# taz.de -- Autor über die Kultur des Fahrradfahrens: „Eine erstaunliche Mas… | |
> Sie können so viel mehr sein als ein Mittel zur Fortbewegung. Ein | |
> Gespräch mit dem Autor Jody Rosen über Fahrräder als politisches | |
> Instrument. | |
Bild: In New York City machen Menschen Stunts auf Fahrrädern und holen sich ö… | |
wochentaz: Herr Rosen, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, „der heutige | |
Fahrradboom“ sei „ohne Frage der größte in der Geschichte und hat unzähl… | |
Millionen Radfahrer fast überall auf der Erde mitgerissen“. Haben wir etwa | |
wirklich schon den Peak der Fahrradbegeisterung erreicht? | |
Jody Rosen: Nein, das sicher nicht. Vergessen wir nicht: Wir leben immer | |
noch in einer Welt für Autofahrer. Aber [1][die Fahrradinfrastruktur | |
bessert] sich in einigen westlichen Metropolen langsam, denken Sie nur an | |
London und Paris. In Paris plant die Bürgermeisterin gerade Fahrverbote für | |
Autos im historischen Zentrum ab 2024. Zudem ist die Entwicklung von | |
Bikesharing bei Weitem noch nicht abgeschlossen. | |
Wie ist es in Ihrer Heimatstadt New York? | |
In New York City sollte schon 2019 die Mautgebühr für Autofahrer eingeführt | |
werden, es hat Jahrzehnte gedauert, das durchzusetzen. Jetzt endlich, | |
endlich wird die City-Maut für Manhattan kommen. Wir werden sehen, wie sehr | |
das den Stadtteil – auch was die Feinstaubbelastung angeht – entlastet und | |
wie positiv sich dies auf den Verkehr auswirkt. | |
Müssen die Autos ganz raus aus den Städten? | |
In meinen Träumen ist New York City eine autofreie Stadt. Aber alle | |
Experten plädieren für ein reichhaltiges Angebot an Transportmöglichkeiten: | |
U-Bahn, Bus, Fahrräder, Motorroller und sogar einige Autos für Fahrten, bei | |
denen man ein Auto braucht. Realistischerweise erkennen wohl auch die | |
meisten Fahrradaktivisten, dass eine grünere, sauberere Art von Autos vor | |
allem für den Transport auch weiter eine Rolle spielen muss. | |
In Deutschland zeichnet sich in den meisten Umfragen überhaupt keine klare | |
Mehrheit für autofreie Innenstädte ab. Glauben wir nicht nur aus unserer | |
linksliberalen Blase heraus, dass diese angestrebt werden? | |
Sicher ist viel Wunschdenken bei [2][den Radaktivisten dabei]. Selbst in | |
den linksliberalsten Städten ist noch viel zu tun, um die Menschen davon zu | |
überzeugen, ihren autoorientierten Lebensstil aufzugeben. Meiner Meinung | |
nach ist es der falsche Ansatz, eine „klare Mehrheit“ für autofreie | |
Innenstädte zu suchen. | |
Es gibt viele wichtige Maßnahmen, die von Kommunen ergriffen wurden und die | |
zumindest anfangs keine Unterstützung in der Bevölkerung fanden – das | |
Rauchverbot in Bars und Restaurants hier in New York ist ein Beispiel aus | |
der jüngeren Geschichte. Was wir brauchen, sind visionäre | |
Führungspersönlichkeiten, die auch bereit sind, sich politisch angreifbar | |
zu machen, um die Städte besser befahrbar, sicherer und nachhaltiger zu | |
machen. | |
Zuletzt gab es große Entwicklungsschritte beim Fahrrad. Das E-Bike boomt, | |
das Lastenrad hatte seinen Durchbruch. Wie wird sich das Fahrrad Ihres | |
Erachtens in Zukunft entwickeln? | |
Die Entwicklung des E-Bikes hat die Fahrradkultur weltweit verändert – und | |
wird sie weiter verändern. Es ist eine der wichtigsten Entwicklungen in der | |
Geschichte des Fahrrads. In vielen Gegenden der Welt werden gerade | |
E-Bike-Sharing-Programme eingeführt. Pendler, die zur Arbeit fahren wollen, | |
haben bislang bei längeren Strecken vielleicht gezögert, zum Rad zu greifen | |
– weil es anstrengend ist und man verschwitzt bei der Arbeit ankommt. | |
[3][Mit dem E-Bike kann er] solche Strecken aber ganz bequem bewältigen. | |
Ich nehme jetzt selbst auch gelegentlich das E-Bike. Ich wohne in Brooklyn. | |
Es ist irre, wie schnell ich damit über die Brooklyn Bridge nach Manhattan | |
sausen kann! Das E-Bike ist eine erstaunliche Maschine. Ich glaube, es kann | |
eine Menge Fahrradskeptiker bekehren. | |
Was bewirkt der Boom der Lastenfahrräder? | |
Immer mehr Lieferfahrzeuge in den USA sind Lastenfahrräder, viele davon | |
wahrscheinlich E-Bikes mit Tretunterstützung. Auch Amazon nutzt in den USA | |
schon E-Bike-Lieferfahrzeuge. Sicher, Amazon ist ein mindestens | |
problematisches Unternehmen – aber das ist dennoch eine positive | |
Entwicklung. Lastenfahrräder sind nun einmal energieeffizienter, schneller | |
und günstiger und lohnen sich deshalb immer mehr für Unternehmen. | |
In Ihrem Buch preisen Sie das Fahrrad als Symbol für Individualität und | |
Freiheit. Genau das ist aber für die meisten Menschen in der westlichen | |
Welt weiterhin das Auto. | |
Zweifelsohne ist das Auto für viele ein Freiheitssymbol. Ich spreche in | |
meinem Buch vor allem von der ersten Hochphase des Fahrradbooms Ende des | |
19. Jahrhunderts. Damals hat das Fahrrad den Menschen ein neues Ausmaß von | |
persönlicher Freiheit und Mobilität verschafft. In gewisser Weise hat es | |
diesen Status behalten: Das Gefühl, das man als Kind bekommt, wenn man zum | |
ersten Mal auf ein Fahrrad steigt und plötzlich Autonomie und | |
Bewegungsfreiheit erfährt – das vergisst man nicht. Auch wenn man auf einem | |
Fahrrad draußen in der Natur unterwegs ist, ist das ein anderes | |
Freiheitsgefühl als mit dem Auto. | |
Sie schreiben über die misogynen Aspekte in der frühen Geschichte des | |
Fahrrads. Frauen, die Fahrrad fuhren, wurde ein „Fahrradwahn“ attestiert. | |
Das erinnert ein bisschen an den Hysteriediskurs bei Sigmund Freud. | |
Das Fahrrad gab den Frauen eine Freiheit, die man ihnen damals nicht | |
zugestehen wollte. Sie waren plötzlich mobil, konnten umherziehen, sich | |
besser vernetzen und schließlich das Wahlrecht einfordern. Das Fahrrad | |
spielte eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung, sowohl in den USA als | |
auch in Großbritannien und anderswo im Westen. Sie konnten sich | |
organisieren. Sie haben Freud erwähnt, auch das ist interessant: es gab | |
eine Moral Panic, es wurde debattiert, was Frauen mit einem Fahrrad alles | |
anstellen könnten, das Fahrrad wurde sexualisiert. Aus heutiger Sicht ist | |
das lächerlich. | |
Das Fahrrad war erst auch Weißen vorbehalten, der US-Fahrradverband League | |
of American Wheelmen verbot zunächst die Mitgliedschaft von Nichtweißen. Es | |
gab lange sehr wenig schwarze Radsportler*innen. Ist das Fahrrad auch heute | |
noch ein weißes Fahrzeug? | |
Ich wäre gern noch mehr um die Welt gereist, um das genauer sagen zu | |
können. Was ich bei der Literatur über die Geschichte des Fahrrads | |
festgestellt habe, ist, dass es sich um eine extrem euro- und US-zentrierte | |
Literatur handelt. | |
Dabei spielt das Fahrrad in Afrika, Asien und Lateinamerika eine wichtige | |
Rolle. Aber in manchen US-Bundesstaaten wird es geduldet, wenn die Polizei | |
Schwarze Radfahrer schikaniert. Ich denke, wir Fahrradliebhaber sollten | |
diese Probleme viel deutlicher ansprechen. Das Establishment der | |
Fahrradaktivisten ist nämlich weiß und männlich. | |
Sie schreiben über das Fahrrad als Demonstrationsfahrzeug. Als Beispiele | |
nennen Sie die Demokratiebewegung in China 1989 oder Black Lives Matter. | |
Die weltweite Bewegung Critical Mass nutzt explizit immer Fahrräder für | |
ihre Demos. Warum wird das Fahrrad nicht noch viel mehr eingesetzt, um die | |
Macht auf der Straße zu erobern? | |
Es ist sicher das Ziel von Critical Mass, dass das noch öfter geschieht. | |
Das Konzept haben jedenfalls [4][schon einige andere Bewegungen] für sich | |
entdeckt. Es gibt Bike Buses in den USA, Barcelona und anderswo, bei denen | |
große Gruppen zusammen durch die Stadt fahren, um von A nach B zu kommen – | |
vor allem Gruppen von Schulkindern. Auch das ist eine Form von | |
Fahrradaktivismus. | |
Es gibt außerdem das Phänomen der sogenannten Rideouts: Über den Hashtag | |
#BikeLife findet man Aktionen vor allem von Schwarzen Jugendlichen, die auf | |
den Straßen New Yorks oder Londons Stunts auf Fahrrädern machen und so den | |
öffentlichen Raum für sich beanspruchen. | |
Sie schreiben auch darüber, wie man die Energie, die beim Fahrradfahren | |
entsteht, nutzen könnte. Wir reden in Zeiten der Klimakrise viel über | |
regenerative Energien. Sollen wir bald mit Pedalkraft unsere Smartphones | |
laden? | |
Ja, warum nicht? Im Buch schreibe ich über eine Gruppe US-amerikanischer | |
Aktivisten, die sich in den Siebzigern den Einsatz pedalbetriebener Geräte | |
in Landwirtschaft, Industrie und unseren Häusern vorgestellt haben. Sie | |
argumentierten, dass die Pedalkraft das Potenzial habe, die Umwelt zu | |
heilen und „Millionen“ von der Plackerei der traditionellen Arbeit zu | |
befreien. | |
Das war natürlich eine wilde Fantasie. Vielleicht ist das auch ein | |
bisschen weit hergeholt. Aber warum sollte man in der gigantischen | |
Klimakrise, in der wir uns befinden, nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, | |
um alternative Energiequellen zu nutzen? | |
Sie haben auch über sogenanntes Slow Cycling geschrieben. Was hat es damit | |
auf sich? | |
Das ist ein Trend, der auf den dänischen Fahrradaktivisten und Stadtplaner | |
Mikael Colville-Andersen zurückgeht. Er hatte einen Blog namens Copenhagen | |
Eyes, er hat die Phrase „Cycle Chic“ geprägt. Fahrradfahren war für ihn e… | |
modisches Statement. Auf Colville-Andersen geht auch der Begriff „Slow | |
Bicycle Movement“ zurück. | |
Damit will man der hohen Geschwindigkeit, mit der wir uns alle durch das | |
digitale Zeitalter bewegen, etwas entgegensetzen. Es geht um achtsames, | |
bewusstes, gemächliches Fahrradfahren. Das ist eine Art historische Ironie, | |
denn als das Fahrrad im 19. Jahrhundert aufkam, war es die | |
Geschwindigkeitsmaschine schlechthin. | |
30 Aug 2023 | |
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Jens Uthoff | |
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