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# taz.de -- Verkehrswende am Arbeitsplatz: Ein paar Fahrradbügel reichen nicht
> Wenn der Umstieg vom Auto aufs Rad gelingen soll, muss sich die Mode
> ändern – und das Büro. Denn wo soll man sich umziehen, wenn alles
> verglast ist?
Bild: Und wo ziehe ich mich jetzt um?
Letztens stand ich mal wieder schwitzend hinter meinem Schreibtisch im
Großraumbüro, trug untenrum nur meine Unterhose und dachte: Hoffentlich
kommt jetzt niemand rein.
Es geht hier nicht um Anzügliches, auch nicht um [1][MeToo-Vorwürfe] am
Arbeitsplatz, sondern um das würdelose Leben als Radfahrer und Büromensch.
Und wie immer in dieser Kolumne letztlich um handfeste materielle Fragen.
Dieses Mal: um feine Stoffe, aber auch um Stahl und Glas.
Es ist nämlich nicht meine Schuld, dass ich hier so halbnackt herumstehe
und gleich morgens meine Restwürde verliere. Denn Achtung, steile These:
Wenn das mit der [2][Verkehrswende] gelingen soll, muss sich auch die Mode
verändern – und die Büros.
Wie immer mehr Menschen fahre ich [3][mit dem Fahrrad] zur Arbeit. Und da
ich bei einer topseriösen Firma des deutschen Mittelstands arbeite, also
bei der taz, will ich bei der Arbeit auch topseriös aussehen und nicht
komplett verschwitzt in den Tag starten. Deswegen ziehe ich mich häufig bei
der Arbeit um, zu meinem Wohl und dem Wohl meiner KollegInnen.
## Seriöses Timbre funktioniert nicht in kurzen Hosen
Das Umziehen hat aber nicht nur hygienische und olfaktorische Gründe,
sondern auch modische. Denn die Modeindustrie hat meinen täglichen
Recherchen zufolge die Verkehrswende bisher komplett verschlafen.
Männerhosen, vor allem Anzughosen aus feinem Stoff, aber auch ganz normale
Chinos, sind einfach nicht für den Fahrradsattel gewebt. Weswegen alle
früher oder später im Schritt oder am Hintern aufreißen.
Wenn diese Kolumne also jemand aus der [4][Modeindustrie] liest: Bitte
entwickelt modische Hosen für das Büro, die der Extrembelastung des Alltags
(20 Kilometer täglich auf einem Fahrradsattel) standhalten. Es ist eine
Marktlücke, die immer größer wird, je mehr Menschen mit dem Fahrrad zur
Arbeit fahren. Früher sind Anzughosenträger vielleicht ausschließlich im
Dienstwagen oder im äußersten Notfall mit der Bahn ins Büro gefahren. Aber
wer sich umschaut auf deutschen Straßen, weiß, dass die sozialökologische
Führungskraft von heute Rad fährt.
Bis sich die Modeindustrie auf die veränderte Mobilität eingestellt hat,
wird allerdings noch mindestens eine Fashion Week vergehen. Deshalb trage
ich auf dem Arbeitsweg mittlerweile Hosen, um die es nicht so schade ist,
die aber für meinen topseriösen Job ungeeignet sind. In eine kurze
Fußballhose gekleidet fällt es mir beispielsweise schwer, mit seriösem
Timbre in der Stimme bei der Pressestelle eines Bundesministeriums
anzurufen, ohne mich wie ein Hochstapler zu fühlen.
Meine zweite Forderung richtet sich deshalb an die Arbeitgeber dieses
Landes und an ihre Architekten. Denn wo soll man sich umziehen, wenn man in
einem verglasten Großraumbüro arbeitet? Schauen Sie sich um in den modernen
Büros der Gegenwart! Selbst die Einzelkabinen und Besprechungszimmer sind
verglast, nirgendwo soll der Büroarbeiter Privatsphäre haben und heimlich
durch seine Urlaubsfotos wischen.
Selbst die Toiletten, die einzigen nicht verglasten Räume, sind so schmal
geschnitten, dass man sich dort nicht umdrehen, geschweige denn umziehen
kann. Ablagen gibt es auch nicht, wenn man seine Klamotten nicht ins
Waschbecken oder aufs Pissoir legen möchte.
Liebe Arbeitgeber, es reicht nicht, ein paar Fahrradbügel vorm Büro
aufzustellen und sich modern zu fühlen! Wer die Verkehrswende in seinem
eigenen Betrieb fördern will, wer sportlich ausgelastete und letztlich
gesunde Arbeiter will, um aus ihnen noch ein bisschen mehr Mehrwert zu
pressen, der sollte ihnen Umkleidekabinen und Duschen stellen.
1 Aug 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Kersten Augustin
## TAGS
Kolumne Materie
Verkehrswende
Arbeitsplätze
Arbeitnehmer
Verkehrspolitik
Mode
Zukunft
Sicherheit
Schwerpunkt Radfahren in Berlin
Renaturierung
Osnabrück
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