# taz.de -- Betroffene über einen Justizskandal: „Ich fühle mich noch einge… | |
> Yuladi L. saß sieben Monate unschuldig in Untersuchungshaft ohne ihr | |
> Baby. Ein Gespräch über das Trauma der Haft und einen deutschen | |
> Justizskandal. | |
Bild: Die Kolumbianerin Yuladi L | |
wochentaz: Sie saßen sieben Monate unschuldig in Untersuchungshaft, weil | |
Sie des Mordes angeklagt waren. Ihr Baby [1][durfte nicht bei Ihnen sein,] | |
obwohl es im Gefängnis freie Mutter-Kind-Zellen gab. Wie fühlt es sich an, | |
Ihren Sohn wieder zu haben? | |
Yuladi L.: Es ist unvorstellbar. Ich bin glücklich, wieder mit meinem Sohn | |
zusammen zu sein, aber es ist auch schwierig. Wir müssen ganz neu anfangen | |
und uns wieder aneinander gewöhnen. Die Zeit im Gefängnis, als ich ihn | |
weder lachen noch weinen hören konnte, ihm nicht beim Krabbeln und | |
Laufenlernen zusehen durfte, war sehr traumatisch. | |
Wie oft haben Sie sich gesehen, während Sie im Gefängnis saßen? | |
Wir durften uns drei Monate lang überhaupt nicht sehen, danach brachte das | |
Jugendamt ihn einmal pro Woche. Erst die zweite Instanz des | |
Familiengerichts zwang das Amt, ihn dreimal pro Woche zu mir zu bringen. | |
Das war schon kurz vor meinem Freispruch. | |
Wie wirkt sich das Erlebte auf Ihren Sohn aus? | |
Während ich eingesperrt war, berichtete das Jugendamt regelmäßig, dass er | |
nicht schlafen konnte und mit dem Kopf immer gegen die Matratze schlug. Das | |
macht er nicht mehr, seit er wieder bei mir ist. Auch körperlich geht es | |
ihm besser, er ist viel aktiver und besser gelaunt, einfach fröhlicher. Man | |
merkt das sehr. | |
Ihr Sohn ist in Hamburg geboren, Sie kommen aus Kolumbien. Was hat Sie | |
hierher verschlagen? | |
Mein Bruder wohnt schon lange hier. In Kolumbien habe ich sehr viel im | |
Hotelgewerbe gearbeitet, aber wenig verdient. Ich habe zwei Töchter, eine | |
ist 7, die andere 14 Jahre alt. Im Oktober vor zwei Jahren kam ich her, um | |
für meine Kinder eine Zukunft aufzubauen. Hier in Deutschland fiel mir auf, | |
wie unbeschwert die Kinder herumlaufen. Außerdem ist das Bildungslevel sehr | |
hoch. Da habe ich beschlossen, meine Töchter herzuholen, damit sie hier | |
studieren können. Aber dafür muss ich noch mehr Geld sparen. | |
Im Dezember 2022 wurden Sie dann plötzlich verhaftet. Die Polizei hatte | |
Ihre DNA-Spuren am Tatort eines Mordes gefunden. Sie hatten dort fünf Tage | |
vor der Tat Hemden gebügelt, um sich als Haushälterin zu bewerben. | |
Die Polizei klopfte frühmorgens an die Tür. Ich wunderte mich, denn | |
eigentlich kannte niemand die Adresse unserer kirchlichen Schutzwohnung. | |
Also machte ich nicht auf und ging mit meinem Sohn ins oberste Stockwerk. | |
Aber irgendwie kamen sie rein. | |
Was sagten die Polizist*innen? | |
Wir konnten uns schlecht verstehen. Alles, was ich denken konnte, war: Sie | |
wollen uns abschieben. Ich zeigte ihnen meinen Pass und einen Zettel, auf | |
dem steht, dass ich bald legale Papiere bekommen würde. Sie sagten: „Sie | |
werden verdächtigt, einen Mann ermordet zu haben.“ Da bin ich | |
zusammengebrochen. Sie setzten mich auf einen Stuhl. Als ich wieder bei mir | |
war, war mir sehr, sehr kalt. Die Polizist*innen erklärten mir, dass | |
ich einen Anwalt anrufen sollte und alles, was ich sagte, mich später | |
belasten könnte. | |
Wie reagierte Ihr Sohn? | |
Er war da ein halbes Jahr alt und hatte noch nie so viele Leute auf einmal | |
gesehen. Er guckte ganz neugierig. Dann sagten die Polizisten, dass sie | |
mich mitnehmen würden und er zu einer Frau vom Jugendamt kommen würde, bis | |
sich die Situation geklärt hätte. Ich dachte, das wäre eine Sache von ein | |
oder zwei Stunden. Ich zog mich und meinen Sohn an. Aber als sie ihn dann | |
mitnahmen – das war der schlimmste Moment meines Lebens. | |
Wie ging es weiter? | |
Auf dem Polizeirevier rief ich meine Anwältin an. Ich dachte, sobald sie da | |
wäre, würde sich alles klären und ich könnte gehen. Stattdessen wurde ich | |
ins Gefängnis gebracht. Die Haftrichterin wollte mich nicht gehen lassen, | |
weil ich keine Aufenthaltserlaubnis hatte. | |
Wie haben Sie die Untersuchungshaft erlebt? | |
Es ist ein schrecklicher Ort. Sehr hässlich, sehr kalt, das Essen schmeckt | |
gar nicht, alles dort ist schlimm. Ich habe die ganze Zeit geweint, konnte | |
kaum schlafen, kaum essen. Ich habe darüber nachgedacht, mir das Leben zu | |
nehmen. Eine Anklage wegen Diebstahls oder so wäre ja noch aushaltbar. Aber | |
wegen Mordes! Ich konnte es nicht fassen, so eine Ungerechtigkeit. | |
Wie erklären Sie sich, dass gerade Sie in diese Situation geraten sind – | |
[2][purer Zufall oder gibt es strukturelle Gründe]? | |
Ich denke, dass Rassismus ein Grund dafür ist. Erstens wegen meiner | |
Hautfarbe, zweitens weil ich keine Papiere hatte. Die Haftrichterin, die | |
entschied, mich in Untersuchungshaft zu nehmen, entschied auch während des | |
Verfahrens über alle weiteren Haftfragen. Sie entschied, den Haftbefehl | |
sieben Monate lang aufrechtzuerhalten. | |
Was würden Sie ihr gern sagen? | |
Dass das sehr großen psychischen Schaden anrichtet. Ich leide sehr stark | |
darunter. So etwas darf einfach nicht passieren. Es ist unglaublich schwer, | |
ein solches Trauma zu überwinden. | |
Bekommen Sie Hilfe? | |
Ja, die Kirche hat mir eine Psychologin vermittelt. Von staatlicher Seite | |
wurde mir nichts angeboten. | |
Wie äußert sich Ihr Trauma im Alltag? | |
Ich fühle mich immer noch eingesperrt und ich kann nicht schlafen. Manchmal | |
weiß ich nicht, ob es besser wäre, noch eingesperrt zu sein. Mitunter fange | |
ich plötzlich an zu weinen, die Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis | |
brechen über mich herein. Ich denke viel an die Menschen, die noch drinnen | |
sind. Die noch warten müssen oder die verurteilt wurden. Das ist so hart. | |
Was hat Ihnen im Gefängnis geholfen, das alles zu ertragen? | |
Meine Gebete und der Kontakt zu meinen Anwältinnen. Ich habe jeden Tag mit | |
ihnen telefoniert, das hat mir unglaublich geholfen. Und wenn sie mich | |
besucht haben, hat mich das immer sehr glücklich gemacht, weil ich wusste, | |
jetzt passiert etwas Gutes. | |
Konnten Sie auch mit Ihren Töchtern telefonieren, die noch in Kolumbien | |
sind? | |
Ja, aber erst nach sechs Monaten. Ich wollte sie natürlich sofort sprechen, | |
ich hatte große Sehnsucht. Aber die Polizei will mithören, wenn du | |
telefonierst, und sie haben angeblich sechs Monate lang keinen | |
spanischsprachigen Polizisten gefunden. Oder keinen, der Zeit hatte. | |
Nach zwölf Verhandlungsterminen sprach der Richter Sie frei. Er | |
entschuldigte sich und sagte, Ihre Unschuld sei eindeutig erwiesen. Wie hat | |
sich das angefühlt? | |
Ich habe geweint. Es war eine unglaubliche Erleichterung, zu hören, dass | |
alles vorbei ist. Aber es war auch stressig. Ich war in den Zeitungen und | |
im Fernsehen, ich habe das Gefühl, dass mich auf der Straße alle angucken. | |
Und es stellen sich so viele Fragen: Wie wird das Zusammenleben mit meinem | |
Sohn klappen, wie werden mich die anderen Mütter in der Kita angucken, | |
werden sie mich akzeptieren? | |
Was machen Sie mit den 16.000 Euro, die Sie als Entschädigung für die Haft | |
bekommen? | |
Ich möchte meine Töchter herholen. Aber erst mal muss ich vielleicht noch | |
eine der Anwältinnen von dem Geld bezahlen, ich hatte ja zwei. Zwar muss | |
der Staat die Verfahrenskosten tragen, aber vielleicht übernimmt er nur die | |
Kosten für eine Anwältin, das Gericht prüft das noch. Eventuell muss ich | |
auch [3][das DNA-Gutachten bezahlen, das die Anwältinnen in Auftrag gegeben | |
haben]. Und dann wäre das Geld auch schon fast weg. | |
Sie hatten für den Tatzeitpunkt ein Alibi, das vor Gericht von einer Zeugin | |
bestätigt wurde. Das Gutachten brachte den endgültigen Beweis für Ihre | |
Unschuld. Es zeigte auf, dass Ihre DNA-Spuren, die sich am Tatort befanden, | |
mehrere Tage vor der Tat dort hingelangt sein können. | |
Genau. Die Ermittler hätten sich diese Frage natürlich auch stellen müssen | |
– haben sie aber nicht. Es ist ihr Fehler, also müssen sie die Kosten dafür | |
tragen. Wir haben das beantragt, aber es dauert, bis darüber entschieden | |
wird. Bis ich die 16.000 Euro bekomme, wird auch mindestens ein halbes Jahr | |
vergehen. Ich fange jetzt wieder an zu arbeiten. Eine Arbeitserlaubnis und | |
eine Aufenthaltserlaubnis habe ich mittlerweile. | |
Ist es überhaupt möglich, Sie für das, was Sie erlebt haben, zu | |
entschädigen? | |
Nein. Ich wüsste nicht, wie. Ich habe großen, emotionalen Schaden erlitten. | |
Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle über mich reden. So etwas tut weh. | |
Ich fühle mich verurteilt, obwohl ich unschuldig bin und freigesprochen | |
wurde. | |
Können Sie sich vorstellen, in dem Staat zu leben, der Ihnen das angetan | |
hat? | |
Ich habe oft gedacht, ich könnte es nicht. Aber dann denke ich wieder an | |
meine Kinder und die gute Bildung, die sie hier bekommen können. Mal sehen, | |
ob sie sich hier wohlfühlen, danach entscheiden wir es. Mir ist wichtig, | |
dass der Staat alle Kosten übernimmt, die mir entstanden sind. Es wäre das | |
Mindeste. Die Behörden haben versagt, ich habe nichts getan. | |
10 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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