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# taz.de -- Mode-Accessoire Chalkbag: Wenn das Handy in der Kreide steht
> Eigentlich fürs Trockenhalten kletternder Finger gedacht, baumelt der
> Kreidebeutel jetzt an Großstädterhüften. Muss das sein?
Bild: Kletterer mit Kreidebeutel
Es ist cool, immer [1][ein bisschen Outdoorurlaub] am Körper zu tragen.
Immer einen Hauch von Berg, von Fels, von Salzwasser zu versprühen. Das war
nicht immer so. Jack Wolfskin & Co wurden lange mit peinlichen deutschen
Touris assoziiert; solchen, die sich in die gleichen moskitosicheren Hemden
und Zip-Hosen wie ihr:e Partner:in hüllen, um mit dem Wohnmobil an den
Gardasee zu fahren. „Funktionsjackenträger“ war eine Beleidigung.
Doch dann kam erst der Aufstieg der Outdoormarke The North Face zum
In-Label, und inzwischen ist der Look, der vor ein paar Sommern noch nach
Bietigheim-Bissingen aussah, [2][zum Trend geworden]. Viele, die in
Trekkingschuhen durch Berlin-Neukölln schlendern, sind zwar noch nie auf
einen Berg gestiegen, aber in den atmungsaktiven Schuhen mit Profil läuft
es sich auch gut zur U-Bahn. Männer in Anglerwesten sah man früher nur in
Kombination mit diesen dreibeinigen Klapphockern: an langsam fließenden
Gewässern sitzen, Dosenbier in der einen Hand, einen Kescher in der
anderen. Jetzt bestellen die Westenträger geeiste Americanos. Und in den
Clubs zählt man mehr Fahrradbrillen als auf den Radwegen.
All diese Outdoordinge verbindet ein schlagendes Argument: Sie sind
praktisch. In Trekkingschuhen rutscht man kaum aus. In die vielen Taschen
einer Weste passt sämtlicher Alltagskram. [3][Schnelle Brillen], sie
schirmen das Auge besser vor Fliegen oder Zigarettenqualm ab als
unsportliche Sonnenbrillen. Und sie sehen krass aus.
Aber einen Kreidebeutel als Tasche? Jetzt übertreiben es die
Möchtegern-Draußis! Zur Erklärung: [4][Beim Freiwandklettern] oder Bouldern
hängt man sich einen kleinen Beutel an die Hüfte, gefüllt mit
Magnesiapulver – das aussieht wie Kreide –, um an der Wand die vor Angst
oder Anstrengung nassen Finger in das trockene Puder tunken zu können. So
lassen sich die Steine besser greifen.
## Ein Hauch von Mittelalterfilm
Im Alltag muss man sich hoffentlich nicht oft wo emporhangeln. Trotzdem
wird die Chalkbag – [5][in Kletterhallen] fragt niemand, ob er sich deine
Kreide leihen kann, nein, im Jargon ist das chalk – nun immer häufiger zur
Bauchtasche umfunktioniert, werden Portemonnaie, Handys und Schlüssel darin
umhergetragen. Sie lässt sich mit einem Karabiner, dem Outdoor-Accessoire
Nummer eins, an die Gürtelschlaufe clippen.
Bloß sehen an der Hüfte baumelnde Beutel leider selten lässig aus, sondern
erinnern eher an Mittelalterfilme. In denen sind Händler:innen ein
bisschen schmuddelig, verkaufen Hühner in Käfigen und tragen ihre Taler in
kleinen Ledersäckchen am Gürtel. Der Schnürzug, mit dem der Kreidebeutel
zugezogen wird, lässt mich an den Schlafsack denken, der sich nach dem
letzten Festival partout nicht zurück in die Hülle stopfen lassen wollte.
Ungefähr so praktisch ist eine Chalkbag auch: Anders als die Bauchtasche
(noch so ein Ding, in dem früher nur Tourist:innen ihren Reisepass
möglichst dicht am Körper trugen) oder die Anglerweste, hat sie nicht
mehrere Fächer, stattdessen fliegt alles unkontrolliert darin herum.
Wofür ist sie im Alltag also gut? Für Hundeleckerli vielleicht. Dann
bräuchten Hundebesitzer:innen keine Leine mehr, der Hund würde immer
nah an der Hüfte seiner Besitzer:in bleiben, die Schnauze nach oben in
die Duftwolke des Leckerlisäckchens haltend.
Insgeheim habe ich wohl auch ein bisschen Sorge, dass bald ständig Menschen
mit Kreidebeutel am Hosenbund zu mir rüberkommen und mir erklären wollen,
welchen Kaffee ich bestellen muss oder wo ich mein Fahrrad besser nicht
anschließen sollte. Wie in der Kletterhalle, wo mir genauso ungefragt
gezeigt wird, wie ich diese oder jene Route am besten klettere, obwohl ich
doch eigentlich nur ein bisschen alleine scheitern möchte.
The North Face verkauft jetzt eine Chalkbag bei Zalando, dem größten
Online-Modehändler Europas. Für 29,95 Euro bekommt man ein kleines Säckchen
aus Polyester mit einem langen, buntgemusterten Tragegurt, mit dem man sich
an der Wand im schlimmsten Fall strangulieren könnte. „Walls are meant for
climbing“, Wände sind zum Klettern da, steht auf einem kleinen, an den
Beutel angenähten Schild. Dieser Kreidebeutel wird wohl höchsten den
Berliner Mauerstreifen überwinden.
7 Sep 2023
## LINKS
[1] /Zu-Fuss-im-Gebirge/!5944140
[2] https://www.gq-magazin.de/mode/artikel/gorpcore
[3] /Kolumne-Schnelle-Brille/!t5953888
[4] /Freeclimbing-im-Yosemite-Nationalpark/!5024421
[5] /Alternative-zur-WM/!5901876
## AUTOREN
Sophie Fichtner
## TAGS
Mode
Klettern
Outdoor
Angeln
Sport
Kolumne Starke Gefühle
Kolumne Materie
Upcycling
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