach dem alten und neuen deutschen Wirtschafts- und | |
Gesellschaftswunder. Lässig laufen wir an der nächsten Themenparkecke auf | |
einem keck abgestellten grünen Laufband „Modell Joschka Fischer“ einen | |
kurzen Lauf zu uns selbst. | |
Da der aber völlig ergebnislos bleibt, strunckeln wir weiter in Richtung | |
eines hohen und gelben Wagens, auf dem uns ein pappnasiger Aufsteller des | |
hochprozentigen Liberalen Walter Scheel frohgemut und laut singend zuwinkt. | |
„Hoch auf dem gelben Wagen / Sitz ich beim Schwager vorn / Vorwärts die | |
Rosse traben /Lustig schmettert das Horn / Felder, Wiesen und Auen / | |
Leuchtendes Ährengold / Ich möchte so gern noch schauen / Aber der Wagen | |
der rollt“. | |
Brigitte Brettmann klopft sich und uns auf die breiten Schultern. „Bingo, | |
der Wagen, der rollt, das ist es!“ Wir fahren jäh hoch, unser Rotorwecker | |
aus den 1980er-Jahren reißt uns aus traumhaftem Schlaf. Dass am deutschen | |
Auto Deutschland und die Welt genesen soll, glauben wir einfach nicht. Auch | |
dann nicht, wenn die Idee im Themenpark „Die BRD“ entstanden ist. | |
16 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
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