# taz.de -- Fahrradaktivistin in Moldau: Das Wunder von Chișinău | |
> In Moldaus Hauptstadt Chișinău fuhr niemand mit dem Rad, nun gibt es eine | |
> zweispurige Fahrradstraße. Wem ist das zu verdanken? Ein Besuch. | |
Bild: Sie hat Visionen und sie verfolgt sie: Ana Popa auf der neuen Fahrradstra… | |
Chișinău taz | Wollen Sie ein bisschen gute Laune? Dann kommen Sie mit nach | |
Chișinău, in die Hauptstadt [1][Moldaus, des finanziell ärmsten Lands | |
Europas]. Als die UNO vor einigen Jahren [2][in einer globalen Studie | |
erforscht hat], ob die Weltbevölkerung den Klimawandel als Bedrohung | |
anerkennt, landete Moldau beim Problembewusstsein von 50 untersuchten | |
Ländern auf Platz 50. | |
Und so erscheint es wie ein kleines Wunder, was es seit Kurzem in Chișinău | |
gibt: eine erste zweispurige, schlaglochfreie, von Autos und Fußgängern | |
abgetrennte, über drei Kilometer einmal quer durchs Zentrum führende | |
Fahrradstraße. Die Geschichte, wie es dazu kam, erzählt davon, dass wenige | |
viel erreichen können – wenn Taktik und Timing stimmen. | |
Ana Popas Laune ist prächtig, als sie an diesem Freitag in der Abendsonne | |
an der Kreuzung Strada Pușkin/Strada 31 August 1989 steht und sieht, wie | |
viele Menschen vorbeiradeln. Dieser Anblick ist neu und er ist nicht | |
zuletzt ihr Verdienst als Fahrradaktivistin. Denn Popa sitzt nicht bloß rum | |
und sinniert über die [3][Polykrisen unserer Zeit]. | |
Obwohl es dafür auch in Moldau viele Gründe gäbe. Neben dem winzigen | |
Umweltbewusstsein im Land ist da auch noch die große Angst vor einer | |
russischen Invasion, der Frontverlauf in der Ukraine ist nur etwas mehr als | |
200 Kilometer von Moldaus Grenze entfernt. Oder der Gaspreis. Er hatte sich | |
nach dem russischen Totalangriff verfünffacht, noch immer ist er dreimal so | |
hoch wie Anfang 2022. | |
## Popa fuhr als einziges Kind zur Schule | |
Ana Popa grüßt links und rechts Menschen. Einige sind auf Rädern unterwegs, | |
wie Viktor, der anhält und auf Russisch erzählt, wie viel Zeit er auf | |
seinem Arbeitsweg durch die neue Fahrradstraße einspare. | |
Andere gehen zu Fuß, wie Octavian, der kein Rad hat, aber darüber | |
nachdenkt, eines zu kaufen, trotz der Angst vor den Gefahren des | |
Straßenverkehrs. Er zeigt auf ein weiß angemaltes, mit Blumen geschmücktes | |
Fahrrad, ein sogenanntes Ghost Bike, mit dem eines Jugendlichen gedacht | |
wird, der von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde. | |
„Fahrradfahren in Chișinău ist wie ein konstanter Existenzkampf“, sagt Ana | |
Popa. Noch. Denn wenn es nach ihr geht, ist die Infrastruktur für die | |
Mikromobilität in Zukunft so gut, dass die Menschen von alleine die | |
Vorteile des Fahrrads erkennen. Und zwar alle, nicht nur die jungen, | |
hippen, körperlich fitten. Sie selbst, 31 Jahre alt, hat kein Problem, sich | |
zwischen den Autos durch die chronisch verstopften Straßen Chișinăus zu | |
schlängeln. „Ich fühle mich wohl auf der Straße, denn ich tue das schon so | |
lange.“ | |
Popa hat das Fahrrad früh entdeckt. Sie lebte mit ihren Eltern in Jasch, | |
einer rumänischen Stadt nahe der Grenze zu Moldau, und war das einzige | |
Kind, das mit dem Rad zur Schule fuhr. Ihr Fahrrad gab ihr damals | |
zweierlei: Autonomie, die es ihr erlaubte, auch abends, wenn keine Busse | |
mehr fuhren, Freundinnen und Konzerte zu besuchen. Und die Sicherheit, als | |
junge Frau auf dem Weg nach Hause schneller zu sein als irgendwelche | |
Männer, die möglicherweise in der Dunkelheit lauerten. | |
## Wichtigstes Verkehrsmittel in Chișinău sind Busse | |
[4][Wie viele junge Moldawierinnen] ging Ana Popa nach der Schule ins | |
Ausland, in Polen und Italien studierte sie Kulturmanagement, | |
Menschenrechte und Politik. „Ich habe Moldau gehasst, ich wollte nie wieder | |
hierher zurückkommen. Doch dann erkannte ich, dass es viel spannender ist, | |
Dinge zu implementieren, wo es sie noch nicht gibt.“ Seit sechs Jahren | |
lebt Popa in Chișinău. | |
Die Stadt ist grün, sauber und postsowjetisch. Auf dem Gehsteig sitzen | |
Frauen mit Kopftüchern vor Kisten mit Erdbeeren, Kirschen, Dill und Gurken. | |
Die Trolleybusse, in denen stets zwei Menschen arbeiten, ein Fahrer und ein | |
Fahrscheinverkäufer, sind umgeben von Autos, die viel zu groß wirken. Ana | |
Popa erklärt die erstaunliche Menge an SUVs so: „Die Menschen haben so | |
lange in Armut gelebt und ein Auto ist eine Möglichkeit, das zu | |
kompensieren. Damit zeigst du den anderen, dass du Geld hast.“ | |
Doch das wichtigste Verkehrsmittel bleiben die Busse. Als dann 2020 mit der | |
Coronapandemie die Angst vor einer Ansteckung im dichten Gedränge der | |
öffentlichen Verkehrsmittel aufkam, tat sich ein Möglichkeitsfenster für | |
das Fahrrad auf. Popa und ein paar Mitstreiterinnen starteten eine Petition | |
für [5][Pop-up-Fahrradwege]. | |
Die war zwar nicht erfolgreich, doch es war der Anfang einer wachsenden | |
Bewegung urbaner Fahrradfahrerinnen, die sich in der Alianța Biciclete | |
Chișinău, der Fahrrad-Allianz von Chișinău, zusammengeschlossen haben. Ihre | |
Themen: Fahrradständer, Trails für Touren außerhalb der Stadt, die | |
monatliche Fahrraddemo Critical Mass – und Aufklärung. Nachdem die Stadt | |
den Radfahrern erlaubt hatte, die Busspuren mitzubenutzen, hat Popa jedes | |
Busdepot dreimal persönlich besucht, um die Busfahrerinnen daran zu | |
erinnern. | |
Der bisher größte Erfolg ist jedoch der abgepollerte Fahrradweg. Als die | |
Stadt die ursprünglichen Sanierungspläne für die Strada 31 August 1989 | |
veröffentlichte, waren die Aktivistinnen entsetzt, erzählt Ana Popa. Die | |
Straße war damals einspurig, links und rechts gesäumt von Parkplätzen. Die | |
ursprüngliche Idee der Stadtverwaltung war es, die Parkplätze abzuschaffen | |
und stattdessen eine zweite Fahrspur für Autos zu bauen – obwohl das | |
Projekt den Namen „Green Corridor“ trug. | |
Bei der öffentlichen Anhörung trat also eine Handvoll gut vorbereiteter | |
Mitglieder der Alianța Biciclete ans Mikro und erklärte der | |
Stadtverwaltung, warum ein solcher Plan auf keinen Fall grün genannt werden | |
könne – und die Verantwortlichen hörten zu. Das Projekt wurde komplett neu | |
aufgesetzt und die Aktivistinnen bekamen, was sie sich gewünscht hatten. | |
Ende 2023 wurde die Straße fertiggebaut, in diesem Frühjahr und Sommer wird | |
sie also zum ersten Mal richtig genutzt. | |
Doch warum ging die Stadt auf die Fahrradfahrer ein, wo es nur wenige gibt | |
und dafür eine Menge Autofahrer, die um jeden Quadratmeter Fahrbahn | |
kämpfen? „Wir sind nicht isoliert, wir leben nicht in einer Bubble“, sagt | |
Ana Popa. „Unsere Regierung sieht die europäischen Trends und kann sie | |
nicht einfach ignorieren.“ | |
Amsterdam, Kopenhagen, neuerdings Paris, immer mehr Städte setzten | |
konsequent aufs Fahrrad, das ist ansteckend und hat eine Ausstrahlung. Bis | |
nach Moldau. | |
Auch Julian Gröger, 42, ist in Chișinău, weil sich hier etwas bewegt. Der | |
Deutsche lebte mit seiner damaligen moldauischen Frau in Berlin, als er | |
eine ähnliche Erkenntnis wie Ana Popa hatte. „Ich habe Umweltmanagement | |
studiert und bin damit in Deutschland einer von zehntausend“, sagt er. | |
„Hier ist der Bedarf viel größer.“ Seit sieben Jahren ist Gröger nun in | |
Chișinău, wo er mit seiner NGO Ecovisio Dutzende Umweltprojekte initiiert | |
und begleitet hat. | |
Am Anfang ging es dabei vor allem um Entsorgung und Recycling. Seit sich | |
nach Russlands Überfall auf die Ukraine die Energiepreise vervielfacht | |
haben, versucht er Energieeffizienz und Gebäudedämmung voranzutreiben. „Wir | |
gehen mit dem Flow und setzten auf die Themen, die gerade aktuell sind.“ | |
Seit Corona setzt Gröger sich für Fahrräder ein. „Vor 2020 waren wir in | |
Chișinău vielleicht zehn Menschen, die regelmäßig Fahrrad fuhren.“ | |
Ana Popa und Julian Gröger haben eine Reise mit hochrangigen Vertretern der | |
Stadtverwaltung organisiert, um ihnen die Fahrradinfrastruktur in Berlin zu | |
zeigen. Auf den ersten Blick eine originelle Wahl, gibt es doch [6][viele | |
Städte, die in dieser Hinsicht mehr zu bieten haben]. Doch Ana Popa meint: | |
„Was will mir die Verwaltung in Amsterdam zeigen? Schaut mal, wie perfekt | |
hier alles ist? Wir brauchen als Vorbild Städte, die work in progress sind, | |
so wie Berlin.“ | |
## Moldau soll Westeuropas Fehler nicht wiederholen | |
Moldau ist wie die Ukraine [7][seit 2022 Beitrittskandidat der EU]. Ende | |
Juni wurden offiziell die Beitrittsgespräche aufgenommen. Die | |
Fahrradaktivisten von Chișinău gehen davon aus, dass in Zukunft viel mehr | |
Geld aus dem Westen in das kleine Land strömt und damit, so die Hoffnung, | |
ökologische Infrastruktur ermöglicht wird. Doch das hängt auch von der | |
Entwicklung in Brüssel ab. | |
Julian Grögers und Ana Popas Hoffnung ist, dass das Land nicht alle Fehler | |
westeuropäischer Städte wiederholen muss. Die Stadt hat nicht die | |
Infrastruktur, um wachsende Zahlen von Privatautos aufzunehmen. | |
„Doch anstatt Straßen und Parkplätze auszubauen wie in Deutschland in den | |
60ern, 70ern und 80ern, könnte sich auch die Erkenntnis durchsetzen, dass | |
die meisten europäischen Städte aktuell versuchen, Autos loszuwerden“, sagt | |
Gröger. Dann hätte Chișinău die Chance, ein paar Entwicklungsschritte zu | |
überspringen und gleich zur Fahrradstadt zu werden. | |
9 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Republik-Moldau/!t5023224 | |
[2] https://www.mission1point5learn.org/peoples-climate-vote | |
[3] /Das-politische-Klima-vor-der-Europawahl/!6010562 | |
[4] /Moldau-25-Jahre-nach-der-Unabhaengigkeit/!5355121 | |
[5] /Pop-up-Fahrradwege-auf-dem-Vormarsch/!5759413 | |
[6] /Anne-Hidalgo-und-die-Fahrradstadt-Paris/!vn5826592/ | |
[7] /EU-Beitritt-von-Ukraine-und-Moldau/!5980475 | |
## AUTOREN | |
Clara Vuillemin | |
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