# taz.de -- Rechte Tendenzen in der BRD der 1980er: Zimmermann und die Völkisc… | |
> Was war das für eine Zeit, als die Aiwanger-Brüder zur Schule gingen? Es | |
> war eine dunkelbraune Zeit, in der eine rechtsextreme Jugendkultur | |
> entstand. | |
Bild: Eine Besuchergruppe 1984 in der KZ-Gedenkstätte Dachau | |
Bei der Betrachtung des [1][antisemitischen Aiwanger-Flugblatts] ist neben | |
der persönlichen Schuld der Urheberschaft vor allem der | |
gesellschaftspolitische Kontext zu beachten, in dem das Flugblatt | |
entstanden ist. Auch ist die Frage zu klären, warum der jugendliche Hubert | |
glaubte, seine Mitschüler*innen mit Hitler-Parodien erheitern zu | |
können? | |
1988, als das Flugblatt erscheint, tickt ein Teil der um 1970 in | |
Westdeutschland Geborenen rechts, national und völkisch. In diesen Jahren | |
sind rechtsradikale Hooligans, neonazistische Kameradschaften (Michael | |
Kühnen und andere), rechte Skinheads, rechte Rockbands, Holocaust-Leugnung | |
und Geschichtsrevisionismus immens erfolgreich unter der westdeutschen | |
Jugend. Es ist eine Subkultur, die vor allem die Gleichaltrigen aus | |
türkischen, jugoslawischen, griechischen und marokkanischen Familien als | |
Bedrohung sieht. | |
## Der „Anti-Türken-Test“ | |
Unter diesen Jugendlichen kursieren Witze, die den türkischen Einwanderern | |
ein ähnliches Schicksal wie den Juden in Aussicht stellt. Und | |
antisemitische und antitürkische Videospiele. In einer Berliner Mailbox | |
taucht 1986 ein „Anti-Türken-Test, Made in Buchenwald – Copyright by Hitler | |
und Hess“ auf. Darin heißt es: „Mit diesem Programm können unsere deutsch… | |
Freunde feststellen, ob sie Türken mögen oder lieber ohne Kopf sehen | |
würden.“ Antworten auf die „Testfragen“ belohnt der Bildschirm mit „Br… | |
Hitlerjunge!“ oder „Falsch – ab nach Auschwitz!“ | |
Die Ähnlichkeit der Inhalte von Anti-Türken-Test und Aiwanger-Flugblatt ist | |
kein Zufall. Es drängt sich die Frage auf, in welche Netzwerke die | |
Verfasser der Flugblatts in den Jahren 1987/1988 eingebunden waren. | |
Das Flugblatt und der Anti-Türken-Test werden im Kontext der | |
„geistig-moralischen Wende“, die Helmut Kohl 1982 ankündigte, | |
verständlicher. Sie sind jugendlich-extreme Zuspitzungen gesellschaftlicher | |
Debatten der politischen Mitte in jenen Jahren. Im Mai 1983 ruft | |
Innenminister Zimmermann (CSU) die „Türkenfrage“ aus: „Ein friedliches | |
Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns | |
begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die großen | |
Volksgruppen (Türken) betrifft.“ | |
## Bonzo goes to Bitburg | |
In der Folge wird auch in den bürgerlichen Medien ein enthemmter, | |
antitürkischer Diskus geführt. Gleichzeitig gewinnen | |
geschichtsrevisionistische und den Holocaust relativierende Diskurse an | |
Einfluss in breiten Kreisen der Bevölkerung. 1985 besucht Helmut Kohl mit | |
Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg mit seinen SS-Gräbern. 1985 | |
und 1986 wird im Historikerstreit diskutiert, ob der Holocaust und damit | |
auch die Schuld der Deutschen wirklich so einzigartig ist. | |
Das antisemitische, antitürkische und völkische Grundrauschen der achtziger | |
Jahre und die Stimmungsmache unter Jugendlichen auf den Schulhöfen bleiben | |
nicht folgenlos. 1988, als das Aiwanger-Flugblatt im Gymnasium kursiert, | |
wird in Schwandorf in der Oberpfalz von einem 19-Jährigen Berufsschüler ein | |
Brandanschlag auf ein überwiegend von Türken bewohntes Haus verübt, vier | |
Menschen sterben. Es ist der vorläufige Höhepunkt von tödlichen | |
rassistischen Übergriffen vor allem auf Menschen aus der Türkei – wie | |
[2][Ramazan Avcı] (1985), [3][Mehmet Kaymakçı] (1985) und [4][Ufuk Şahin] | |
(1989). | |
## Keine Randerscheinung | |
Rechtes Denken ist keine Randerscheinung in der Generation Golf. Im Januar | |
1989 wählen in Westberlin 20 Prozent der männlichen Erstwähler die | |
Republikaner. Im Juni 1989 erringen die Republikaner in Bayern mit 14,9 | |
Prozent einen großen Wahlerfolg bei der Europawahl. Auch hier wählen | |
überdurchschnittlich viele Junge die Partei. | |
Am 20. April 1989 feiern in ganz Deutschland tausende von Jugendlichen und | |
jungen Erwachsenen den 100. Geburtstag von Adolf Hitler. Neonazis kündigen | |
an diesem Tag an, Einwanderer aus der Türkei anzugreifen. | |
In Berlin und anderen Einwandererstädten bleiben an diesem Tag mehr als die | |
Hälfte der Kinder aus Angst vor Übergriffen dem Unterricht fern. Es ist die | |
Geburtsstunde der Gründung von migrantischen Gruppen, die ihre | |
Wohnquartiere vor dem Terror von Neonazis verteidigen. Erfolgreich! | |
Der Aiwanger, der das Flugblatt verfasst hat und der Aiwanger, der | |
Hitlerreden imitierte, waren nicht jung und naiv, sondern, zumindest | |
temporär, Teil eines Trends, der nach dem Mauerfall in eine völkische | |
Revolte mündete. Im Verlauf dieser Revolte starben zwischen 1990 und 1992 | |
nicht weniger als 43 Menschen – in Ost- und in Westdeutschland. | |
3 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Eberhard Seidel | |
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