# taz.de -- Die Wahrheit: Auf der Walz mit Jacke wie Hose | |
> Das Konsumklima in Deutschland ist derzeit so frostig wie hochtourig. Was | |
> geht? Eine Begegnung mit Trendforscherin Agneta „The Algorythm“ Maroni. | |
Es grenzt an ein Wunder. Agneta „The Algorythm“ Maroni hat Zeit für uns auf | |
ihrer Timeline, ihrer Zeitleiste. Ganz analog im Hier und Jetzt ist sie mit | |
Rat und Tat für uns da. Wir treffen uns auf ein Helles und ein halbes Hendl | |
im ehemaligen Wienerwald-Restaurant an der Schleißheimerstraße 470 in | |
München-Nord. | |
„‚Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald‘“ – Agnet… | |
Algorythm“ Maroni weiß nicht, wovon sie spricht, doch ist sie 23 Jahre alt | |
und ausgewiesene Trendforscherin auf Tic Tac. Wir wollen von ihr wissen, | |
wohin die Reise auf dem Planeten Konsum geht. Gerade jetzt in dieser | |
holprigen Zeit (Krieg vor der Haustür, Lieferkettenchaos und Ampelausfälle) | |
ist es wichtig zu wissen: Kann ich noch shoppen, und wenn ja: Wie viel und | |
was? | |
Lange Handschuhe zum Beispiel. Die sind, und das hat nicht das weltweit | |
agierende Nürnberger Marktforschungsinstitut GfK durch Telefonkette | |
abgefragt, sondern das Geldverschick-Serviceinstitut Klarna jüngst digital | |
ermittelt: Also lange Handschuhe sind im September 2022 im Vergleich zum | |
gleichen Monat 2021 um 1.398 Prozent mehr gekauft worden. Heißa! | |
## 615 Prozent mehr Korsetts verkauft | |
„Was sagen Sie dazu, Agneta ‚The Algorythm‘ Maroni?“, fragen wir nach | |
unserem zweiten Hellen. „Ja, das stimmt“, sagt die „Trend Mistress“, so | |
steht es zumindest auf ihrer digitalen Visitenkarte. Die 1.398 Prozent | |
Steigerung hingen mit dem „Toptrend Regencycore“ zusammen. „Die Käuferin… | |
und Käufer setzen auf die königlich viktorianische Zeit, wie sie in der | |
Netflixserie ‚Bridgerton‘ gegeben wird.“ Deshalb sind wohl auch | |
vergleichsweise „615 Prozent mehr Korsetts im April 2022“ von schlecht | |
bezahlten Lieferdienstfahrern durch Deutschland gekarrt worden. | |
„Ja, true.“ Maroni nickt mit ihrer güldenen Mähne. „Auch Tiaras, also d… | |
Krönchen, Sie wissen schon, also die sind zu 145 Prozent mehr umgesetzt | |
worden.“ Wir nicken mit dem Kopf, uns ist noch nie ein Zacken aus unserer | |
Tiara gefallen. Auch jetzt nicht in unser bereits drittes Helles. Wir | |
denken nach. Tic Tac ist das nicht das auf dem Handy mit den schnellen | |
Schnitten? Agneta „The Algorythm“ Maroni lacht glockenhell. „No, das ist | |
TikTok, you are so sweet.“ Wir bedanken uns, das Hendl wird langsam kalt. | |
## Marketingjuwel und neunmal klüger als der Durchschnitt | |
Elon Musk habe der Firma Ferrero, der Tic Tac gehört, „übrigens ein | |
absolutes Marketingjuwel“, so Maroni, bei der nach eigenen Angaben ein | |
Intelligenzquotient von „neunmal klüger als der weltweite Durchschnitt“ | |
vorliegt, „also, Musk hat in der Aufregung um seine Twitter-Übernahme den | |
Ferreros ratzfatz ihr Tic Tac abgeluchst“. | |
Maroni schiebt jetzt ihre viereckige Retrosonnenbrille in ihre Lockenmähne, | |
die mit 3D-Werbebotschaften im Afrolook geschmückt ist. „Tic Tac wird die | |
kommende Medienplattform für Konsum, Nachrichten, Stil und Stilettos | |
werden, darauf können Sie einen lassen.“ Wir entschuldigen uns | |
pflichtschuldig für den kleinen Bierfurz, obwohl er gar nicht von uns kam. | |
„Wussten Sie eigentlich, dass Tüllkleider zu 2.064 Prozent mehr dieses Jahr | |
geordert wurden im Netz?“ Nein, das wussten wir nicht und sagen das auch | |
Maroni. Sie lächelt vielsagend. „Das dachte ich mir, aber ich erkläre ihnen | |
gern, woher diese voll krasse Umsatzsteigerung kommt.“ Aus ihrem | |
Vintage-Müllbeutel zieht sie eine verschlissene Barbie-Figur heraus und | |
stellt sie auf den ehemaligen Wienerwaldtisch. Wir lächeln, weil wir | |
Memorys haben an beseelte Barbiepuppenspielnachmittage einst zu Hause. | |
## Erkennungsmelodie „Derrick“ | |
„Es ist so“, Maronis Klapphandy („Wir von der Generation Z fahren mega auf | |
solche Retroteile ab“) läutet jetzt, Erkennungsmelodie „Derrick“. Horst | |
Tappert erscheint vor unserem inneren Auge. Maroni buchstabiert mal eben | |
langsam ins Handy hinein: „A wie Artgerecht, R wie Rostbratwurst, S wie | |
Sarg, C wie Zeh und H wie Hose“, dann legt sie auf und verdreht kurz die | |
Augen. „Wo waren wir stehengeblieben?“, fragt die gebürtige | |
deutsch-norwegische Chilenin, „ach ja, der neue Barbie-Film. That’s why so | |
viel mehr Tüllkleider gekauft werden, nämlich 2.064 Prozent.“ | |
Dabei kommt Barbie ja erst 2023 in die Kinos, das wissen wir genau. | |
„Genau“, bestätigt Maroni, „doch Hyperfeminity ist jetzt schon der Runne… | |
darauf können Sie auch einen lassen. Yes.“ Diesmal entschuldigen wir uns | |
aber nicht für den kleinen Bierfurz, der im Raum steht. „Pinke Ballerinas | |
liefen übrigens zu 640 Prozent mehr im April 2022, you know?“ Wir nicken | |
und stellen uns vor, wie 640 Prozent mehr pinkfarbene Ballerinas seit dem | |
letzten Frühjahr in Deutschland unterwegs waren. | |
Als Agneta „The Algorythm“ Maroni noch ein Hendl vom Fass für sich | |
nachordert, ergreifen wir die Gelegenheit und wollen von ihr wissen, wie | |
sie zu diesem ungewöhnlichen Namen kam, der ja auch in der Mitte noch | |
„falsch geschrieben“ ist. Denn „The Algorythm“ buchstabiere man doch | |
entweder „The Algorithm“ oder „The Algorhythm“. | |
Die junge Trendforscherin lächelt milde. „Ich beziehe mich auf die Allergie | |
– oder noch besser auf die Allegorie.“ Schon wieder steht ein Bierfurz im | |
Raum. Wir nicken. Wie sieht Maroni denn jetzt alles in allem die Zukunft | |
des Konsums? Was geht noch vor Weihnachten 2022 weg, was bleibt liegen, wie | |
ist die Stimmung „in total“? | |
## Private Anschaffungsneigung bis in den Kulturbeutel | |
Für eine Prognose wechselt die gelernte Trendforscherin ihre Brille von | |
Retro zu Glasbausteinen aus dem väterlichen Betrieb ganz im Norden von | |
Norwegen „an der Grenze zur Nachhaltigkeit, you know dear, it’s all about | |
Konserven.“ Absolut, da sagen wir nicht nein zu diesem Statement, ist | |
notiert. Was gibt es sonst noch zu befinden? | |
„Der Konsumklimaindex ist von sehr down im September zu ziemlich down im | |
Dezember gestiegen“, referiert Maroni fehlerfrei, während sie ihr drittes | |
Hendl vom Fass zerlegt. Fakt sei, „dass die Anschaffungsneigung stets die | |
höchste Erklärkraft für private Konsumausgaben hat. Egal ob auf Tic Tac, | |
TikTok oder im Kulturbeutel. Darauf können Sie noch einen lassen.“ | |
Jetzt sind wir aber final baff ob der glasklaren Expertise von Agneta „The | |
Algorythm“ Maroni. Einen Bierfurz lassen wir hier trotzdem nicht stehen im | |
ehemaligen Wienerwald an der Schleißheimerstraße 470 in München-Nord. Wir | |
bezahlen lieber in bar an der Bar. Und haben noch eine letzte Frage auf den | |
Lippen. „Welches Ding ist Ihnen denn eigentlich derzeit so am liebsten?“ | |
Maroni überlegt und überlegt, ihre LED-Quartz-Retrouhr läuft. | |
„Auch ich“, sagt sie plötzlich ernst, ja grown up, „wende mich Goodies z… | |
die mich an glücklichere, unbeschwerte Zeiten erinnern.“ Nostalgie sei hier | |
das Stichwort. „War nicht vorgestern alles besser als gestern?“ Wir reichen | |
Agneta „The Algorythm“ Maroni zum Abschied ein Tempo. | |
10 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
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