# taz.de -- Bouldern in der Halle: Zwischen Fußgeruch und Seelenheil | |
> Bei Skoliose oder Depressionen: Bouldern gilt mittlerweile als | |
> Allheilmittel. Doch was ist der Reiz daran, an Kunststoffparcours zu | |
> klettern? | |
Bild: Bouldern bietet weniger Potenzial für Rumgemacker | |
Letztens sagte eine Kollegin: „In Boulderhallen stinkt es immer so nach | |
Fuß“, und ich wurde stutzig. [1][Bouldern ist allgegenwärtig], auch in | |
meinem Umfeld. Einer kokst jetzt nicht mehr und geht bouldern, andere | |
sagen, es ginge ihnen psychisch besser. Ein weiterer Bekannter erzählte mir | |
kürzlich von einem Date in einer Boulderhalle, denn das sei besser, als | |
immer nur rumzusitzen und sich drei Bier reinzuschütten. Bouldern, eine | |
etwas ansprechendere Bezeichnung fürs Klettern ohne Seil in Absprunghöhe an | |
Felsblöcken oder künstlich angelegten Parcours, scheint Allheilmittel zu | |
sein. Ich frage mich trotzdem: Warum zieht es Menschen in ganz Deutschland | |
in stickige Hallen mit Fußgeruch? | |
Ich persönlich habe Bouldern lange aus einer Abneigung gegen alles | |
hippieeske heraus abgelehnt. War mir irgendwie zu sehr verknüpft mit | |
Großstadt-Barfußläufern und Wursthaaren. Und mit dieser ignoranten | |
Einschätzung lag ich natürlich völlig daneben. Genauso wie Bodybuilder auf | |
Testosteronspritze nicht die [2][Hauptzielgruppe von Fitnessstudios] sind, | |
bouldern nicht nur Hippies mit Klangschale im Leinensack. Rund 300.000 | |
Bouldernde, die es nach Auskunft des Deutschen Alpenvereins (DAV) | |
mittlerweile gibt, können nicht lügen und ohnehin: In Boulderhallen | |
herrscht Schuh- oder mindestens Sockenpflicht. | |
Bouldern liegt in Deutschland schon seit Jahren im Trend und ist seit 2020 | |
sogar olympische Teildisziplin. Elias Hitthaler vom DAV spricht von 560 | |
Anlagen deutschlandweit, in denen gebouldert werden kann. Zum Vergleich: Im | |
Jahr 1990 gab es gerade mal 20 Anlagen, zehn Jahre später immerhin 150. | |
Seitdem eröffnen jährlich neue Boulderhallen. | |
In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, wurden letztens sogar | |
Boulderparcours in die einst größte Großraumdisko Europas gepflanzt. Das | |
„Megadrome“ wurde zum „Boulderdrome“ und das ergibt durchaus Sinn. Denn | |
genauso wie fast alle im Club tanzen gehen können, die Lust darauf haben, | |
hat auch das Bouldern sehr niedrige Einstiegshürden. | |
## Kaum Equipment | |
Das sehen auch die Betreibenden mehrerer Berliner Boulderhallen ebenso wie | |
Hitthaler vom DAV als Grund für den Hype. Es braucht letztlich nicht viel | |
Equipment: ein paar passende Schuhe [3][und vielleicht noch einen Beutel | |
mit Chalk, also Magnesiumkarbonat,] das man in den Händen verreibt und das | |
für besseren Grip sorgen soll. Bei leichten Parcours ist das | |
Verletzungsrisiko verhältnismäßig gering, solange man lernt, richtig zu | |
fallen. Außerdem, sagt Hitthaler, trainiere der Sport den ganzen Körper. | |
An der Universität Potsdam wurde in den vergangenen Jahren zum Einsatz von | |
Bouldern als Therapieangebot für Jugendliche Skoliosepatient*innen | |
geforscht. Das sogenannte Potsdamer Modell findet mittlerweile schon | |
Anwendung und wird weiter perfektioniert. Es gehe darum, Bewegungen an der | |
Kletterwand zu systematisieren, um sie als Therapieübungen anzuwenden, sagt | |
Silas Dech, der das Modell weiterentwickelt hat. Der Stand der Forschung | |
zeigt, dass die spezielle Art des Boulderns mindestens gleich gut wirkt wie | |
Physiotherapie. Heißt: Skoliose wird nicht unbedingt geheilt, aber eine | |
potenzielle Verschlechterung wird durchs Bouldern aufgehalten, was durchaus | |
ein Erfolg ist. | |
Doch nicht nur für den Körper, sondern auch für die Psyche soll Bouldern | |
gut sein. Das sagen nicht nur meine Bekannten, sondern auch die seit zehn | |
Jahren andauernde Forschung von Wissenschaftler*innen der | |
Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Die fragten sich, inwiefern | |
Bouldern gegen Symptome von Depression helfen kann. Die bisherige | |
Erkenntnis: Bouldern wirkt. Es hilft dabei, bei sich selbst zu bleiben, und | |
kann einen aus dem Zustand des Grübelns herausholen. Die schnellen Erfolge | |
steigern das Selbstwertgefühl. Auch gegen soziale Ängste kann Bouldern | |
helfen. Der Sport sei dadurch ein niederschwelliger erster Weg, um gegen | |
eine depressive Episode anzuarbeiten, zum Beispiel während der Wartezeit | |
auf einen Therapieplatz. | |
## Gebouldert wird seit den 70ern | |
Dass mittlerweile schon zu Bouldern geforscht wird, hat auch damit zu tun, | |
dass der Sport in Deutschland schon ziemlich lange ein Ding ist. Zumindest | |
in einer Nische. Denn gebouldert wird seit den 70er-Jahren, damals hieß es | |
nur noch nicht so. Und zwar nicht in irgendeiner schicken Halle in Berlin, | |
sondern in der Fränkischen Schweiz in Oberfranken. | |
Doch heutzutage felsblockklettern eben fast keine Visionäre mehr durch die | |
oberfränkische Natur und machen sich schmutzig. Boulderhallen und ihre | |
Parcours erinnern mittlerweile mal an sleeke Designobjekte, mal an Elemente | |
eines Hundertwasserhauses. Die farbigen, an die Wand geschraubten Elemente | |
könnten auch Teile von experimentellen Möbelvariationen sein. | |
Statt After-Work-Drink in der Bar, geht’s jetzt halt zum | |
After-Work-Klettern in der Halle, in der es dann aber auch eine Bar mit | |
überteuertem Bier gibt. „Für manche ist Bouldern vielleicht schlicht ein | |
guter Ersatz für das Fitnesstudio“, sagt Hitthaler vom DAV, „für manche | |
dann schon Lifestyle.“ | |
## Ziemlich deutsch | |
Und als Lifestyle ist Bouldern, auch wenn es nicht von hier kommt, ziemlich | |
deutsch. Es ist ein gediegener, unglamouröser Sport, der sehr viel | |
Präzision erfordert. Bouldern hat kein subkulturelles Potenzial wie | |
Skateboarding. Boulderkleidung hält im Gegensatz zu Goretex-Jacken von | |
Bergsteigern oder Caps von Singlespeed-Radfahren auch nicht als | |
Fashion-Statement her. Und ein Großteil der Indoor-Felsblock-Kletterer | |
eignet sich keinen Raum an, will mit seinen Bewegungen nicht die | |
Verhältnisse infrage stellen, handelt nicht subversiv, aber ist auch nicht | |
so versnobt wie Golfer*innen. | |
Menschen bezahlen Eintritt, um sich in einer Halle, in der es nach Fuß | |
riecht, an Kunststoffelementen entlangzuhangeln. That’s it. Und das reicht | |
auch völlig aus. Denn Bouldern bietet dadurch weniger Potenzial für | |
Ausgrenzung, Rumgemacker, Hierarchien. Es wird zwar geglotzt, aber eher im | |
emphatischen Sinne. Man will nicht gaffen, sondern lernen. Es ist | |
kommunikativ, nicht sonderlich kompetitiv und abgesehen vom Training | |
verschiedenster Muskelgruppen wahrscheinlich auch deswegen so gut für | |
Körper und Psyche, weil man sich nur auf das Klettern selbst konzentrieren | |
und dabei nicht auch noch irgendwelche Szenecodes erfüllen muss. | |
Ich schaue also Videos von Boulder-Worldcups mit Millionen Klicks bei | |
YouTube. Profis klettern, nein, tanzen grazil Wände hinauf, schwingen sich | |
von Griff zu Griff. Es sieht gut aus, denke ich und dass es eigentlich | |
keine Argumente gibt, die gegen Bouldern sprechen. Ich beschließe also | |
auch, eine Boulderhalle zu besuchen, es geht hier schließlich um knallharte | |
Recherche. In meiner Vorstellung schwinge ich grazil durch die Luft, so wie | |
die Profis bei den Worldcups. | |
In der Realität sieht es anders aus. Die Halle ist voll, es riecht nur ein | |
bisschen nach Fuß, aber auch nach anderem Schweiß, nach Desinfektionsmittel | |
und manchmal ziemlich neutral. Um mich herum Bouldern mehr Männer als | |
Frauen, meistens um die 30, meistens mit eher trainierten Körpern, | |
glücklich vor sich hin, feuern sich leise an, fausten sich ab, wenn was | |
geklappt hat, aber schreien nicht so blöd rum, wie beim Fußball. Alles ist | |
irgendwie: ganz lieb. Und das ist es wahrscheinlich, das entspannt den | |
Geist, den Körper, nimmt den Druck. Ich scheitere an Schwierigkeitsstufe | |
zwei, bekomme eine aufmunternde Faust entgegengestreckt und gehe entspannt | |
nach Hause. Bouldern ist süß. | |
12 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Johann Voigt | |
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