| # taz.de -- Gewalt gegen Geflüchtete in Tunesien: Menschen ins Meer gejagt | |
| > Mit Hetzjagden begann im Februar die Gewalt gegen Geflüchtete. Nun löst | |
| > die Polizei Geflüchtetenlager vor UN-Gebäuden in Tunis auf. | |
| Bild: Migrant:innen verlassen ein Camp vor dem Gebäude der UNHCR in Tunis am 1… | |
| Tunis taz | Mit Tränengas und Schlagstöcken haben Polizisten in der | |
| tunesischen Hauptstadt am Dienstag den Protest von mehreren Hundert | |
| Migranten aus Subsahara-Afrika aufgelöst. Vor dem Gebäude des | |
| UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR im Büroviertel Lac 1 hatten die in den | |
| letzten Wochen vertriebenen Menschen in Zelten und auf Decken im Freien | |
| übernachtet. | |
| Es war die jüngste Eskalation in der Krise, [1][die mit einer Rede von | |
| Präsident Kais Saied am 21. Februar begonnen hatte]. Die illegal im Land | |
| lebenden Migranten aus afrikanischen Ländern – über 50.000 Menschen aus | |
| West-und Zentralafrika – seien Teil einer Verschwörung gegen Tunesien, so | |
| Said. | |
| Saieds Rede führte zu einer Verhaftungswelle. Die meisten Migranten hatten | |
| zwar Arbeit und Unterkunft, aber keinen offiziellen Aufenthaltsstatus. Seit | |
| der Ausreisewelle junger Tunesier nach Europa suchen viele Restaurant- und | |
| Cafébesitzer händeringend Service- oder Reinigungskräfte. Die Migranten | |
| akzeptierten anders als viele Tunesier Bezahlung unter Mindestlohnniveau. | |
| Nachdem die Polizei sogar an Universitäten eingeschriebene Studenten allein | |
| aufgrund ihrer Hautfarbe von der Straße verschleppte und in Abschiebehaft | |
| brachte, suchten immer mehr Menschen Schutz bei den Vereinten Nationen. Vor | |
| den Mauern der Bürogelände der Organisation für Migration (IOM) und des | |
| UNHCR sammelten sich Migranten, die von Mobs aus ihren Wohnvierteln | |
| vertrieben oder von ihren Vermietern rausgeworfen wurden. | |
| „In der anhaltenden Wirtschaftskrise waren Migranten ein willkommener | |
| Sündenbock“, sagt Asma Moussa, die Besitzerin eines Restaurants in der | |
| Menza 5, einem Stadtteil von Tunis. „In den letzten Tagen schien sich die | |
| Lage zu normalisieren, einige meiner Angestellten trauten sich wieder | |
| zurück zur Arbeit.“ | |
| Die Lage schien sich zu beruhigen, [2][nachdem die Regierungen der | |
| Elfenbeinküste, Guineas und anderer Länder Staatsbürger aus Tunesien | |
| ausgeflogen hatten]. Wegen der überfüllten Gefängnisse stellte die Polizei | |
| die Verhaftungen ein, immer mehr Menschen aus Subsahara-Afrika trauten sich | |
| wieder auf die Straße. Private Initiativen versorgen diejenigen, die sich | |
| aus Angst vor Übergriffen zu Hause verschanzen. | |
| Mit dem Tränengaseinsatz vom Dienstag scheint eine Kompromisslösung nun | |
| wieder in weiter Ferne. UNHCR und IOM verhandeln mit der Regierung bisher | |
| erfolglos über Übergangsfristen und Legalisierung für die Migranten, die | |
| aus Kriegsgebieten kommen oder aus anderen Gründen nicht in ihre Heimat | |
| zurückkehren können. Weil Tunesien keine Asylgesetzgebung hat, gibt es für | |
| Schutzsuchende nur Ausweise des UNHCR, die Tunesien nicht anerkennt. | |
| Die sture Forderung der Behörden, von allen Migranten die nach drei Monaten | |
| fällige Strafgebühr für die Überziehung des Dreimonatsvisums zu verlangen, | |
| treibt viele in die Schmugglerboote nach Italien. Denn wer nach mehreren | |
| Jahren Arbeit in Tunesien zurück in die Heimat fliegen will, muss sonst | |
| neben dem Flugticket auch bis zu 4.000 Euro Strafe zahlen. Ein Platz auf | |
| einem Boot nach Italien ist dagegen derzeit bereits für umgerechnet 1.000 | |
| Euro zu haben. | |
| ## Kanneh versteckt sich bei Freunden | |
| Die Migranten vor dem UN-Gebäude sehen in dem Polizeieinsatz vom Dienstag | |
| die Aufforderung, Tunesien schleunigst zu verlassen. „Bis gestern hatte ich | |
| noch gehofft, meinen Job in einer Autowerkstatt wieder beginnen zu können“, | |
| sagt Youssuf Kanneh aus Liberia. Sein Schlafsack und Zelt wurden am | |
| Dienstag zusammen mit dem Hab und Gut der anderen zum UNHCR Geflüchteten | |
| von städtischen Angestellten unter Polizeischutz abtransportiert. Nun | |
| versteckt sich Kanneh bei Freunden. | |
| Kioskbesitzer Haikel Hamrouni inspiziert die Schäden der | |
| Auseinandersetzung. Sein Laden befindet sich direkt gegenüber dem | |
| UNHCR-Gebäude in Lac 1. Bei der Flucht vor der Polizei warfen einige | |
| Migranten Steine auf vorbeifahrende und parkende Autos. Das von Hamrouni | |
| aufgenommene Handyvideo vom Polizeieinsatz und von kaputten Autoscheiben | |
| wurde auf sozialen Medien im ganzen Land tausendfach geteilt. Am Abend | |
| waren die Sachbeschädigungen der Migranten Hauptthema in den | |
| Nachrichtensendungen. | |
| „Ich weiß nicht, warum in den letzten Monaten immer mehr Migranten kamen“, | |
| sagt Hamrouni. „[3][Mitten in der Wirtschaftskrise] hätte die Politik | |
| schnell reagieren müssen, um die Lage zu entschärfen. Eigentlich hatte | |
| niemand hier etwas gegen die Migranten. Aber mit den zerbrochenen | |
| Autoscheiben ist jetzt viel mehr als nur Glas kaputtgegangen.“ | |
| Der Liberianer Youssef Kanneh will sich wie viele seiner Landsleute nun auf | |
| den Weg in die Hafenstadt Sfax machen. Mit dem besser werdenden Wetter | |
| hofft er auf einen Platz in einem Boot nach Sizilien. | |
| Diese Überfahrt bleibt lebensgefährlich. Am Mittwoch meldete die tunesische | |
| Küstenwache, sie habe zehn ertrunkene Flüchtlinge vor Sfax geborgen und 72 | |
| gerettet. 20 bis 30 werden nach Angaben der lokalen Behörden noch vermisst. | |
| Ende März waren 29 ertrunkene Migranten aus afrikanischen Ländern aus dem | |
| Meer geborgen worden, Ende vergangener Woche erneut 27. | |
| 12 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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